"Wie Kinder heute wachsen: Natur als Entwicklungsraum" - Herbert Renz-Polster

Ich bin ein großer Fan von Herbert Renz-Polster. Kinder verstehen - Born to be wild und Menschenkinder (über das ich in diesem Artikel ausführlich schrieb) haben meine Sicht auf das kindliche Verhalten grundlegend beeinflusst. Entsprechend gespannt war ich auf sein neues Buch Wie Kinder heute wachsen: Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Denken und Fühlen. Das Buch schrieb Renz-Polster zusammen mit Gerald Hüther, einem Hirnforscher, der sich ausführlich mit dem kindlichen Gehirn befasst hat (u. a. in Das Geheimnis der ersten neun Monate: Unsere frühesten Prägungen). Der Beltz-Verlag hat mir freundlicherweise ein Rezensions-Exemplar des Buches zur Verfügung gestellt.
 
 
 
 
Das Buch ist in acht Abschnitte unterteilt:
 

1 Entwicklung von Oben betrachtet

 
Im ersten Abschnitt wird die Entwicklung von Kindern kurz betrachtet. Warum entwickelt sich die Menschheit immer weiter, welche Rolle spielt die Kreativität dabei und welche Funktion haben Vorbilder? Die Autoren gehen davon aus, dass Kinder vor allem zwei Dinge in ihrer Entwicklung voran treiben - Selbstwirksamkeit und Selbstorganisation.
 
Die Selbstwirksamkeit entwickelt sich dann, wenn ein Kind sich sicher und geborgen fühlt, weswegen eine sichere Bindung und authentische und feinfühlige Eltern-Kind-Beziehungen wichtig sind. Nur dann beginnt ein Kind, sein Umwelt zu erforschen und auszuprobieren, welche Dinge es selbst bewirken kann. 
 
Betrachtet man die Kindheit aus historischer und globaler Perspektive, wird deutlich, dass Kinder ab spätestens drei Jahren die Nähe anderer Kinder suchen und in sich gemischtaltrigen Gruppen am besten entfalten. Diese Gruppen organisieren sich - wenn man sie lässt - ganz alleine. Es wird von einem interessanten Experiment berichtet, bei dem in einem  Slum in Indien ein Computer mit Maus, Tastatur und Internetanschluss  in die Begrenzungswand des Slums integriert wurde. Eine installierte Kamera nahm auf, was geschah. Es waren die Kinder, die sich die Bedienung des Gerätes aneigneten, ohne vorher je etwas mit Computer zu tun gehabt zu haben. Dieser Versuch zeigte eindrucksvoll, wie Kinder untereinander eine effektive Selbstorganisation schaffen. In der Gruppe schaffen sie es außerdem, soziale Grundkompetenzen wie Mitgefühl zu erwerben - diese können pädagogisch nur unzureichend vermittelt werden - erst ein wirkliches Erleben führt dazu, dass sie entwickelt werden. 
 

2 Der Schatz dort draußen

 
Die Natur ist der angestammte Entwicklungsraum unserer Kinder - seit Jahrtausenden sind sie mitten darin aufgewachsen und hatten dort die Möglichkeit, vielfältige Fähigkeiten zu erlernen. Im Spiel werden sich zahlreiche physikalische Grundverständnisse angeeignet. Leider gibt es die unberührte Natur im Grunde kaum noch. Doch nach wie vor sind unsere Kinder fasziniert von den Elementen und brauchen den Kontakt damit. Insbesondere die Freiheit, die die Natur bietet, inspiriert die Kinder. Spielzeug engt die Phantasie ein - ein Spielzeugauto ist ein Spielzeugauto - ein Stock kann ein Schwert, ein Messer, eine Angel, ein Pferd sein. Das Kapitel beschreibt, warum der Kontakt mit der Natur für die Kinder ein Grundbedürfnis ist und wie er beim Lernen anregt. Ungestört hier spielend geraten die Kinder in einen "Flow" - sie vergessen alles um sich herum und sind tief in das Spiel versunken - die neuronalen Netzwerke bilden sich dabei extrem gut aus.
 

 

3 Natur und Gesundheit


Dieser Abschnitt befasst sich mit den Gründen, warum der Aufenthalt in der Natur so gesund ist. Das Zusammenspiel zwischen Immunsystem und einer Vielfalt von Erregern führt zur Senkung des Allergierisikos. Sonne ist wichtig - ausreichend Vitamin D wird für den Aufbau der Knochen benötigt, es sorgt auch für weniger Atemwegsinfektionen und einer höheren Ausschüttung vom Glücks-Botenstoff Dopamin. Es ist darüber hinaus wissenschaftlich erwiesen, dass Kinder, die viel Zeit draußen verbringen, ein deutlich geringeres Kurzsichtigkeitsrisiko haben. Es wird darüber hinaus kurz auf einen (möglichen) Zusammenhang zwischen AD(H)S und der Tendenz zum Drinnen spielen eingegangen. Das Kapitel schließt mit einem Loblied auf die Langsamkeit und die Entschleunigung.

4 Warum schlagen wir das Angebot aus?


Im Grunde weiß jeder, dass die Natur für unsere Kinder wichtig ist und sie möglichst viel Zeit dort verbringen sollten. Doch zwischen 1970 und 1990 hat sich der durchschnittliche freie Aktionsradius von Kindern um 8/9 verringert. Woran das liegt und welche Herausforderungen auf unsere Kinder warten, damit befasst sich dieser Teil des Buches. Um unsere Kinder auf den ständig härter werdenden Wettbewerb vorzubereiten und ihnen eine möglichst gute Ausgangsposition für das Leben zu schaffen - dadurch verkürzt sich die freie Spielzeit. Auch Kitas uns Schulen bieten einfach zu wenige Möglichkeiten, mit der Natur zu lernen. Warum auch die Entwicklung von Mitgefühl eng mit Naturerlebnissen verknüpft ist, wird abschließend in diesem Teil erörtert.

 

5 Das große Drinnen von Computern und Kinderspielen


"Mediabashing ist einfach - zu einfach". Dieser recht umfangreiche Teil des Buches befasst sich damit, warum man die neuen Medien nicht pauschal für ihren Einfluss auf die kindliche Entwicklung verteufeln kann. Ohne erhobenen Zeigefinger wird analysiert, dass die Nutzung dieser zwar nicht dumm machen, aber einen Einfluss auf einen wichtigen Faktor hat: zwischenmenschliche Beziehungen. Die Art und Weise, wie und wodurch Kinder lernen wird unterhaltsam und verständlich dargestellt und der Einfluss der Medien darauf kritisch hinterfragt - ohne sie pauschal zu verurteilen.
 

6 Ist die Natur denn gefährlich?


Dieses sehr interessante Kapitel befasst sich - auf der Suche nach der Frage, warum Kinder heute so wenig draußen spielen - mit der Frage, ob es Draußen denn so viel gefährlicher ist, als damals. Die Antwort ist deutlich: Nein! Ein Kind müsste 600.000 Jahre allein in einer Großstadt an einer Ecke stehen um Gefahr zu laufen, gegen seinen Willen mitgenommen zu werden. Gegenüber 1970 ist die Zahl der Todesopfer im Autoverkehr heute fünfmal geringer. Kinder brauchen Bewegung, wenn sie genug davon bekommen, entwickeln sie enormes motorisches Geschick, wodurch sie bei riskanten Situationen geschützt sind. Die Evolution hat es vorgesehen, dass die Wagnisse, die Kinder eingehen wachsen - erst wenn sie kleine Schritte erfolgreich bewältigt haben, trauen sie sich an die nächste Herausforderung. Das Kapitel schließt mit einem Plädoyer an das Vertrauen.
 

7 Wege in die Natur

 
Im siebenten Abschnitt wird aufgezeigt, welche Defizite im Bildungswesen derzeit die optimale Entwicklung vom Kindern beeinträchtigen. Das Leistungssytem führt zu einem Wettbewerb, der die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse unserer Kinder nicht berücksichtigt. Es wird aufgezeigt, dass der Frühförderwahn in den Kitas vollkommen unsinnig ist und das freie Spiel zu sehr vernachlässigt wird. Das Konzept von Waldkindergärten sollte weiterentwickelt werden und sich ein Beispiel an innovativen Projekten (wie dem Vorlesehund) genommen werden. Das Umdenken muss in den Köpfen der Eltern stattfinden - sie sind die Initiatoren und mittlerweile nicht mehr in der bloßen Situation von Bittstellern sondern Mitgestaltern.
 
 
 

8 Naturerfahrungen in einer bedrohten Welt

 
Das achte Kapitel ist eine kurze Zusammenfassung des Buches und greift nochmals unsere Verantwortung als Eltern auf, widrige Umstände zu beseitigen. Die Beziehung zu unseren Kindern ist das Fundament, das ihnen Wurzeln gibt - für die Entfaltung ihres Blattwerkes benötigen sie die Natur

 

Meine Meinung zum Buch


Vor dem Lesen war ich unsicher, was mich erwartet. Ich ging davon aus, dass das Buch erklärt, warum das Spielen in der freien Natur für unsere Kinder und ihre Entwicklung essentiell wichtig ist. Da ich mir dessen durchaus bewusst bin, habe ich mich gefragt, ob das Buch für mich also einen Nutzwert haben wird. Das Problem ist ja, dass Kinder heute kaum noch Orte für ein ungestörtes Freispiel haben und sich die Welt so gewandelt hat, dass aus Sicherheitsaspekten oder wegen Frühförderung kaum noch Spielkameraden verfügbar sind, um stundenlang durch die Wälder zu streifen, wie wir es als Kinder noch konnten.

Im Grunde kann man den Inhalt auch genau so zusammenfassen - die Natur ist wichtig für unsere Kinder, nur wird es immer schwieriger, sie zu nutzen. Zwar finden sich einige praktische Ansätze, was man tun kann , aber am Ende bleibt das ungute Gefühl, etwas elementar Wichtiges so wenig beeinflussen zu können.

Auch wenn das Buch - so man denn von den Vorteilen des Spielens in der Natur ohnehin überzeugt ist - wenig praktische Aspekte enthält, so ist es dennoch sehr unterhaltsam geschrieben und bietet einige interessante wissenschaftliche Exkurse und Anregungen.

© Danielle

 

Bildnachweise
 
Kinder spielen am Bach: Jennifer Kolling  / pixelio.de
Kinder an einer Wiese: Helene Souza  / pixelio.de
Opa mit Kinderwagen: Annamartha  / pixelio.de

2 Kommentare:

  1. Als ehemaliges "Strömerkind" weiß ich, wie wichtig die Erfahrung ist, auch mal ohne Erwachsene allein mit und in der Natur zu sein. Ich versuche viel, um meiner Tochter das zu ermöglichen.

    Trotzdem bin ich auf der Suche nach Tipps, was man in der Natur mit Kindern alles anstellen kann. Was ich interessant finde, sieht meine Tochter als langweilig und sie allein findet keinen Zugang zu Wildgärten oder Wald. Gibt es ein Buch dazu oder ähnlich?

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    1. "Slow family" von nicola schmidt und julia dibbern ist voller praktischer tipps wie man mehr natur und wildnis (und mehr freiheit und entspannung) ins kinderleben integrieren kann! Fand ich super

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