Wutanfälle wegen natürlicher Grenzen, Schicksalsschlägen oder Bedürfnissen von anderen. Hilfe, mein Kind versucht über mich zu bestimmen!

Mein Sohn wird bald 3 Jahre alt und ich beobachte an ihm gerade eine Phase, die ich bei seinen Schwestern nicht so bewusst miterlebt erlebt habe. Ich erinnere mich aber durchaus an Szenen mit den beiden, die den heutigen mit ihm ähneln. Herr Friedlich ist im Moment oft wütend - so weit, so normal. Spannend ist jedoch, was genau ihn immer wieder böse werden lässt: Er ist wütend, wenn ein Paket für ihn bei den Nachbarn liegt, diese aber nicht da sind und deshalb die Tür nicht aufmachen. Er ist wütend, wenn wir nach Hause kommen und seine Schwester aus Versehen vor ihm das Licht im Hausflur anmacht. Er ist wütend, wenn ich auf Toilette gehen möchte und auch gehe, obwohl er es mir "verboten" hat. Er ist wütend, wenn wir nicht zum  vierten Mal hintereinander seinen Autofilm angucken wollen, sondern uns für einen anderen entscheiden. Er ist wütend, wenn Sonntag ist und wir nicht sofort seinen Joghurt nachkaufen können, der gerade alle geworden ist.

Kind weint

Als er noch kleiner war, wurde er oft bei kleineren "Schicksalschlägen" wütend: Wenn die Banane zerbrach, während er sie schälte. Oder wenn sein Luftballon wegflog, weil er für einen kurzen Moment die Schnur losgelassen hatte. Mir ist aufgefallen, dass diese Wutanfälle alle in eine bestimmte Kategorie passen, deshalb schreibe ich hiermit einen kleinen Ergänzungsartikel zu unserem ausführlichen Text, wie man Kinder in einem Wutanfall begleitet. In unserem heutigen Artikel geht es um Wutanfälle, die durch unverrückbare natürliche Grenzen, Schicksalsschläge und persönliche Bedürfnisse von anderen verursacht werden.

Schicksalsschläge


In diesem Artikel über den Entwicklungssprung mit 15 Monaten haben wir schon ausführlich besprochen, dass kleinere "Schicksalsschläge", die immer wieder mal passieren, unsere Kinder unheimlich aus der Bahn werfen, weil sie von dem inneren Plan abweichen, den die Kinder im Kopf hatten. Zerbrechen beispielsweise eine Banane oder ein Keks, während sie ausgepackt werden, ist das etwas, mit dem das Gehirn unserer Kinder erst lernen muss, umzugehen. Ein spontanes Abweichen von einem einmal gefassten Plan ist eine kognitive Leistung, die erst nach und nach und mit viel Mühe erlernt wird.

Zunächst werden die Kleinen wütend, weil sie gern eine ganze Banane oder einen ganzen Keks essen wollten und (noch) nicht verstehen, dass nicht alle Dinge, die kaputt gehen, auch wieder ganz gemacht werden können. Auch Luftballons, die zerplatzen oder wegfliegen, gehören in diese Kategorie von Schicksalsschlägen. Es ist ungünstig, dann aus Mitleid einen neuen Keks oder einen neuen Luftballon zu kaufen. Damit erklärt man nämlich dem Teil des kindlichen Gehirns, der dafür verantwortlich ist, dass man unvorhergesehene Vorkommnisse, die Schmerzen, nicht aushalten muss, sondern dass es besser ist, sich davon abzulenken. Das schwächt jedoch die Resillienz der Kinder! Besser ist es, die Kinder in diesem Moment in ihrer Trauer zu begleiten. Da zu sein für ihre Tränen und eine Schulter zum Ausweinen anzubieten. Denn neben der Wut über das Unabänderliche ist es vor allem Trauer, die da zu Tage kommt. Trauer um den schönen ganzen Keks oder den schönen verlorenen Luftballon. Lernen Kinder mit unserer Hilfe, diese Trauer und den dazugehörigen Schmerz auszuhalten, ist ihr Gehirn besser vorbereitet, wenn das Haustier stirbt oder die Lieblingspuppe verloren geht. Diese lassen sich nämlich nicht ersetzen ...

Kind spielt mit riesiger Seifenblase


Unverrückbare natürliche Grenzen


Wenn ein Nachbar, der mein Paket in meiner Abwesenheit angenommen hat, nicht da ist, wenn ich dieses Paket abholen will, dann ist das Pech für mich. Es ist eine unverrückbare natürliche Grenze. Ich kann so oft klingeln, wie ich will, ich werde trotzdem nicht an mein Paket herankommen. Als Erwachsene weiß ich das, deshalb ärgert mich dieser Umstand höchstens kurz. Ich zucke mit den Schultern und probiere es am Abend nochmal. Auch, wenn mein Lieblingsjoghurt an einem Sonntag alle wird, weiß ich, dass es keinen Sinn hat, deshalb wutentbrannt an der Tür des Supermarktes zu rütteln - das Ding bleibt trotzdem geschlossen. Ich muss mich also bis Montag gedulden, bevor ich meinen Joghurt wieder einkaufen kann.

Wieder habe ich vor einer unverrückbaren Grenze gestanden. Für kleine Kinder, die die Gefühle von Wut, Ärger, Angst etc. gerade erst neu erleben und einordnen lernen, sind solche Situationen viel schwerer zu ertragen, als für uns Große, weil sie 1. durch den Aufbau ihres Gehirns noch schneller erregbar sind und 2. noch nicht so viele Situationen erlebt haben, in denen sie vor einer unverrückbaren Grenze standen. Für sie ist es eine neue Erfahrung, im wahrsten Sinne des Wortes "in die Grenzen gewiesen" worden zu sein. Dazu braucht es keine von Erwachsenen willkürlich gesetzte Grenzen ("Nein, du darfst jetzt kein Eis essen!"), es gibt genügend natürliche davon auf der Welt.

Persönliche Bedürfnisse von anderen


Auch der Fakt, dass sich Menschen nicht "manipulieren" lassen, wie z. B. Gegenstände, ist eine Lektion, die unsere Kinder im Alter meines Sohnes erst neu erlernen müssen. Als sie Babys waren, haben wir Eltern unsere eigenen Bedürfnisse weit nach hinten geschoben. Vielleicht haben wir sie abends im Bett einschlafbegleitet, obwohl wir eigentlich auf Toilette mussten. Vielleicht haben wir auf das Duschen am Morgen verzichtet, weil unser Baby nicht allein in der Wippe liegen wollte und weinte. Vielleicht haben wir unseren eigenen Hunger erst einmal ignoriert, weil unser Kind dringend an die Brust wollte. All das war richtig und wichtig. Doch je älter unsere Kleinen wurden, desto besser konnten auch sie einmal abwarten, so dass wir nach und nach ein wenig mehr auf unser eigenes Wohlbefinden achten konnten.

Irgendwann kommt der Punkt, an dem dieses neue Abwägen zwischen den Bedürfnissen von Erwachsenem und Kind zum Streit führt. Mit drei Jahren können Kinder nämlich noch keinen Perspektivenwechsel einnehmen, d. h. auch ihr Mitgefühl ist begrenzt. Sie können noch nicht nachfühlen, wie schlimm es ist, dringend Pipi machen zu müssen und nicht zu können, weil ein kleiner Dreikäsehoch vehement verlangt, man solle sein Händchen beim Einschlafen halten. Sie können auch noch nicht verstehen, dass die Schwester, die beim Hereinkommen ins dunkle Treppenhaus automatisch auf den Lichtschalter drückt, das nicht tat, um ihren Bruder zu ärgern, der eigentlich das Licht anmachen wollte, sondern weil sie nicht in seinen Kopf gucken kann und dementsprechend nicht wusste, dass er es wollte.

Perspektivenwechsel und Empathie sind kognitive Meilensteine, die in der natürlichen Entwicklung von allein erreicht werden. Was jedoch ist mit dem "Über-andere-bestimmen-wollen", das unsere Kleinen in diesem Alter so oft an den Tag legen? Geht das wieder von allein weg?

Mutter umarmt liebevoll ihr Kind

Am Sonntag hatten wir so einen Fall bei uns. Wir schauen im Winter am Wochenende meist einen Film. Die letzten drei Mal hatten wir uns von Herrn Friedlich überreden lassen, mit ihm seinen Lieblingsfilm Cars zu gucken. Doch diesmal wollten wir nicht - wir hatten Lust auf einen anderen. Um Herrn Friedlich nicht zu sehr zu enttäuschen, erklärten wir ihm, wir würden zuerst seine Lieblingszene angucken, in der zwei Autos laut Traktoren anhupen. Gesagt, getan. Große Freude bei meinem Sohn. Doch als wir uns danach anschickten, den von meinen Töchtern gewünschten Film einzulegen, begann das große Drama. Herr Friedlich wollte nicht, dass wir Petterson und Findus gucken. Er war außer sich und schrie immer wieder, wir sollen den Fernseher aus machen. Er wollte bestimmen, was wir gucken oder wenigstens bestimmen, dass wir nicht gucken. Wir rückten jedoch nicht von unserer Entscheidung ab. Das machte meinen Sohn wirklich, wirklich wütend. Ich musste ihn sicher eine halbe Stunde lang geduldig begleiten, bis er akzeptieren konnte, dass wir etwas tun, was er uns nicht "erlaubt" hatte.

Das war sehr anstrengend für mich, aber ich wusste, dass es wichtig war, seine Empörung auszuhalten. Natürlich hätten wir des lieben Frieden willens klein beigeben können oder ihn auch so ablenken können, dass meine Töchter den Film heimlich hätten gucken können, aber dann hätten wir seinem Gehirn (genauer gesagt dem präfrontalen Kortex) eine falsche Botschaft gesendet. Dann hätte er gelernt, dass sich Menschen durch lautes Geschrei "verschieben lassen", wie Möbel, die ihm im Weg stehen. Das mag vielleicht bei den Eltern, Geschwistern oder Großeltern noch irgendwie klappen, nicht jedoch im "wahren Leben" bei der Nachbar|in, der|dem Kita-Erzieher|in, der|dem Lehrer|In oder dem|der Vorgesetzten. Menschen haben ihren ganz eigenen Willen und reagieren manchmal anders, als wir uns das wünschen. Das ist die Lernaufgabe, die mein Sohn, und andere Kinder in seinem Alter, gerade haben.

Wenn wir uns ihrem Geschrei beugen, weil wir ihren Frust, den momentanen Liebesverlust und ihre Lautstärke nicht aushalten können, dann tun wir ihnen nichts Gutes. Wir schwächen unsere Kinder. Das "Über-andere-bestimmen-wollen" geht leider nicht von allein weg, wie man an einigen Erwachsenen (in der Politik und anderswo) wunderbar sehen kann. Wenn unsere Kinder nicht von uns erfahren, dass man manchmal im Leben zugunsten anderer zurückstecken muss, machen wir es ihnen und ihrer Umwelt unnötig schwer. Aushalten zu können, dass es natürliche Grenzen wie z. B. Schließzeiten von Geschäften gibt, dass Schicksalsschläge wie ein geplatzter Luftballon passieren oder dass Menschen Dinge tun, die man selbst doof findet, ist unabdingbar, um entspannt durchs Leben zu gehen und sich in die Gesellschaft einfügen zu können, ohne sich selbst dabei zu verlieren.

Wie kann man diese Wutanfälle begleiten?


In diesem Artikel und auch in unserem Buch zur Trotzphase haben wir ausführlich beschrieben, wie man einen Wutanfall erfolgreich begleitet und dem Kind eine Brücke aus der Wut heraus baut. Doch was ist mit den Wutanfällen, die ich in diesem Artikel hier beschrieben habe?

Wie ich oben bei dem Abschnitt über die kleineren Schicksalsschläge schon angedeutet habe, erleben unsere Kinder in den Situationen eine Gefühlsmischung aus Wut und Trauer. Die Kinder davon abzulenken, ist ungünstig. Einen Kompromiss anzubieten, hilft aufgrund der Natur der Situation nicht. Ich hatte Herrn Friedlich, als seine Schwester das Licht vor ihm angemacht hatte, z. B. angeboten, mit ihm so lange im Hausflur stehen zu bleiben, bis das Licht von selbst wieder ausgeht, damit er es dann wieder anmachen kann. Doch dieses Angebot half überhaupt nicht. Denn es ging ihm nicht wirklich darum, das Licht anzumachen. Es ging ihm darum, das Licht als Erster anzumachen. Und diese Gelegenheit war nun einmal unwiederbringlich verstrichen.

Wenn euer Kind also einen dieser Wut- und Traueranfälle hat, die ich hier beschrieben habe, dann bleibt neben ihm, bietet immer wieder an, es in den Arm zu nehmen und zu kuscheln, aber drängt euch nicht auf. Es dauert leider oft eine halbe bis dreiviertel Stunde, bis sich unsere Kleinen von ihrem Frust erholt haben. Das sind 45 Minuten, in denen wir eigentlich rein gar nichts machen können, als ihrer Trauer aktiv zuzuhören. Es hilft ein wenig, den Grund für die Trauer leise zu verbalisieren ("Du wolltest das Licht als Erster anmachen. Als Erster!"), aber mehr braucht ihr nicht zu unternehmen. Es ist schon schwer genug für euch, die Wut und Trauer zu begleiten. Ich habe das mit Herrn Friedlich jetzt etwa drei Wochen lang jeden Tag durchgemacht und ich kann euch sagen, am Ende war ich ein nervliches Wrack. Ich wollte nur noch, dass das Schreien aufhört. Am Ende der drei Wochen bin ich wegen irgendeiner Kleinigkeit in Tränen ausgebrochen. Ich konnte nicht mehr.  Als Herr Friedlich sah, dass ich weinte, kam er sofort zu mir: "Brauchst du kuscheln?" fragte er sanft und schmiegte sich liebevoll an mich. Ich war verblüfft und gerührt. Unsere Anstrengung trägt Früchte - manchmal schneller, als wir erwarten.

© Snowqueen