Baby-led weaning (BLW) - Beikost breifrei anbieten

Neben der motorischen Entwicklung sind die Essgewohnheiten unserer Kleinen in Krabbelgruppen beliebtestes Austausch- und vor allem Vergleichsthema. In meiner Gruppe wurde sich gegenseitig übertroffen mit Berichten über die verfütterten Essmengen und die Anzahl der schon ersetzten Mahlzeiten. Ich habe immer sehr staunend zugehört - da wurden Mengen genannt, die mich schwindeln ließen. Das schmalste Baby verdrückte mittags ein komplettes 190-g-Glas und ein halbes Obstglas zum Nachtisch. Mein Sohn hingegen hat in den ersten drei Beikost-Monaten widerwillig etwa 40 g Brei pro Mahlzeit gegessen und sich danach auf gigantische 50 g (also ein Viertel einer vermeintlichen Standardmahlzeit) gesteigert. Im Grunde hat er Brei nie gemocht - interessant wurden für ihn erst die festeren Stücken. 

Ob man will oder nicht - so ein Verhalten abseits der vermeintlichen Beikostnorm kann einen wirklich verunsichern. In allen Babyforen sind Beiträge wie "Die Beikosteinführung klappt gar nicht", "Mein Baby will nur Milch" und "Hilfe, mein Kind isst viel zu wenig Brei" häufig vertreten. In den letzten Jahren sind immer mehr Eltern dazu übergegangen, das Thema Beikost sehr entspannt und undogmatisch anzugehen. Frei nach dem Motto "Früher gab es auch keinen Pürierstab und keine Pastinaken im Dezember". Baby-led weaning, das wir Euch in diesem Artikel vorstellen wollen, ist ein sehr unkomplizierter Weg der Beikosteinführung.

Kind isst halbes Brötchen

 

Was ist Baby-led weaning? 


Baby-led weaning (BLW) kann man mit "babygesteuertem Abstillen" übersetzen. Bei dieser Methode der Beikosteinführung wird auf den üblichen Babybrei verzichtet und stattdessen verschiedene Lebensmittel angeboten, die in handgerechte Stücke geschnitten und z. T. weich gedünstet werden (Fingerfood). Im Vordergrund steht dabei der Spaß und die Neugier. Ziel ist nicht, das Kind möglichst schnell an feste Kost zu gewöhnen, sondern es zwanglos an die verschiedenen Lebensmittel heran zu führen und die Freude am Essen zu wecken.

Das Baby entscheidet dabei allein, was es isst und wieviel davon. Hauptnahrungsquelle bleibt - so lange es das Baby möchte (da ja "babygesteuert") - Milch. Beim BLW wird die natürliche Entdeckungsfreude und die kindliche Neugier unterstützt und dadurch in der Regel ein gesundes Verhältnis zur Ernährung unterstützt. Eine Untersuchung der University of Nottingham ergab beispielsweise, dass Kinder durch BLW tatsächlich eine gesündere Ernährungsweise entwickeln, weniger zu Süßem greifen und seltener Übergewicht entwickeln.

Im Juni 2014 gab es übrigens neue Empfehlungen der Deutschen Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin für die Ernährung von Säuglingen. Das Baby-led weaning wurde dort kritisch betrachtet - auf welch seltsamen Zusammenhängen und dilettantischen Interpretationen diese Kritik basiert, kann man bei uns hier im Blog nachlesen. 

Die Angst vor dem Verschlucken 


Die Sorge, dass sich das Kind an festerer Nahrung verschlucken kann, hält viele Eltern von Versuchen mit Fingerfood ab. Unsere Vorfahren hatten in den letzten 100.000 Jahren keine Pürierstäbe, weswegen Babys im Grunde darauf ausgelegt sind, auch mit stückigerer Kost zurecht zu kommen. Sie verfügen diesbezüglich über Selbstschutzmechanismen: ein Kind ist nicht in der Lage, willentlich Essen nach hinten in den Rachen zu befördern, bevor es nicht über die Fähigkeit verfügt zu kauen. Kauen lernen Kinder erst, wenn sie in der Lage sind, Gegenstände in die Hand zu nehmen - also bewusst zu Greifen. Ganz kleine Dinge kann ein Baby erst greifen, wenn es den Pinzettengriff beherrscht - bis dahin ist es vor dem Verschlucken geschützt. Wenn also dünnflüssiger Brei vom Löffel nach hinten in den Rachen gesaugt wird, ist es viel wahrscheinlicher, dass das Kind sich daran verschluckt (weil es noch nicht beikostreif genug ist), als wenn es selbst ein Stück gedünstetes Gemüse abbeißt.

Ergänzung (danke Ori): Gerade beim BLW kann es vorkommen, dass Babys anfangs häufiger würgen. Der Würgereflex wird bei Babys weiter vorne im Mund ausgelöst, als bei Erwachsenen. Dies dient auch dazu zu lernen, wie viel Essen in den Mund passt, ohne dass man sich verschluckt. Das ist normal und sollte nicht als Scheitern des BLW betrachtet werden.

Wichtig ist beim BLW, dass das Kind aufrecht sitzt und weder liegt noch halbaufrecht in einer Wippe sitzt. Das Kind wird Nahrung, die es nicht zerkleinern kann, ausspucken, das ist jedoch ausschließlich im Sitzen möglich. Es ist dabei nicht erforderlich, dass das Kind alleine sitzen kann - ein abgestütztes Sitzen auf dem Schoß ist ausreichend. In den Hochstuhl sollte man das Kind nicht setzen, wenn es noch nicht sitzen kann. Es versteht sich von selbst, dass ein Baby niemals beim Essen allein gelassen werden sollte! 

Wie fängt man mit Baby-led weaning an? 


Den richtigen Zeitpunkt für den Start der Beikost gibt das Baby vor. Zwar interessieren sich einige Kinder durchaus schon ab etwa 4 Monaten für den Prozess des Essens - in der Regel ist dies jedoch erst mit etwa 6 Monaten der Fall. Für das Baby ist es am schönsten und interessantesten, wenn es mit der restlichen Familie gemeinsam isst und ideal ist es, wenn die anderen auch etwas ähnliches Essen. Beim Baby-led weaning isst das Kind ausschließlich das, was es schafft, sich selbst in den Mund zu stecken - die Eltern bleiben dabei (fast) unbeteiligt.
 
Im Grunde ist der Start ganz unkompliziert - man sollte sich einfach vor Augen führen, wie die Kinder in den letzten Jahrtausensenden ernährt wurden. Kinder aßen das, was die Natur gerade hergab - in der Regel das Gleiche, wie ihre Eltern. Lange püriert oder schonend schrittweise neue Lebensmittel eingeführt wurde ganz sicher nicht. Damals ging es um das nackte Überleben - Kinder sind evolutionär darauf ausgelegt, mit Baby-led weaning ernährt zu werden. Etwaige Nährstoffmangel kann immer durch Muttermilch (die parallel gegeben wird) ausgeglichen werden.
 
Gemüse auf dem Markt

Daher kann man ohne weiteres mit einer Vielfalt an Lebensmitteln beginnen - ein paar weich gekochte Nudeln, etwas Brot, weiches Obst (Banane, Birne, Pfirsich ohne Haut, Apfel gedünstet) und ein paar verschiedene frische gedünstete Gemüse - vorzugsweise in Bio-Qualität - all das kann angeboten werden. Idealerweise bekommt das Baby je Mahlzeit eine Auswahl an verschiedenen Nahrungsmitteln, damit es frei wählen kann. Am Anfang sind ein bis zwei Stücken vollkommen ausreichend - alles andere verleitet nur zum runter werfen. Aus dem gleichen Grund ist ein Teller zunächst vollkommen entbehrlich.

Der unbestreitbare Nachteil des BLW ist, dass das Verhältnis zwischen gegessenen und in den Abfall gewanderten Lebensmitteln anfangs vergleichsweise sehr schlecht ist. Man bekommt jedoch sehr schnell ein Gefühl dafür, welche Mengen das Kind isst. Übrig Gebliebenes bei BLW-Mahlzeiten ist übrigens auch für Mama und Papa eine gesunde Nahrungsergänzung ;-).

Es ist nicht erforderlich, die angebotenen Lebensmittel häufig zu variieren - es können (beispielsweise aus einkaufslogistischen Gründen) getrost mehrere Tage lang die selben Nahrungsmittel angeboten werden - müssen aber nicht. 

Worauf sollte man beim Baby-led weaning achten? 


Wichtig ist, dass Nahrungsmittel nie in runder Form angeboten werden sollten. Insbesondere kleine Weintrauben, Blaubeeren, Johannisbeeren, oder auch Erbsen oder Nüsse können in die Luftröhre gelangen. Wegen ihrer glatten Oberfläche können diese nicht abgehustet werden und dadurch zum Ersticken führen. In der ersten Zeit sollte man also darauf achten, dass die Oberfläche kantig ist, indem man die Lebensmittel halbiert oder etwas platt drückt. Nüsse sind für Kinder grundsätzlich in den ersten 6 Lebensjahren nicht geeignet. 

Das Gemüse wird klein geschnitten und gedünstet. Die Stücke sollten gut zu greifen sein, daher sollen sie nicht zu klein geschnitten werden. Wichtigstes Maß ist die Faust des Babys - dort sollten die Stücken hineinpassen und noch genug  Fläche zum Abbeißen bieten. Daher eignet sich besonders die Form von Schnitzen. Brokkoliröschen können bspw. ganz gelassen werden - das Kind hält den Stiel und beißt vom Röschen ab.

Bitte beachte: Das Kind ist u. U. motorisch noch nicht in der Lage, das Gemüsestück in der Faust zu bewegen, daher wird es keine kompletten Stücken nacheinander aufessen, sondern - wenn es die aus der Faust ragenden Stücke abgenagt hat - diese fallen lassen und sich wieder ein neues großes Stück nehmen. Es kann durchaus vorkommen, dass das Kind dann mit einem Stück in der Hand da sitzt und meckert und man gar nicht weiß, warum überhaupt. Das Öffnen der Faust muss auch erst erlernt werden - daher kann es sein, dass das Kind anfangs dabei noch Unterstützung benötigt. 

Man kann zum Dünsten auf einen Dampfgarer zurückgreifen. Wir hatten beispielsweise diesen Dampfgarer, der für ca. 33 EUR treue Dienste geleistet hat. Wem wichtig ist, ein BPA-freies Gerät zu haben, dem sei der Philips Avent SCF870/20 Dampfgarer und Mixer empfohlen - dieses Gerät ist speziell fürs Breikochen konzipiert. Am günstigsten und garantiert BPA-frei sind Einsätze für herkömmliche Kochtöpfe, wie bspw. dieser von Fackelmann. 
 
Die Garzeit hängt von der Sorte ab - folgende Gemüsesorten sind für den Anfang geeignet:


Eine Zugabe von Zucker, Salz und Gewürzen erfolgt nicht. Ziel ist es, dass das Kind den unverfälschten Geschmack der Lebensmittel kennenlernt. Erst wenn das Kind vom Familientisch mitisst, kann das Essen leicht gesalzen oder gewürzt werden.

Die Beigabe von Fett in Form von Öl oder Butter ist nicht erforderlich aber möglich - beim BLW steigert das Kind die Nahrungsmengen im eigenen Tempo - das in der Regel sehr langsam ist. Daher trinkt es deutlich mehr Milch, als bei der üblichen B(r)eikost und deckt seinen Fettbedarf hauptsächlich über die Milch. Zur besseren Aufnahme der fettlöslichen Vitamine ist es sinnvoll, eine BLW-Mahlzeit mit Stillen zu beenden.

Grundsätzlich ist eine vegetarische Ernährung von Babys unproblematisch. Es ist nicht erforderlich, Fleisch anzubieten - dieses ist ernährungsphysiologisch allenfalls interessant in Bezug auf das Eisen und das Vitamin B12.

Leider kursiert noch immer hartnäckig die Annahme durch das Internet und sogar Arztpraxen, dass Stillkinder unter Eisenmangel leiden und daher spätestens nach 6 Monaten unbedingt fleischhaltige Kost gegeben werden sollte. Im verlinkten Artikel kannst Du nachlesen, wie es zu dieser Aussage kam und warum es keinen Grund gibt, Fleisch füttern zu müssen. Der Eisenbedarf kann auch über pflanzliche Nahrung (sehr eisenhaltig sind bspw. Hirse und Haferflocken) gedeckt werden. Das Vitamin B12 kann man durch andere tierische Produkte (Käse, Butter, Eier) und die Flaschen- oder Muttermilch in ausreichendem Maß zuführen. Zwar ist auch immer vom "wichtigen Eiweiß" die Rede, aber mit Eiweiß sind Kinder in der Regel hierzulande leider überernährt, so dass dies kein wirkliches Argument für Fleisch ist. 

Für die Zerkleinerung von festerem Fleisch benötigt ein Kind üblicherweise die Backenzähne. Auch deswegen kann man im Grunde davon ausgehen, dass es bis zum Wachsen selbiger evolutionär gar nicht vorgesehen war, Fleisch zu verfüttern. Wenn man ungeachtet dessen trotzdem Fleisch geben möchte, sollte es in große Stücke geschnitten werden, auf denen das Kind kauen kann - allein durch das Herumsaugen am Fleisch werden die Nährstoffe aufgenommen. 

Isst mein Kind beim Baby-led weaning"genug"?

 
Am Anfang wird das Kind begeistert mit den angebotenen Lebensmitteln spielen und matschen - das ist vollkommen normal. Wenn das Kind die physikalischen Eigenschaften ausreichend erforscht hat, wird es Interesse für den Geschmack entwickeln. Möglicherweise landet bei den ersten Mahlzeiten gar nichts im Mund - über kurz oder lang wird jedoch das eine oder andere Stück seinen Weg in den Magen finden. Dennoch wird der Esstisch anfangs eher einem Schlachtfeld gleichen - bereite Dich mental darauf vor, sei entspannt und überrascht, wie schnell das Kind "ordentlich" essen lernt.

Man sollte immer im Hinterkopf behalten: Baby-led Weaning dient nicht dazu, das Kind zu sättigen - es soll einen Übergang von reiner Milchnahrung zur Familienkost bilden - ohne Stress und Druck. Es ist erstaunlich, wie langsam Babys diesen Weg gehen, wenn man ihnen die Zeit dazu lässt. Dennoch sind BLW-Babys in der Regel genauso schnell familientischreif, wie die breigefütterten Babys.

Kind ist Spaghetti mit der Hand 
 
Beikost heißt deswegen BeiKost, weil es sie nebenbei zur Milch geben soll, sonst hieße sie Anstattkost. Milch sollte im ersten Lebensjahr die Hauptnahrungsquelle für Kinder sein - das wird leider wegen der großen bunten Palette an Gläschen, Milchbreien und Babykeksen schnell vergessen. Die Einführung fester Nahrung sollte nach keinem starren Schema erfolgen - Babys wissen im Grunde ganz ausgezeichnet, was und wie viel davon sie brauchen. Das beweisen sie ganz faszinierend beim Baby-led weaning. Schon im Artikel über Beikost habe ich über ein Experiment geschrieben, bei dem 15 vollgestillten Waisenkindern im Alter von sechs bis elf Monaten ein Sortiment aus 34 verschiedenen, mundgerecht zubereiteten Speisen angeboten wurde. Die Kinder stellten ihre Mahlzeiten ausschließlich selbst zusammen. Zu jeder Mahlzeit gab es eine Auswahl von 10 Komponenten wie z. B. Äpfel, Ananas, gekochter Weizen, Hafer, Roggen, Mais, Tomaten, Kartoffeln, Hirn, Knochenmark, Nierchen, gehäckselter Fisch, Eier, Wasser, Orangensaft, Milch usw. Die Kinder zeigten auf die gewünschten Lebensmittel und bekamen diese dann gereicht. Die Essgewohnheiten der Kinder waren unterschiedlich und z. T. sehr außergewöhnlich. Aber: Alle Kinder gediehen, waren gesund (alle Blutwerte lagen im Normbereich) und es traten keine Mangelerscheinungen auf. Kein Kind war dick, keines dünn. Ärzte bescheinigten den Kindern einen überdurchschnittlich guten Gesundheitszustand.

In Bezug auf die Essgewohnheiten habe ich zwei grundverschiedene Kinder - meine Tochter hat schon immer so gut wie alles gegessen und das in beeindruckenden Mengen. Mein Sohn hätte sich auch mit 20 Monaten am liebsten noch den ganzen Tag von Muttermilch ernährt. Mir ist vollkommen unbegreiflich, wie er es bis dahin geschafft hatte, zuzunehmen und zu wachsen - die Mengen, die er aß, waren homöopathisch. So bestand an manchen Tagen sein Frühstück aus 20 Brombeeren und 10 Johannisbeeren. Zum Mittag nahm er dann 20 Quadratzentimeter Brot mit Frischkäse, zum Abendbrot ein paar winzige Löffel Kartoffelsalat, etwas Bratwurst und 5 Scheiben Gurke. Ein paar Apfel-Schnitze und ein Eis (aus Direktsaft) gab es zwischendurch und damit war er dann zufrieden. Er hat schon immer extrem wenig gegessen und tut das noch immer. Ganz offensichtlich scheint es einfach Kinder zu geben, die tatsächlich nicht viel benötigen. So lange das Kind noch gestillt wird, muss man sich ganz offenbar keine Gedanken machen. Ich bin zuversichtlich, dass er langfristig so viel essen wird, wie er benötigt. Dieser Erkenntnisprozess war aber nicht einfach für mich.

Zum Weiterhören:

Noch mehr Interessantes zum Thema hört ihr in unserer Podcast-Folge zum Thema Beikost und Baby-led-weaning.


© Danielle 

Quellen 


Reicht meine Milch - nimmt mein Baby genug zu?

In den ersten Tagen, Wochen und Monaten nach der Geburt machen sich viele Mütter Gedanken um die Entwicklung ihres Babys. Tief in uns verwurzelt ist die Angst, dass ein Baby hungern oder nicht genug zunehmen könne. Die regelmäßigen Gewichtskontrollen bei den U-Untersuchungen führen gelegentlich zu Besorgnis - insbesondere stillende Mütter wissen nie, wie viel das Kind wirklich trinkt und fragen sich daher: 

Habe ich genug Milch? 


Wahrscheinlich hat sich jede Stillmutter schon mal gefragt, ob sie vielleicht zu wenig Milch hat. Eigentlich müsste es die Natur ja so eingerichtet haben, dass Nahrung in jedem Falle ausreichend zur Verfügung stehen müsste. Tatsächlich gibt es nur sehr, sehr wenige Fälle, in denen Frauen aus körperlichen Gründen zu wenig oder keine Milch haben. Wie kommt es dennoch dazu, dass man immer wieder hört: "Ich musste zufüttern, weil ich nicht genug Milch hatte".  

Es gibt verschiedene Situationen, in denen man zu der Vermutung kommen könnte, dass das Kind nicht satt wird.
 

 

Psychische Belastung


Die Milchproduktion ist bei einigen Frauen sehr stark abhängig von der psychischen Belastung. Es kann tatsächlich passieren, dass der Wunsch zu stillen so sehr stresst, dass die Milch nicht mehr zum Sattwerden ausreicht. Leo schreibt uns dazu in den Kommentaren:
"Ich hatte nie genug Milch. Trotz dauerstillen, zusätzlich bis zu 20x abpumpen (und ja, MSR wurde ausgelöst), Einnahme sämtlicher legaler und halblegaler Mittel zur Milchmengensteigerung, der Bescheinigung von zwei Ärzten, dass die körperlichen Voraussetzungen fürs Stillen gegeben seien, und persönlicher Beratung durch zwei Stillberaterinnen (ja, teuer …). Nach zehnwöchigem Kampf musste ich den Traum vom Vollstillen aufgeben. Eine sehr erfahrene Stillberaterin sagte mir, dass ich zu gestresst sei und der Versuch, die Milchproduktion zu steigern, weiteren Stress bedeute und daher nicht fruchten könne. Ich glaubte ihr nur halb, konnte aber eh nichts anderes tun als aufhören (alle 10 Minuten abpumpen verträgt sich nicht mit leben, und ich hatte alle Methoden, die ich oder die Stillberaterinnen finden konnten, durch).

Als mein Sohn acht Monate alt war, hatte ich ein Erlebnis, das mir die Augen öffnete: Mein Mann nahm ihn für ein paar Nächte, so dass ich, statt nachts stündlich zu stillen, wie von Geburt an, nur alle vier Stunden stillen musste. Das Ausgeschlafensein hob meine Stimmung beträchtlich – und plötzlich floss die Milch. Zuerst konnte ich es kaum glauben, aber es ging die ganzen vier Tage so. Ich wagte zu hoffen, dass es vielleicht doch mit dem Vollstillen klappen könnte, doch sobald ich wieder die nächtliche Verantwortung hatte, ging die Milch zurück (Mann, hab ich geweint …)."
 
Die Lösung für das Problem klingt sehr viel einfacher, als es die Umsetzung ist: Entspannung. Das Thema Zufüttern ist relativ schwierig, weil es zum schnellen Abstillen oder zu einer Saugverwirrung führen kann - aber wenn die Alternative der Umstieg auf Flaschennahrung wäre, ist es definitiv einen Versuch wert, zunächst auf Teilstillen umzusteigen. Allein das nimmt schon den Druck, genug produzieren "zu müssen". 

Schreien 


Bei meinem ersten Kind hatte ich schon im Vorfeld sowohl von meiner Mutter als auch aus dem übrigen Umfeld ständig gehört: "Also ich hatte ja nie genug Milch, ich musste ja die Flasche geben, das war viel besser". Das war teilweise tatsächlich so, denn die Ansichten über die Erziehung, mit denen unsere Eltern und Großeltern aufwuchsen, erschwerten das Stillen enorm. Irgendwie schienen alle den Gedanken an ein vollgestilltes Kind befremdlich zu finden - was mich schon verunsicherte und die Angst davor schürte, dass auch meine Milch nicht ausreichen könne.

Im Artikel über das mütterliche Bauchgefühl hatte ich schon erzählt, wie meine Tochter nach der Geburt ununterbrochen wegen Hunger schrie, trotzdem sie stundenlang an der Brust lag und saugte. Erst nachdem zugefüttert wurde, war es endlich zufrieden. Es hatte also offenbar trotz Dauernuckeln Hunger. Nach dem Milcheinschuss erledigte sich das Problem des Schreienes vorübergehend. Leider jedoch nur, bis sie etwa 2 Wochen alt war. Ab diesem Zeitpunkt beginnt bei vielen Kindern das unspezifische abendliche Schreien. Ich hatte davon noch nie etwas gehört und stand ratlos mit dem schreienden Kind im Arm da. Es war gestillt worden, es hatte eine frische Windel um, es wurde liebevoll im Arm gehalten - warum also schrie es? Dass Kinder wegen Müdigkeit oder Reizüberflutung schreien könnten - auf die Idee kam ich gar nicht. Schließlich müsste das Kind ja dann einfach nur schlafen.

Nach dem Ausschlussverfahren kam ich zum vermeintlich einzig möglichen Schluss: Das Kind muss also schon wieder Hunger leiden. Warum sonst schreit es denn? Also habe ich begonnen zwischendurch, wie wild Milch abzupumpen (um ja keine Flaschen-Nahrung geben zu müssen) und hektisch zu verfüttern. Ich dachte wirklich, meine Milch reicht nicht. Weil ich so unerfahren war, gab ich ihr dann doch tatsächlich auch Pre-Milch. Glücklicherweise trank sie die auch nicht, so dass ich die Ursachenforschung vertiefen musste und letztendlich dem tatsächlichen Grund für das Schreien auf die Spur kam. Ein in den ersten 3 Monaten schreiendes Baby lässt in der Regel also keinen Rückschluss zu, dass die Milch nicht ausreicht. Vor allem dann nicht, wenn die Schreiperioden vor allem in den späten Nachmittag oder Abend fallen. 

Clusterfeeding 


Gelegentlich glauben Mütter, dass ihre Milch nicht ausreicht, wenn die Babys wenige Tage nach der Geburt besonders in den Abendstunden zum Teil ununterbrochen für 2 bis 3 Stunden an der Brust trinken. Sie scheinen dann nicht wirklich satt und zufrieden zu sein, schlummern ständig ein und wachen dann wegen Hungers wieder auf. Dieses Trinkverhalten ist normal - man nennt es "Clusterfeeding". Das Clusterfeeding tritt vor allem in den ersten Tagen nach der Geburt und während der Wachstums- bzw. Entwicklungssprünge auf.

Anfangs ist der Magen des Baby noch sehr klein. Sein Energieverbrauch ist jedoch enorm hoch und das Saugen sehr anstrengend, daher ist das Stillen von vielen kleinen Pausen begleitet in denen sich das Kind ausruht. Häufiges An- und Abdocken fördert die Ausschüttung des Hormones Prolaktin, das die Milchproduktion anregt. Das Prolaktin wird nach 5 Minuten Stillen bereits ausgeschüttet, die höchsten Werte werden jedoch erst nach 20 bis 30 Minuten erreicht, daher ist es sinnvoll, wenn das Kind mindestens so lange saugt. Die volle Wirkung entfaltet sich erst 8 bis 16 Stunden später - mit den abendlichen Stillmarathons regt das Baby also die Langzeitproduktion der Milch an und sorgt für reichlich Nachschub am nächsten Tag. Daher sollte dieser komplexe Vorgang nicht durch Zufüttern gestört werden - Clusterfeeding ist notwendig, um die Produktionsmenge der Milch zu regulieren - es heißt nicht, dass das Baby zu wenig Milch bekommt.

Das lange Saugen beim Clusterfeeding verursacht beim Kind die Ausschüttung von Cholezystokinin - ein Hormon, das ein Sättigungsgefühl auslöst, auch wenn die Milchmenge im Magen dazu eigentlich nicht ausreicht. Nach 10 bis 20 Minuten fällt der Hormonspiegel wieder - das Kind realisiert, dass es eigentlich noch gar nicht satt war und trinkt wieder weiter. Dieser Vorgang wiederholt sich so lange, bis der Magen ausreichend gefüllt ist und das Baby in eine längere Schlafperiode fallen kann. Wird dem Baby - weil man der Meinung ist, es könne gar keinen Hunger mehr haben - dann beim Clusterfeeding ein Schnuller angeboten, kann es passieren, dass das Saugen dadurch ein Sättigungsgefühl auslöst und das Kind weniger zunimmt.

In Clusterfeeding-Zeiten sollte man sich möglichst zurück lehnen und versuchen, die innige Zeit zu genießen - bald schon wird sich das Baby in 5 bis 10 Minuten satt trinken und die ausgedehnten Stillperioden werden deutlich kürzer. Wenn einem die Zeit zu lang wird, spricht auch nichts dagegen, sich in dieser Zeit einem guten Buch zu widmen. Man sollte einfach darauf vertrauen, dass das, was gerade geschieht wichtig und notwendig ist und keinesfalls bedeutet, dass die Milch nicht ausreicht. Selbst wenn die Milch vorübergehend zu wenig sein sollte - das häufige Saugen des Babys wird die Produktion anregen. 

Entwicklungssprünge/Wachstumsschübe 


Häufig haben Mütter zu Zeiten der Entwicklungs- oder Wachstumsschübe (im ersten halben Jahr um die 5., 8., 12., 19. und 26. Woche), die Befürchtung, dass ihre Milch nicht ausreicht. Die Entwicklung des Kindes erfordert vorübergehend mehr Energie und entsprechend mehr Nahrung. Um dem Körper zu signalisieren, dass mehr Milch produziert werden muss, ist es erforderlich, dass das Kind häufiger saugt um die Prolaktinausschüttung zu erhöhen. 

Grundsätzlich ist Stillen ein Vorgang, bei der sich das Angebot durch die Nachfrage reguliert - je häufiger und mehr ein Kind trinkt, umso mehr Milch wird produziert. Das häufige Trinken ist also eine Maßnahme des Babys, die Milchmenge zu erhöhen  und kein Zeichen für Milchmangel. Auch hier: Füttert man zu, dann wird der Kreislauf "höhere Nachfrage -> höheres Angebot" gestört und die Milch kann tatsächlich (dann aber auch nur vorübergehend) nicht ausreichen. 

Einfluss der Umwelt


Nicht zu unterschätzen ist darüber hinaus der Einfluss der Umwelt. In Teil 2 der Artikelreihe "Die Erziehung unserer Großeltern" haben wir ausführlich darüber geschrieben, warum das Stillen bei unseren Eltern und Großeltern so problembehaftet war. Das führt leider dazu, dass sie uns insbesondere beim Stillen mit Bedenken und Vorschlägen überhäufen und immer wieder die Befürchtung äußern, das Baby könne von der Muttermilch nicht ausreichend satt sein. Jede Unmutsregung seiten des Kindes wird gerne als "Der hat doch Hunger!" interpretiert. Davon sollte man sich - so schwer das insbesondere bei der eigenen Mutter fällt - nicht beirren lassen! Muttermilch ist und bleibt das Beste für das Kind und die Natur hat es so eingerichtet, dass Babys allein durch Muttermilch viele Monate ausreichend ernährt werden können! Aussagen wie "Mein Arzt hat unbedingt mindestens vier Monate Vollstillen ohne Wasser und Möhrensaft empfohlen" bringt wenigstens ein paar der Skeptiker zur Ruhe.  

Zustand der Brust


Auch dass die Brust nicht mehr so prall und gespannt ist, wie in den ersten Wochen oder beim Stillen aus der Brustwarze, an der das Baby nicht liegt, keine Milch mehr tropft, sind keine Zeichen von zu wenig Milch - anfangs produziert die Brust Milch im Überfluss und passt sich allmählich dem Bedarf an. Idealerweise tut sie es, in dem sie zunächst ein Zuviel herstellt und sich dann langsam herunter reguliert - es ist vollkommen normal, dass sich ihr Zustand dabei ändert. 

Saugverhalten


Ebenso ist es unbedenklich, wenn die Kinder allmählich kürzer an der Brust saugen - mit der Zeit wird der Vorgang immer effektiver, so dass sie schneller mehr Milch zu sich nehmen. Ein Kind, das nach 5 Minuten fertig ist, saugt in der Regel viel kräftiger, als in den ersten Tagen und Wochen - das heißt aber nicht, dass die Milch nach der Zeit "alle" ist. Dies ist im Grunde auch nicht möglich - der größte Teil der Milch wird erst beim Stillen produziert - so lange das Kind saugt, so lange wird produziert. 

Abpumpmenge 


Häufig verzweifeln Mütter beim Gebrauch von Milchpumpen - gelegentlich liest man in Foren "Meine Milch ist zurück gegangen - ich konnte gerade mal 20 ml abpumpen und dann kam nichts mehr!" Ursache dafür ist meist jedoch kein Milchmangel, sondern dass die Pumpe es nicht geschafft hat, den Milchspendereflex auszulösen - ohne fließt die Milch nur tröpfchenweise. Dazu kommt: Das Baby ist effektiver, als jede Pumpe - aus vermeintlich leer gepumpten Brüsten saugen Babys noch jede Menge Milch. 
 

Wird mein Kind von der Muttermilch satt? 


Relativ sicher davon ausgehen, dass ein Neugeborenes ausreichend Nahrung bekommt, kann man, wenn Folgendes zutrifft:
  • ab dem 3. Lebenstag bis zur 4. bis 6. Lebenswoche hat das Kind mehrmals täglich (mindestens dreimal) Stuhlgang,
  • ab dem 3. Lebenstag hat das Kind täglich etwa 4 - 6 nasse Windeln - nass meint dabei, dass sie ca. 50 - 75 ml Urin enthalten, also insgesamt ca. 300 ml am Tag (wenn man unsicher ist, kann man die volle Windel nachwiegen und mit dem Gewicht einer leeren vergleichen) und
  • spätestens am 14. Tag nach der Geburt ist das Geburtsgewicht wieder erreicht.

Das heißt jedoch nicht zwangsläufig, dass ein Baby hungert, wenn es weniger oft Stuhlgang hat oder seltener nasse Windeln.  In den ersten 48 Stunden nach der Geburt wird das Kind kaum nasse Windeln haben - es besteht kein Grund zur Sorge!

Dass sich das Baby weiterhin gut entwickelt erkennt man daran, dass
  • sich das Kind entlang seiner Perzentilkurve entwickelt,
  • das Kind 4 bis 6 nasse Windeln am Tag hat, 
  • seine Haut rosig ist, 
  • es zufrieden wirkt und die Umgebung aufmerksam betrachtet und 
  • es nach dem Stillen Sättigungszeichen wie Loslassen der Brust, körperliche Entspannung und zufriedenes Einschlafen zeigt.

Zeichen, dass die Nahrung nicht ausreichend sein könnte sind
  • das Kind nimmt wenig, unregelmäßig oder gar nicht zu, 
  • die Augen sind eingesunken, 
  • die Schleimhäute sind trocken, 
  • Hautfalten bleiben stehen 
  • das Baby ballt die Fäuste
  • es ist dauerhaft unzufrieden,
  • es schläft sehr viel,
  • es wirkt apathisch, bewegt sich wenig, 
  • seltener Stuhlgang, 
  • der Haut fehlt Spannung, sie ist blass und 
  • der Urin ist nicht blass oder leicht gelb sondern dunkelgelb bis orange und riecht stark.

Alle diese Zeichen können darauf hindeuten, dass das Kind nicht satt wird - jedes einzelne kann jedoch auch harmlos sein (seltener Stuhlgang ist bspw. bei Stillkindern häufig). ´

Man geht üblicherweise eigentlich zurecht davon aus, dass sich ein hungriges Kind bemerkbar macht - die Natur hat es so eingerichtet, dass hungrige Kinder ihr Bedüfnis lautstark kund tun. Im Hinterkopf sollte man jedoch behalten, dass nicht alle Kinder derart vehement Nahrung einfordern. Einige schalten bei nicht ausreichender Nahrungszufuhr in den Energiesparmodus, sie schlafen dann viel und sind sehr, sehr ruhig. Ein ruhiges, viel schlafendes nicht schreiendes Kind kann also durchaus hungern! Bei diesen Kinder sollte man die Gewichtszunahme im Auge behalten - liegt die im Rahmen, hat man offenbar einfach ein besonders pflegeleichtes Kind bekommen. 


Die normale Gewichtsentwicklung von Stillkindern 


In den ersten drei Tagen nach der Geburt verlieren fast alle Kinder zunächst an Gewicht, da der sich Stoffwechsel und Wasserhaushalt von der Nabelschnurernährung auf die orale Ernährung umstellen, die Nahrungszufuhr zunächst begrenzt ist (Kolostrum) und das Kindspech ausgeschieden wird. Mehr als 7% des Geburtsgewichtes sollte dieser Gewichtsverlust jedoch nicht betragen - bei einer Abnahme von über 10% und Anzeichen einer Dehydrierung oder von Krankheitssymptomen ist das Zufüttern von zusätzlicher Muttermilch oder Säuglingsmilch erforderlich.

Ab dem vierten Tag sollte das Kind wieder zunehmen. Das Geburtsgewicht ist üblicherweise nach 7 Tagen erreicht, auch eine Dauer von bis zu 14 Tagen ist noch normal. Kritisch wird es, wenn das Geburtsgewicht nach 3 Wochen noch immer nicht erreicht ist - dies erfordert ärztliche Begleitung.
  
Ein vollgestilltes, normalgewichtiges, gesundes Baby sollte pro Woche mindestens zunehmen:
  • 0-3 Monate                         140 g (das entspricht 20 g pro Tag)
  • 3-6 Monate                           70 g
  • 6-12 Monate                         40 g.

Die tatsächliche durchschnittliche Zunahme pro Woche liegt meist höher:
  • bis 2 Monate             170 - 330 g
  • bis 4 Monate             110 - 330 g
  • bis 6 Monate               70 - 140 g
  • bis 12 Monate             40 - 110 g.

Als grobe Richtlinie gilt: Das Geburtsgewicht verdoppelt sich mit etwa 6 Monaten, nach 12 Monaten ist es verdreifacht und mit 2 Jahren vervierfacht.

Man muss dabei immer bedenken: Kinder nehmen nicht gleichmäßig zu - das kann durchaus sprunghaft passieren. Daher sollte man das Gewicht längerfristig beobachten, ohne dabei die Waage überzustrapazieren. Kein Kind wird ernsthaft Schaden nehmen, wenn es mal drei Wochen nicht zugenommen hat, wenn es sonst keine Anzeichen von Unzufriedenheit oder Austrocknung zeigt.

Beim Wiegen ist darauf zu achten, dass die Wiegesituation möglichst immer gleich ist, damit die Ergebnisse vergleichbar sind. Das Wiegen sollte entweder nackt oder mit ähnlicher Bekleidung (allein diese kann das Ergebnis ordentlich verfälschen) und immer ohne oder mit (alter) Windel erfolgen - auch hier ergeben sich sonst erhebliche Differenzen. Das Wiegen birgt die Gefahr, Sorgen zu potenzieren, daher sollte man es auf ein Mindestmaß (sinnvoll: ein- bis zweimal die Woche) begrenzen. Denke immer daran: Windel-, Magen-, Darm- und Blaseninhalt können zu nicht unerheblichen Differenzen führen. Daher ist es empfehlenswert, keine Einzelwerte zu vergleichen (womöglich noch tagesbezogen) sondern Tendenzen zu beobachten. 

Ab wann spricht man von einer Gedeihstörung? 


Als Gedeihstörung bezeichnet man das Abknicken von der ursprünglichen Perzentile (oft verbunden mit auch geringerem Längen- und Kopfumfangswachstum), insbesondere bei Unterschreitung der 3er-Perzentile. Aber auch das Verlassen der Perzentile kann normal sein. Mein Sohn war so ein Fall - er wurde mit propperen 4370 g geboren und wurde in den ersten Lebensmonaten voll gestillt. Er nahm innerhalb einer Woche nach der Geburt 570 Gramm zu und ich fragte mich, ob das denn normal sein könne. Gesorgt, dass er unterversorgt sein konnte, habe ich mich natürlich nicht. Als das nächste Mal 11 Wochen später gewogen wurde, war das Ergebnis, dass er bis dahin gerade mal 87 g pro Woche zugenommen hat. Die Zunahme blieb danach auch weiter über lange Zeit so - er war dabei aber nie unzufrieden.

Bis heute ist er ein absoluter Wenigesser. Er war also schlicht ein Langsamzunehmer. Für mich beunruhigend war, dass er in den ersten 4 Monaten durch die Perzentilkurven wanderte. In den ersten zwei Wochen lag er noch auf der 90er-Perzentile und rutschte dann nach und nach auf die 40-er Perzentile, wo er allerdings seitdem dauerhaft blieb. Zurückblickend kann ich also bestätigen, dass auch solche Entwicklungen offenbar vollkommen normal sein können - doch dies ist eher ungewöhnlich. Ein Verlassen der Perzentilen sollte immer kritisch betrachtet werden.

Neben dem Durchwandern der Perzentilen ist der Zustand Unterernährung ein Anhaltspunkt für eine Gedeihstörung. Ob eine Unterernährung vorliegt, kann mit folgender Berechnung ermittelt werden.

                                                                         Körpergewicht x 100
Längensollgewicht (in %) =  ----------------------------------------------------------------------------
                                                 Gewichtsmedian (50er-Perzentile) für die Körpergröße

Das Längesollgewicht sollte bei einem Wert zwischen 90 und 110% liegen - ein Wert von unter 90 % lässt auf eine Unterernährung schließen.

Die Perzentilkurven in den U-Heften sind übrigens auf Basis von flaschenernährten Kindern erstellt - bei Stillkindern ist es häufig so, dass diese anfangs sehr schnell zunehmen und die Zunahme danach im Verlauf des ersten Lebensjahres abflacht. Die aktuellen WHO-Kurven, die auf Stillen basieren findest Du hier:
 

 Mädchen                      Jungen


Wie schon ausgeführt, ist die Gewichtsentwicklung zwar ein wichtiger Indikator, sollte jedoch nicht als alleinigen Faktor für die gesunde Entwicklung eines Kindes betrachtet werden. Maßgeblich sind viel mehr das Erscheinungsbild und das Verhalten des Kindes. Ist die Haut rosig, die Windeln gefüllt und das Kind zufrieden und aktiv, besteht trotz geringer Zunahme kein Grund zur Sorge.

Zunächst ist es wichtig zu wissen, ob das Kind zu wenig Milch bekommt - beispielsweise wegen einer allgemeine Saugschwäche (z. B. durch Frühgeburtlichkeit) oder wirklich eingeschränkter mütterlicher Milchproduktion - oder ob die Milch schlecht verwertet wird oder der Grundenergieumsatz wegen einer Erkrankung zu hoch ist. Wie viel das Kind trinkt, kann durch eine Stillprobe festgestellt werden - dabei wird das Kind unter gleichen Bedingungen (mit Windel) vor und nach dem Stillen gewogen. Die Differenz gibt Auskunft über die Trinkmenge (Gewicht in Gramm entspricht dabei Milliliter Milch).

Folgende Einschränkungen bzw. Erkrankungen führen u. A. zu Gedeihstörungen:
  • Nahrungsmittelunverträglichkeit wie Laktoseintoleranz bei Stillkindern, Kuhmilch bei Flaschenkindern oder Zöliakie (gehen oft einher mit Trinkverweigerung, Bauchschmerzen, Blähungen, abnormen Stühlen oder Ekzemen)
  • Refluxösophagitis - Entzündung der Speiserühre am Magenausgang (die Kinder spucken in der Regel - aber nicht immer! - vermehrt und überstrecken sich häufig beim Trinken, schreien schon beim Trinken, haben blutige Fäden im Erbrochenen)
  • Stoffwechselerkrankungen,
  • Herzerkrankungen,
  • Nieren- oder Lebererkrankung oder
  • angeborene Syndrome (wie z. B. Williams-Beuren-Syndrom oder Silver-Russel-Syndrom).
 
Während Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Reflux häufiger auftreten, sind die übrigen genannten Fälle sind jedoch nur sehr selten und bleiben nicht lange unentdeckt, da sie sich mit zahlreichen weiteren Symptomen bemerkbar machen. 

Zusammenfassung 


Ein vollgestilltes Kind bekommt in der Regel genügend Muttermilch. Die Trinkmengen nehmen phasenweise oder dauerhaft zu, weswegen es notwendig ist, dass das Kind entsprechend durch häufiges Saugen einen höheren Bedarf signalisiert, den die Brust dann mit ein bis zwei Tagen Verzögerung erfüllt. Dies ist kein Zeichen, dass ein Milchmangel vorliegt. So lange sich das Gewicht normal entwickelt und das Kind meist zufrieden ist, besteht kein Grund zu Sorge.

Werden Auffälligkeiten wie Erbrechen, Blähungen, Überstrecken oder merkwürdiger Stuhl beobachtet oder ist das Kind häufig unzufrieden, sehr schläfrig, blass usw. (siehe oben) sollte durch eine Stillprobe geprüft werden, ob es genügend Nahrung zu sich nimmt.

© Danielle 


In unserem Blog findest Du auch einen Artikel zu allem Wissenswerten über das Stillen und über Stillprobleme.




Warum Kinder lügen und wie man damit umgeht

So wie das Trotzen, das Teilen und das Trockenwerden ist das Lügen ein Meilenstein in der Entwicklung unserer Kinder. Man muss dabei zwischen bewusstem Lügen und ausufernder Fantasie unterscheiden. Eine „echte“ Lüge setzt voraus, dass das Kind bewusst die Unwahrheit sagt um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dazu muss die Fähigkeit, sich in andere hinein zu versetzen bereits entwickelt sein, denn eine Lüge funktioniert nur, wenn der andere sie auch glaubt. 

Über die Fähigkeit sich in andere hinein zu versetzen haben wir in einem anderen Beitrag bereits ausführlich geschrieben – dort ist auch ist ein Experiment beschrieben, mit dem man testen kann, ob das Kind in der Lage ist, die Perspektive eines anderen einnehmen. Die Erkenntnis, dass man selbst über einen anderen Wissensstand verfügt, als ein anderer und dies zum eigenen Vorteil ausnutzen kann, ist ein großer Entwicklungsschritt. In der Regel dauert es nach dem Erreichen des Meilensteins der Perspektivübernahme noch ca. 6 Monate, bis das Kind beginnt, die neue „Fähigkeit“ des Manipulieren mittels Lügen begeistert auszuprobieren. 

Ab wann lügen Kleinkinder? 


Ab wann Kinder bewusst Lügen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, hat die Forscherin Dr. Victoria Talwar mit zahlreichen Experimenten getestet. Einer der Versuche war wie folgt aufgebaut: Ein Kind bekam die Aufgabe, zu raten, welches Stofftier hinter seinem Rücken liegt. Ein Erwachsener forderte das Kind ausdrücklich auf, nicht hinter sich zu schauen – danach verließ er kurz den Raum. Erwartungsgemäß hielt sich kaum ein Kind an die Aufforderung (während 2/3 der 3-Jährigen noch folgsam waren, schauten sich 80% der 4-Jährigen um). Die Kinder, die heimlich nachgesehen hatten, wurden von dem zurückgekommenen Erwachsenen gefragt, warum sie sich nicht an die Anweisung gehalten haben. Die meisten 3-Jährigen bestritten nicht, geschummelt zu haben, die Mehrzahl der 4-Jährigen hingegen behauptete, sich nicht umgedreht zu haben. Bei den 6-Jährigen logen sogar 95%.

In einem anderen Experiment (Peskien, 1992) wurden Kindern drei Sticker vorgelegt und ihnen gesagt, sie könnten sich den schönsten aussuchen und behalten. Bevor sie allerdings eine Wahl treffen dürften, sei eine Puppe dran, die gemein und gehässig sei und den Kindern am liebsten die Sticker wegschnappt. In Gegenwart der Puppe wurden die Kinder gebeten, zu sagen, welcher Sticker ihnen am besten gefällt. Die Puppe wählte diesen Sticker dann jedes Mal für sich selbst aus. Die 3-jährigen Kinder wurden zunehmend wütender, bei jedem Versuch zeigten sie jedoch wieder arglos auf den für sie schönsten Sticker. Sie versuchten sogar die Puppe körperlich daran zu hindern, den Sticker zu nehmen – auf die Idee, vorsätzlich auf einen anderen Sticker zu zeigen und zu lügen, dass ihnen dieser am besten gefiele, kamen jedoch nur 30% der Kinder in diesem Alter, bei den 4-5-Jährigen waren es deutlich mehr.

Offenbar begreifen also Kinder erst im Alter zwischen 3 und 4 Jahren das Konstrukt der Lüge und beginnen dann damit zu experimentieren und es gezielt einzusetzen. Vierjährige lügen übrigens etwa alle 2 Stunden, Sechsjährige etwa einmal pro Stunde. Studien ergaben außerdem, dass 96% aller Kinder regelmäßig lügen.

Eltern empfinden die ersten Lügen oft als Vertrauensbruch – schließlich konnten sie sich bisher auf die absolute Ehrlichkeit des Kindes verlassen. Plötzlich wird – anfangs auch noch vollkommen plump – gelogen, dass sich die Balken biegen. Das Kind hingegen ist begeistert von der neuen Fähigkeit – schließlich lassen sich so allerlei unangenehme Dinge abwenden, das Kind erkennt schnell den Zweck von Lügen, zunächst ohne sich des moralischen Dilemmas bewusst zu sein. 

Wie geht man am besten mit Lügen von Kindern um? 


Sinnvolle Reaktionen auf Kinder-Lügen sind idealerweise von der wahrscheinlichen Motivation des Lügenden abhängig. Daher sollte man sich immer erst einmal fragen, warum das Kind gerade lügt.

Fantasierereien 


Es ist normal, wenn das Kind seine neuerworbene Fähigkeit ausgiebig testet – daher ist zunächst Geduld angebracht und ein möglichst unaufgeregtes Entlarven. Zwischen 3 und 6 Jahren sind Kinder in der magischen Phase – es fällt ihnen schwer, Realität und Fantasie auseinander zu halten – es ist gut möglich, dass sie tatsächlich glauben, ein Ritter habe es unmöglich gemacht, das Zimmer aufzuräumen oder es sei gerade ein Einhorn im Garten vorbei gelaufen. Geschichten werden erfunden, Ereignisse durcheinander gebracht. 

Kind mit Einhorn

Den Fantasiellügen fehlt oft ein Motiv, sie werden meist aus reiner Freude am Fantasieren zusammengesponnen. Manchmal möchte das Kind auch einfach nur etwas Aufmerksamkeit - es ist vollkommen unschädlich zu signalisieren, dass man eigentlich nicht glaubt, was erzählt wird. Aber ein bisschen mitzufantasieren macht Spaß und das Kind glücklich. Das Wort "Lüge" sollte im Zusammenhang mit Fantasie nicht fallen.

Lügen zur Vermeidung von Strafe/aus Scham 


Wenn das Kind lügt, um Strafen zu vermeiden, sollte man sich fragen, ob die eigene Reaktion auf die kleineren oder größeren Vergehen allgemein angemessen ist. Je mehr ein Kind die elterliche Reaktion fürchtet, desto wahrscheinlicher ist es, dass es das Instrument der Lüge häufiger nutzt, um diese abzuwenden. Geduld zu haben bei der Erziehung von Kleinkindern ist eine große Herausforderung – sie zu bewahren ist jedoch unsere größte Unterstützung dabei. Ein Kind, das schon zehnmal angeherrscht wurde, weil es aus Ungeschicklichkeit gekleckert, gekrümelt oder gematscht hat, wird – sobald es begriffen hat, dass man Nichtbeteiligtsein vortäuschen kann – versuchen, seine Tat zu leugnen um einer unfreundlichen Ansprache zu entgehen.

Grundsätzlich wird ein Kind, das in einer offenen Atmosphäre ohne sinnlose Strafen und mit viel Geduld aufwächst, weniger Motive haben zu lügen. Das heißt natürlich nicht, dass jedwedes Fehlverhalten konsequenzfrei bleiben soll – Kinder müssen durchaus lernen, für ihre Fehler einzustehen. Es geht vielmehr um die Vermeidung von Strafen aus dem Affekt, weil man sich gerade so ärgert – zudem man dann dazu neigt, übertrieben strenge Strafen aufzuerlegen oder gar undurchführbare, was auf Dauer zu Muttertaubheit führt (kein Kind nimmt ab dem zweiten Mal „Dir gebe ich nie wieder ein Eis, wenn Du immer damit kleckerst“ ernst).

Zur Vermeidung übertriebener Reaktionen kann man sich vornehmen, „Strafen“ nie sofort auszusprechen und den Fokus auf die eigenen Gefühle zu legen. Statt „Oh nein - die Vase ist zerbrochen – heute gibt es keinen Sandmann“ kann man es fürs erste bei „Oh nein – die Vase ist kaputt – das macht mich traurig, weil ich sie sehr mochte“ belassen. Danach kann man nach der Ursache schauen – war es Vorsatz, kann überlegt werden, wie man damit umgeht (wobei man sich zunächst fragen sollte, warum das Kind das getan hat). In den meisten Fällen ist die Ursache reine Ungeschicklichkeit – diese ist jedoch (leider) nicht "aberziehbar". In solchen Fällen bietet sich das Konzept der Wiedergutmachung an – Kinder sollten das Gefühl haben, dass Dinge, die sie angestellt haben, stets wieder gutgemacht werden können. Dadurch wird die Angst vor dem Zugeben einer Missetat schon minimiert. Hilfreich dabei ist es, die Kinder dabei einzubeziehen, eine Lösung zu finden - sie sind dabei oft erstaunlich kreativ. Statt also sofort rigoros zu strafen, frag Dein Kind doch einfach mal: "Was denkst Du, sollten wir nun tun?"
 

Verleugnung 


Kinder können Zusammenhänge oft noch nicht vollständig überblicken. Dass dem „Mama, Erik hat an meinen Haaren gezogen“ ein Streit um den Buddeleimer voranging, ist schnell vergessen – wenn Mama dann nachfragt: „Warum hat er das denn gemacht?“, ist die Antwort „Weiß nicht – ich habe nichts gemacht“ im Grunde eine Lüge, aber das Kind empfindet es nicht als solche, weil es tatsächlich schon vergessen hat, was passiert ist und nur noch das Haare ziehen in Erinnerung hat.

Wenn man das Gefühl hat, dass das Kind tatsächlich das Gefühl hat, die Wahrheit zu sagen, ist es nicht zielführend, die Situation detektivisch auseinander zu nehmen um die Lüge zu enttarnen oder zu beweisen - das würde das Kind verwirren und sein Verständnis des Konstrukts "Lüge" beeinträchtigen. 

Lügen um Anzugeben und zu Prahlen 


Ursache für Prahlereien kann ein geringes Selbstbewusstsein sein - manchmal fühlt sich das Kind nicht angenommen und hat das Gefühl hat, dass es Dinge erfinden/übertreiben muss, um mit anderen mitzuhalten. Meistens jedoch sind die Prahlereien so abstrus ("Mein Vater ist Astronaut!"), dass sie eher in die Kategorie "Fantasierereien" fallen. Gerade bei Jungen vermischen sich die Fantasien gerne mit Angeberei - das hingegen ist eine ganz normale Kleinkindphase, die keinen Schluss auf das Selbstbewusstsein zulässt. 

Gute Lügen, schlechte Lügen 


Der Umgang mit dem Lügen ist diffiziler, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Wir sollten uns zunächst bewusst machen, dass auch die Erwachsenenwelt voller Lügen ist. Schon Nietzsche sagte "Die Menschen lügen unsäglich oft" – daher ist es schwierig, dem Kind gegenüber pauschal das Lügen zu kritisieren. Spätestens, wenn die Oma zum Geburtstag wieder einmal ein scheußliches Kleidungsstück verschenkt, sind wir über kleine Flunkereien unserer Kinder wie „Oh wie schön, danke“ durchaus dankbar.

Kind beißt sich auch die Hand

Um deutlich zu machen, dass die Wahrheit in der Familie wichtig ist, weil man so eine Atmosphäre des "Sich-aufeinander-verlassen-Könnens" geschaffen wird, kann man beispielsweise mal das Lügen-Spiel spielen - für einen bestimmten Zeitraum (eine Stunde) darf jeder lügen, so viel er möchte - Kinder werden bald feststellen, wie wichtig eine Unterscheidung in wahr und unwahr ist.

Grundsätzlich ist es nicht sinnvoll, das Erziehungsziel "Wir sagen nur die Wahrheit" zu formulieren, sondern dem Kind beizubringen, wann es sinnvoll ist, auch mal zu kleineren Notlügen zu greifen. Zudem "nur die Wahrheit" auch nicht immer erstrebenswert ist - wer hat schon auf die gut von allen hörbaren Frage seines 3-jährigen Kindes "Mama, warum riecht die Frau so komisch?" entspannt geantwortet: "Gut, dass Du fragst - ganz offenbar weil sie sich nicht gründlich gewaschen hat" :-)?

Der generelle Anspruch "Bei uns wird nicht gelogen" ist auch deswegen unglaubwürdig, weil auch die Eltern gelegentlich lügen (müssen) und die Kinder sie dabei beobachten (sich am Telefon verleugnen lassen oder "Welch ein tolles Geschenk" der Oma versichernd und Tage später dem Papa gegenüber die Unnützlichkeit der Sache erwähnend). Erwachsene benutzen täglich so viele kleine Lügen, dass ihnen das oft gar nicht mehr bewusst ist. Unser Schuldbewusstsein erfasst Not- und Höflichkeitslügen gar nicht mehr als solche - Kinder erkennen sie jedoch sofort - als reine Lüge. Differenzierungen nehmen sie dabei noch nicht vor, so dass "wir lügen nicht" für sie ein Widerspruch zum elterlichen Verhalten ist.

Ziel der Erziehung sollte es sein, dem Kind verständlich zu machen, wo Notlügen erlaubt sind, wo Höflichkeitslügen angebracht sind und wann es sonst sinnvoll sein kann, auch mal nicht die Wahrheit zu sagen. Lügen sollte dann "erlaubt" sein, wenn die Gefühle anderer sonst verletzt würden – doch dieses Prinzip verstehen Kinder erst mit etwa 6 Jahren – bis dahin sagen sie meist schonungslos die Wahrheit. Man sollte dem Kind jedoch schon vorher vor Augen führen, wie sich andere Menschen fühlen, wenn man über sie  unangenehme Dinge sagt. 

Um die Differenzierung der Lügen für die Kinder einfacher zu machen, kann man sie in schwarze und weiße Lügen einteilen. Weiße Lügen sind Fantastereien und Flunkereien - sie sind erlaubt. Notlügen und Höflichkeitslügen fallen ebenfalls in diese Kategorie, weil sie die Gefühle anderer schützen. Weiße Lügen schaden nicht - sie nutzen. Schwarze Lügen hingegen dienen allein dem Vorteil des Lügenden oder dem Verschleiern. Wichtig ist es auch, deutlich zu machen, wann es immer angebracht ist, die Wahrheit zu sagen (Missbrauchsprävention).

Kinder müssen im Grunde lügen lernen, um in der Gesellschaft zu bestehen. Kein Chef wird erfreut sein, wenn sein (in der Kindheit zu 100% Ehrlichkeit erzogener) Mitarbeiter auf "Guten Morgen, wie geht es ihnen? Wann können wir denn mit der Fertigstellung des Projektes rechnen?" antwortet: "Guten Morgen? Für mich war das kein guter Morgen - ich habe nicht ausgeschlafen, dann ist das Auto nicht angesprungen und die Kinder haben beim Abgeben in der Kita geweint. Im Grunde bin ich so gestresst, dass mir das Projekt gerade vollkommen egal ist und ich eigentlich nur noch meine Ruhe haben will. Bei meinem bescheidenen Gehalt finde ich den Zeitdruck, der da erzeugt wird, unangemessen. Aber danke der Nachfrage!"

Klosinski, Gunther: Tarnen Täuschen Lügen – Zwischen Lust und Last, Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co KG

Krüger, Raúl Gaston: "Hilfe mein Kind lügt ständig rum!" Warum Kinder ständig lügen und was es damit auf sich hat, Essay, Grin