Zahlen, Daten und Fakten zum plötzlichen Kindstod, die zu der Frage führen, ob es ihn überhaupt gibt
Vor dem plötzlichen Kindstod, auch SIDS (Sudden Infant Death Syndrom) genannt, haben viele Eltern Angst. Nicht wenige stehen in den ersten Wochen regelmäßig am Babybett und schauen besorgt nach, ob ihre Kinder noch atmen. Atemüberwachungssysteme wie Angelcare sind in deutschen Babybetten weit verbreitet. In diesem Artikel möchte ich zunächst kurz den aktuellen wissenschaftlichen Stand und die Empfehlungen zur Verringerung des SIDS-Risikos zusammenfassen und anschließend kritisch diskutieren, ob es den "plötzlichen Kindstod" in der angenommenen Form überhaupt gibt.
Was ist SIDS
Als plötzlicher Kindstod werden die Todesfälle bezeichnet, bei denen die Kinder plötzlich und unerwartet versterben und keine Todesursache ermittelt werden kann. SIDS tritt fast ausschließlich im ersten Lebensjahr auf, 80 % der Fälle betreffen Kinder, die jünger als 6 Monate sind, am häufigsten sterben Babys zwischen dem zweiten und vierten Lebensmonat.
Wikipedia schreibt zum plötzlichen Kindstod:
"In den Industrienationen gilt er als häufigste Todesursache von Kleinkindern jenseits der Neugeborenenperiode."
Das ist im Grunde ein Paradoxon, denn SIDS ist keine Todesart, sondern eine Ausschlussdiagnose. Diese darf eigentlich nur dann gestellt werden, wenn bei einer Obduktion keine andere Ursache für den Tod ermittelt werden konnte. Die SIDS-Fälle sind also die Zahl der Todesfälle, bei denen trotz Autopsie nicht der geringste Anhaltspunkt für die Todesursache gefunden wurde.
SIDS ist per Definition also keine Todesursache. Dennoch wird offenbar davon ausgegangen, dass alle SIDS-Fälle (eine) gemeinsame Ursache(n) haben, die man bisher - trotz eifriger Forschung - noch nicht gefunden hat.
Risikofaktoren für SIDS
Es gibt verschiedene Risikofaktoren, die das Auftreten von SIDS begünstigen sollen. Studien haben ergeben, dass bei 99% der gestorbenen Kinder mindestens ein Risikofaktor vorlag. Statistisch treten mehr SIDS-Fälle in sozial benachteiligten Familien, bei Müttern, die jünger als 20 Jahre alt sind und bei Alleinerziehenden auf.
Als Risikofaktoren gelten:
Als Risikofaktoren gelten:
- das Schlafen in Bauchlage,
- Passivrauchen sowohl während der Schwangerschaft als auch nach der Geburt,
- Verzicht auf Stillen,
- eine Frühgeburt vor der 33. SSW oder ein sehr niedriges Geburtsgewicht,
- Drogenkonsum der Mutter,
- Überwärmung,
- Zudecken des Kopfes oder ungenügende Luftzirkulation und
- ein Geschwisterkind, das durch den plötzlichen Kindstod starb.
Der Zusammenhang zwischen SIDS und Co-Sleeping wird heiß diskutiert - dazu kann ich diesen wunderbaren Artikel und die Stellungnahme von Dr. Herbert Renz-Polster empfehlen.
Präventionsmaßnahmen gegen SIDS
Es werden folgende Maßnahmen empfohlen, um das SIDS-Risiko zu senken:
- die Rückenlage beim Schlafen,
- mindestens 6 Monate Stillen,
- eine absolut rauchfreie Umgebung,
- eine Schlafzimmertemperatur zwischen 16 und 18 °C,
- eine feste und luftdurchlässige Matratze,
- Verwendung eines passenden Schlafsacks,
- keine Kopfbedeckung beim Schlafen,
- keine Decken, Kuscheltiere, Felle, Kissen, Nestchen im Babybett und
- das Kind schläft bei den Eltern im Zimmer.
Ich beschäftige mich schon seit einiger Zeit sehr ausführlich mit dem Thema SIDS. Wie wahrscheinlich jede andere Mutter hatte ich anfangs große Angst, mein Kind irgendwann kalt und leblos im Babybettchen vorzufinden.
Vor ein paar Jahren gab es in meinem Lieblingsforum eine hitzige Diskussion. Eine Userin hatte Bilder vom künftigen Babyzimmer eingestellt und erntete harsche Kritik für die Verwendung von einem Himmel und einem Nestchen im Babybett. Aus Gründen der SIDS-Prävention dürfe man diese doch auf keinen Fall verwenden. Da stellte ich mir zum ersten Mal die Frage, was Nestchen eigentlich genau mit dem plötzlichen Kindstod zu tun haben sollen.
Wenn ein Kind durch ein Nestchen erstickt, dann ist das ein Erstickungstod mit bekannter Ursache - diese ist in der Auffindesituation eindeutig erkennbar. Daher kann der Verzicht auf Nestchen doch allenfalls zu einer Senkung der Erstickungstode führen. Ich habe bisher nicht eine einzigen Studie gefunden, die einen Zusammenhang zwischen SIDS und Nestchen belegt (oder überhaupt untersucht). Gleiches gilt für die Empfehlung, die Kinder in einem Schlafsack schlafen zu lassen. Ein Kind, das unter eine Decke rollt und dort erstickt, wäre rein statistisch ebenfalls ein Erstickungstod und kein SIDS-Fall.
Vor ein paar Jahren gab es in meinem Lieblingsforum eine hitzige Diskussion. Eine Userin hatte Bilder vom künftigen Babyzimmer eingestellt und erntete harsche Kritik für die Verwendung von einem Himmel und einem Nestchen im Babybett. Aus Gründen der SIDS-Prävention dürfe man diese doch auf keinen Fall verwenden. Da stellte ich mir zum ersten Mal die Frage, was Nestchen eigentlich genau mit dem plötzlichen Kindstod zu tun haben sollen.
Wenn ein Kind durch ein Nestchen erstickt, dann ist das ein Erstickungstod mit bekannter Ursache - diese ist in der Auffindesituation eindeutig erkennbar. Daher kann der Verzicht auf Nestchen doch allenfalls zu einer Senkung der Erstickungstode führen. Ich habe bisher nicht eine einzigen Studie gefunden, die einen Zusammenhang zwischen SIDS und Nestchen belegt (oder überhaupt untersucht). Gleiches gilt für die Empfehlung, die Kinder in einem Schlafsack schlafen zu lassen. Ein Kind, das unter eine Decke rollt und dort erstickt, wäre rein statistisch ebenfalls ein Erstickungstod und kein SIDS-Fall.
Dennoch werden Schlafsack und Nestchen und SIDS in allen Aufklärungskampagnen in einem Atemzug genannt. Das machte mich etwas stutzig und ich begann genauer zu recherchieren. Ich fragte mich, wie viele Kinder denn pro Jahr überhaupt im Babybett ersticken (ICD-10 W75), wenn so eindringlich zu Schlafsack und den Verzicht auf Kuscheltiere und Nestchen gewarnt wird. Die offiziellen Statistiken erstaunten mich: das waren von 2002 bis 2012 insgesamt 35 Fälle. Und die Fallzahlen schwanken zwischen einem und maximal sechs Fällen pro Jahr - die Werte sind seit mittlerweile 20 Jahren konstant.
Wird denn überhaupt intensiv genug nach der Todesursache gesucht?
Ich fand bei meinen Recherchen die sehr interessante Dissertation von Bettina Michaela Zinka mit dem Titel "Der plötzliche Säuglingstod - Untersuchung eigener Fälle am Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität zu München aus den Jahren 1999 bis 2001". Dort wurden Kinder, bei denen SIDS vermutet wurde, sehr viel gründlicher als üblich obduziert - mit interessanten Ergebnissen:
- bei 23% der Kinder wurde eine eindeutige Todesursache gefunden,
- insgesamt 5% der Untersuchten waren vorsätzlich getötet worden,
- bei weiteren 13 % ergaben die pathologischen Befunde eine sehr wahrscheinliche Todesursache,
- bei weiteren 60 % wurden zumindest pathologische Auffälligkeiten gefunden, die zwar nicht den Tod als solches erklären, aber Hinweise darauf geben, dass die Kinder nicht vollkommen gesund waren,
- nur bei 5 % (!) aller Kinder wurden absolut keinerlei Anhaltspunkte für die Todesursache gefunden.
Die Autorin der Untersuchung stellt fest:
"Die Tatsache, dass wir durch gegenüber der Routine massiv ausgeweiteter Diagnostik bereits bei 95% der Kinder Auffälligkeiten nachweisen konnten, legt die Annahme nahe, dass mit noch größerem Aufwand auch bei den restlichen 5% eine Ursache für den Tod nachweisbar wäre. Diese Nachweisbarkeit übersteigt jedoch möglicherweise derzeitige diagnostische Möglichkeiten."
Dies führt im Grunde zu dem Schluss:
"Wichtigstes Ergebnis dieser Arbeit ist der Schluss, dass der Plötzliche Säuglingstod in der bisher diskutierten Form vermutlich nicht existiert."
Das erschien mir zunächst als sehr kühne These, aber je länger ich drüber nachdachte, desto nachvollziehbarer fand ich den Gedanken. Ich stieß auf den Fakt (z. B. hier und hier), dass in Deutschland nur 50% aller SIDS-Todesfälle obduziert werden. Seit 2013 gibt es nun endlich auch in der offiziellen Todesursachen-Statistik eine Unterscheidung, ob ein SIDS-Fall nach erfolgter oder völlig ohne Obduktion vorliegt.
Im Jahr 2013 wurden etwa 59 % der SIDS-Fälle nicht obduziert, 2014 ca. 57 % aller Fälle. Im Jahr 2015 sank die Rate sogar auf 40 %. Allein diese Tatsache ist verwunderlich - wie kann denn der plötzliche Kindstod festgestellt werden, wenn es gar keine Obduktion gab, bei der andere Ursachen ausgeschlossen wurden?
Im Rahmen der oben genannten Dissertation wurde auch eine Totenscheinanalyse der SIDS-Kinder vorgenommen, zu der die Autorin anmerkt:
Im Jahr 2013 wurden etwa 59 % der SIDS-Fälle nicht obduziert, 2014 ca. 57 % aller Fälle. Im Jahr 2015 sank die Rate sogar auf 40 %. Allein diese Tatsache ist verwunderlich - wie kann denn der plötzliche Kindstod festgestellt werden, wenn es gar keine Obduktion gab, bei der andere Ursachen ausgeschlossen wurden?
Im Rahmen der oben genannten Dissertation wurde auch eine Totenscheinanalyse der SIDS-Kinder vorgenommen, zu der die Autorin anmerkt:
"Insgesamt zeigt diese Totenscheinanalyse, dass vermutlich vielen Ärzten nicht bekannt ist, dass es sich bei dem SIDS um eine Ausschlussdiagnose nach blander Obduktion handelt."
SIDS steht in Deutschland also durchaus ohne weitere Untersuchung auf Totenscheinen. Wenn nur etwa 50 % aller SIDS-Fälle obduziert werden - ist es offenbar also theoretisch möglich, dass von den 50% der Kinder, die nicht obduziert werden, bei 95 % doch noch ein Anhaltspunkt für eine andere Todesursache gefunden hätte werden können. Und, dass man - bei den 50 % der obduzierten Kinder - bei genauerer Untersuchung durchaus in ebenso vielen Fällen noch eine Ursache hätte finden können. Rein theoretisch wäre es also möglich, dass es 2012 nicht 131 "echte" SIDS-Fälle gab, sondern nur sechs bis sieben.
Die wenigsten SIDS-Fälle weltweit gibt es in den Niederlanden. Es wird davon ausgegangen, dass das Ergebnis von umfangreichen Aufklärungskampagnen ist. Die SIDS-Inzidenz (also die Häufigkeit je 1000 Lebendgeborenen) liegt dort bei 0,074 im Jahr 2012 - in Deutschland ist sie mehr als 2,5 mal so hoch (0,194). Man würde doch meinen, dass entsprechend auch die Sterblichkeitsrate deutlich geringer wäre (immerhin ist SIDS bei uns häufigste "Todesart") - doch tatsächlich ist sie in den Niederlanden höher als in Deutschland (3,73 vs. 3,51 je 1000 geborene Kinder). Interessanterweise werden in den Niederlanden nahezu alle Kindstode obduziert (wenn die Eltern nicht Einspruch erheben). Ganz offenbar wird bei ähnlicher Sterblichkeit durch die hohe Obduktionsrate häufig eine Todesursache gefunden, so dass nur noch eine Handvoll Fälle ungeklärt bleiben.
Für mich persönlich ist es daher durchaus nicht unwahrscheinlich, dass es bei den mittlerweile wenigen verbliebenen Fällen keine gemeinsame (und damit vermeidbare) Ursache für den Tod gibt und es sich schlicht um die Fälle handelt, bei denen nicht gründlich genug nach der Ursache gesucht wurde oder bei denen die Wissenschaft dazu schlicht noch nicht in der Lage ist.
Die Entwicklung der Fallzahlen und Aufklärungskampagnen
Was mich auch sehr nachdenklich gemacht hat, ist die Entwicklung der Fallzahlen. Wann immer man etwas über SIDS liest, wird immer auf das Jahr 1991 Bezug genommen. In diesem Jahr starben 1.285 Kinder, bei denen keine Todesursache feststellbar war. Im Jahr 2012 waren es "nur" noch 131 Kinder. Das ist eine Senkung der SIDS-Rate um 89,9%:
SIDS-Fälle in Deutschland von 1991 bis 2012 Quelle: www.gbe-bund.de |
Prof. Dr. med. Gerhard Jorch gilt als Vorreiter im Kampf gegen SIDS. Von 1990 bis 1994 führte er die westfälische Studie "Plötzlicher Säuglingstod" durch. Die Ergebnisse führten dazu, dass im Deutschen Ärzteblatt, Heft 48 vom 28.11.1991 darauf hingewiesen wurde, dass die Empfehlung, Babys auf den Rücken zu legen, in einigen Ländern zum Absenken der SIDS-Raten geführt hätten. Dies galt als allererster Vorstoß in die Richtung, nunmehr ausschließlich die Rückenlage zu empfehlen. Ende 1991 startete dann in Nordrhein-Westfalen eine Aufklärungskampagne - vorerst regional begrenzt.
Ich kann mir irgendwie wirklich sehr schwer vorstellen, dass der Artikel im Ärzteblatt (Ende 1991) dazu führte, dass diese Information innerhalb kürzester Zeit bei den Eltern der insgesamt 1.639.133 in den Jahren 1991/1992 geborenen Kinder angekommen ist und umgesetzt wurde, so dass der Einbruch der SIDS-Rate von 1991 zu 1992 damit zu erklären ist. Denn die Nachricht verbreitete sich eben nicht wie ein Lauffeuer - erst 1994 begann man beispielsweise in sächsischen Kliniken die Initiative "Gesunder Babyschlaf" - diese galt als Vorreiter für die SIDS-Risikofaktoren-Aufklärung. In einer Pressemitteilung anlässlich einer Expertentagung am 23./24.01.2004 zum Thema "Prävention des plötzlichen Säuglingstodes in Deutschland" wird der Tagungsleiter Prof.Dr.med.Ekkehart Paditz zitiert mit:
"Die sächsische Aufklärungskampagne „Gesunder Babyschlaf – Prävention des Plötzlichen Säuglingstodes“ macht Sachsen zu einem Vorbild in der Prävention des Plötzlichen Säuglingstodes. [...] Wäre die sächsische Konzeption deutschlandweit aufgegriffen worden, hätten allein im Jahr 2001 bundesweit 362 Babys gerettet werden können."
Wenn also schon die Arbeitsgruppe "Prävention des Plötzlichen Säuglingstodes" des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales sagt, dass 362 der 429 im Jahr 2001 gestorbenen SIDS-Kinder (also ca. 84 %) hätten gerettet werden können, wenn - wie beim Vorbild Sachsen - bundesweit aufgeklärt worden wäre, gehe ich davon aus, dass im Jahr 2001 der Rest Deutschlands im Grunde noch weitestgehend uninformiert war. Dennoch sollen die Aufklärungskampagnen dafür verantwortlich sein, dass von 1991 bis 2001 die SIDS-Fälle um 66,6 % sanken?
Sind die Kampagnen tatsächlich soooo unglaublich wirksam, wie es immer dargestellt wird? Ich bezweifele es ehrlich gesagt. Sachsens 1994-er Kampagne führte nicht zu einer Senkung der SIDS-Fälle (deutschlandweit) - im Jahr 1995 stieg die Inzidenz sogar erstmalig seit 1991 wieder an (von 0,97 auf 0,98). Ich hatte ja oben geschrieben, dass die erste bundesweite Kampagne 2004 begann. Wirft man einen Blick auf die Zahlen, dann sieht man, dass in den Jahren 2004 und 2005 exakt genau so viele Kinder starben (323) - die Inzidenz stieg sogar zum zweiten (und letzten) Mal wieder (0,457752 auf 0,470986). Wenn also nicht mal eine bundesweite Kampagne innerhalb eines Jahres Wirkung zeigt, dann möchte ich noch mehr bezweifeln, dass der Jorch-Artikel im Ärzteblatt einen solch durchschlagenden Erfolg hätte haben sollen, dass die Todesrate um 28 % sank.
Auch Paky und Kytir (1996) berichten in einer Untersuchung, dass es mehrfach eine von Aufklärungskampagnen vollkommen losgelöste Umkehr der SIDS-Dynamik gab - in England gab es die meisten Todesfälle 1988 - danach sanken die Zahlen - die Aufklärungskampagne begann jedoch erst 1991. Selbiges war in den Niederlanden zu beobachten - die Fälle wurden seit 1985 weniger - die Kampagne begann jedoch erst 1987. Auch in Norwegen (88/90), Österreich/Steiermark (85/89) und Neuseeland (87/89) trat dieses Phänomen auf. Es ist also nicht so, dass die SIDS-Zahlen erst mit Beginn der Aufklärungskampagnen sanken. Das geschah in einigen Fällen unabhängig davon, wodurch ein direkter Zusammenhang durchaus diskutierbar wäre.
Sind die Kampagnen tatsächlich soooo unglaublich wirksam, wie es immer dargestellt wird? Ich bezweifele es ehrlich gesagt. Sachsens 1994-er Kampagne führte nicht zu einer Senkung der SIDS-Fälle (deutschlandweit) - im Jahr 1995 stieg die Inzidenz sogar erstmalig seit 1991 wieder an (von 0,97 auf 0,98). Ich hatte ja oben geschrieben, dass die erste bundesweite Kampagne 2004 begann. Wirft man einen Blick auf die Zahlen, dann sieht man, dass in den Jahren 2004 und 2005 exakt genau so viele Kinder starben (323) - die Inzidenz stieg sogar zum zweiten (und letzten) Mal wieder (0,457752 auf 0,470986). Wenn also nicht mal eine bundesweite Kampagne innerhalb eines Jahres Wirkung zeigt, dann möchte ich noch mehr bezweifeln, dass der Jorch-Artikel im Ärzteblatt einen solch durchschlagenden Erfolg hätte haben sollen, dass die Todesrate um 28 % sank.
Auch Paky und Kytir (1996) berichten in einer Untersuchung, dass es mehrfach eine von Aufklärungskampagnen vollkommen losgelöste Umkehr der SIDS-Dynamik gab - in England gab es die meisten Todesfälle 1988 - danach sanken die Zahlen - die Aufklärungskampagne begann jedoch erst 1991. Selbiges war in den Niederlanden zu beobachten - die Fälle wurden seit 1985 weniger - die Kampagne begann jedoch erst 1987. Auch in Norwegen (88/90), Österreich/Steiermark (85/89) und Neuseeland (87/89) trat dieses Phänomen auf. Es ist also nicht so, dass die SIDS-Zahlen erst mit Beginn der Aufklärungskampagnen sanken. Das geschah in einigen Fällen unabhängig davon, wodurch ein direkter Zusammenhang durchaus diskutierbar wäre.
Es gibt Untersuchungen, wonach das Sinken der SIDS-Zahlen teilweise auch durch eine Verschiebung in der Todesartklassifizierung begründet liegen. Ich habe mir das mal für die deutschen Zahlen angesehen. Betrachtet man da insbesondere die letzten Jahre, dann fällt schon auf, dass das Sinken der SIDS-Zahlen (R95 - orange Linie) teilweise mit einem Anstieg der Todesfälle in den Kategorien R98 und R99 ("Sonstige ungenau oder nicht näher bezeichnete Todesursachen" - rote Linie) einher geht:
Verlauf der Inzidenzen für SIDS R95 (orange) und R98/99 (rot) von 2002 bis 2012 Quelle: www.gbe-bund.de |
Ich hatte ja oben schon geschrieben, dass in den Präventionskampagnen ab 1991 neben Vermeidung der Bauchlage und dem Rauchen auch vor allem auf die Verwendung von Schlafsack und die Nichtverwendung von Himmel, Nestchen und Kuscheltieren abzielen. Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Todesfälle durch Ersticken im Bett. Wie man sieht, erstickten 1980 noch über 140 Kinder jährlich im Bett - innerhalb von 5 Jahren halbierte sich die Zahl schon. Auch ohne Aufklärungskampagne sank die Zahl der Erstickungstode um insgesamt 80 % bis 1991. Zwischen 1989 und 1991 nahm die Zahl wieder zu - inwieweit die mit der Wende verbundene Unsicherheit zu vermehrten verdeckten Kindstötungen geführt hat, kann spekuliert werden. Danach jedenfalls blieb die Zahl der Todesfälle (trotz der Kampagnen für Schlafsäcke und gegen Nestchen) im Grunde konstant.
Todesfälle durch Ersticken in Bett oder Wiege (ICD-9 E913, ICD-10 W75) Quelle: www.gbe-bund.de |
Bauchlage und SIDS
Ich möchte gerne kurz exemplarisch auf die Bauchlage als Risikofaktor eingehen. Die einheitlichen Darstellungen zu SIDS lauten grob gefasst: Anfang der 90er wurden durch Aufklärungskampagnen die Kinder nicht mehr - wie vorher empfohlen - auf den Bauch gelegt, sondern die Rückenlage setzte sich durch. Dadurch sollen die SIDS-Zahlen deutlich gesunken sein.
Wenn dem tatsächlich so wäre - wie sahen wohl die SIDS-Zahlen vor 1991 aus? Sagen wir mal - 1980, als die Erhebung begann? Ich war ein 78-er Kind und weiß von meinen Eltern, dass die Bauchlage wegen der vermeintlichen Aspirationsgefahr bevorzugt wurde. Und dass viele Eltern - meine auch - in der Wohnung regelmäßig rauchten (der zweite wesentliche Risikofaktor für SIDS). Gestillt wurde ich auch nicht - die Stillquote war in den 80ern sehr gering. Die drei Haupt-Risikofaktoren Bauchlage, Rauchen und Nicht-Stillen waren also deutlich verbreiteter, als 12 Jahre später im Jahr 1992 - dem Jahr nach dem eindrucksvollen Absturz der Todesfallzahlen. Da liegt natürlich die Vermutung nahe, dass die SIDS-Zahlen zuvor noch deutlich höher gewesen sein müssen. Wenn denn ein unmittelbarer Zusammenhang bestünde.
Zur Erinnerung: 1991 waren es 1.285 Kinder (Inzidenz 1,54), bei denen SIDS diagnostiziert wurde. Im Jahr 1980 starben jedoch "nur" knapp halb so viele - nämlich insgesamt 662 Kinder (Inzidenz 0,76). Eine solch niedrige Inzidenz wie 1980 wurde erst wieder 18 Jahre später (!) - 1998 erreicht. Nach Beginn der angeblich alles verändernden Aufklärungskampagnen dauerte es also noch 7 Jahre, bis sich die Todeszahlen vom Höhepunkt 1991 wieder auf den Stand von 1980 (etwa) halbierte:
SIDS-Fälle in Deutschland von 1980 bis 2012 Quelle: www.gbe-bund.de |
Ist das nicht über alle Maßen seltsam? Warum sterben 1980 häufig zugequalmt, bauchgebettet und weitgehend ungestillt genauso viele Kinder, wie nach 7 Jahren Aufklärungskampagnen? Da kann sich durchaus fragen, ob die SIDS-Quote tatsächlich wegen der Rückenschläferkampagne sank oder ob beides schlicht zeitlich zusammenfiel.
Nun mag man einwenden: Es gibt doch sooo viele Studien, die belegen, dass die Bauchlage ein eindeutiger Risikofaktor ist. Das Problem ist nur, dass deswegen nicht wirklich ein Zusammenhang bestehen muss. Studien belegen auch, dass alleinerziehende Mütter, ein arbeitsloser Partner, ein niedriger sozialer Status oder sogar das nichteheliche Zusammenleben das SIDS-Risiko erhöhen. Das heißt aber nichts anderes, als dass in diesen Fällen SIDS statistisch einfach häufiger vorkommt - das heißt aber nicht, dass es eine Ursache für SIDS sein muss. Selbiges trifft auch auf die Bauchlage zu. Schaut man sich die Studien mal an (hier - um Dokument weiter unten gibt es einen Überblick), stellt man fest, dass der vermeintliche Einfluss der Bauchlage doch sehr, sehr unterschiedlich hoch ermittelt wurde - die Odds Ratio liegt zwischen 1,2 und 12,5.
Wissenschaftliche Untersuchungen haben Grenzen - da gibt es beispielsweise Untersuchungen, die belegen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Zahl der Storchenpaare und der Zahl der Kindergeburten in einer Region gibt. Wen das genauer interessiert, der kann es hier nachlesen. Ein nachweisbarer statistischer Zusammenhang von zwei Faktoren bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie einander ursächlich beeinflussen. Das nennt man auch Scheinkorrelation, da kein unmittelbarer Zusammenhang besteht.
Vergleicht man mal die Entwicklung der Bauchschläferquote in verschiedenen Ländern (aus dieser Quelle - siehe auch die untere Tabelle), sieht man bspw., dass sie in Schweden von 42% auf 19% sank - die SIDS-Inzidenz sank von 1,1 auf 0,4. In Deutschland schliefen statt 38% nur noch 9% der Kinder auf dem Bauch - die Inzidenz sank jedoch nur von 1,6 (was schon trotz ca. gleicher Ursprungsquoten eine um 45% höhere Inzidenz ist) auf 0,9 - immer noch doppelt so hoch wie in Schweden, obwohl dort nach der Aufklärungskampagne noch doppelt so viele Kinder auf dem Bauch schlafen, wie bei uns.
Auch in den USA schliefen statt 70 % nur noch 24% auf dem Bauch - das sind immerhin noch mehr als 2,5 mal so viele wie hier - die Inzidenz ist mit 0,8 jedoch trotzdem geringer, als in Deutschland. In England schliefen 1995 nur noch 8 % statt 59 % der Kinder auf dem Bauch - die Inzidenz sank von 3,5 auf 1,7 - in Deutschland ist bei vergleichbarer Bauchschläferquote die Todesrate nur halb so hoch.
Werfen wir noch einen Blick auf die Entwicklung der Bauchschläferquote in Deutschland: 1990 wurden 42 % der Kinder in Bauchlage gebettet, 1994 waren es 15 %, 2004 waren es nur noch 8 %. Doch die Bauchschläferquote steigt wieder leicht - 2012 ergaben Befragungen (hier und hier), dass sie bei den 3-monatigen Babys 11% beträgt.
Das ist ein sehr interessanter Verlauf. Die Bauchschläferquote sank von 1990 bis 1994 um 27 Prozentpunkte von 42 auf 15 %. Im gleichen Zeitraum sank die SIDS-Quote um 58,2 %. In den folgenden 10 Jahren sank die Bauchschläferquote nur noch um 7 weitere Prozentpunkte (was nur noch ein Viertel der vorherigen Senkung ist) auf 8% - die SIDS-Fälle wurden jedoch nochmals 43,2 % weniger in dem Zeitraum. Nach 8 Jahren stieg die Bauchschläferquote gar wieder um drei Prozentpunkte (um immerhin 37,5 %) auf 11 % - die SIDS-Inzidenz verringerte sich jedoch im gleichen Zeitraum um weitere 59,4 %.
Kurz gefasst könnte man feststellen: nachdem 64,3 % weniger Kinder auf dem Bauch schliefen, sank die SIDS-Inzidenz um 58,2 %. Nachdem 37,5 % mehr Kinder auf dem Bauch schliefen, sank die SIDS-Inzidenz um 59,4 %. Das ist nun zugegeben weder mathematisch noch wissenschaftlich sehr sauber, aber inhaltlich korrekt. Es zeigt, wie Statistiken und Daten verzerrt sein können. Würde man jetzt eine Studie über die Jahre 2004 bis 2012 machen, würde diese ergeben, dass die SIDS-Rate deutlich sank, nachdem wieder mehr Kinder auf dem Bauch schliefen.
Ich will mit meinen Ausführungen nicht sagen, dass die Bauchlage keinen Einfluss, auf Todesfälle ohne erkennbare Ursache hat. Ich will lediglich aufzeigen, dass es nur sehr begrenzte Aussagekraft hat, den zeitlich Verlauf zweier Faktoren in einen Zusammenhang zu bringen. Wenn man die Wahl hat, sollte man sich im Zweifel immer an die Empfehlungen halten - aber es gibt Kinder, die schlafen schlicht nicht auf dem Rücken. Und ich denke, dass man deswegen keine schlaflosen Nächte haben muss.
Rauchen und SIDS
Auch bezüglich des Rauchens gibt es in den letzten Jahren eine Entwicklung, die darauf schließen lässt, dass Rauchen und SIDS nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben müssen - 1996 gaben bspw. nur 5,5% der Frauen an, in der Schwangerschaft geraucht zu haben - 2010 waren es mehr als dreimal so viele (17,9 %). Dennoch sank die Zahl der SIDS-Fälle im gleichen Zeitraum um 76,3 %. Zwischen Mitte der 80er und Anfang der 90er rauchten 21% der Schwangeren - die Zahl der SIDS-Fälle war 1980 jedoch genauso hoch, wie 1996 trotzdem die Zahl der rauchenden Schwangeren bis dahin um 74% gesunken war. Untersuchungen belegen, dass auch die Belastungen durch Passivrauchen für Kinder zwischen den 1990er-Jahren und 2006 sogar ärgerlicherweise zugenommen hat - dennoch sind die SIDS-Quoten im selben Zeitraum um 76% gesunken.
Um das ganz klar zu sagen: Ich will hier keinesfalls das Rauchen verharmlosen - erst recht nicht in der Schwangerschaft oder mit Kindern im Haushalt (ich bin ziemlich militanter Ex-Raucher). Die Gefahr durch Tabakrauch darf keinesfalls unterschätzt werden. Eine Vielzahl von Studien ergibt, dass es keine unbedenkliche Wirkungsschwelle für Tabakrauch gibt. Auch kleinste Mengen, die sich auf Kleidung, Haaren, Böden oder Wänden ablagern, sind potenziell gesundheitsgefährdend sein. Es geht mir hier lediglich darum, zu zeigen, dass die Aufklärungskampagnen nicht zwangsläufig im Zusammenhang mit dem Rückgang der SIDS-Fälle zu betrachten sein müssen, da sie einen der größten Risikofaktoren offenbar wenig beeinflusst haben und dennoch deutlich weniger Kinder sterben.
Fazit
In Bezug auf das bisher Zusammengefasste kann man sich schon fragen, ob nun tatsächlich ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Risikofaktoren und dem plötzlichen Kindstod besteht. Auch andere Zusammenhänge lassen einen doch schwer grübeln.
Die Niederlande haben beispielsweise eine deutlich niedrigere SIDS-Rate, als Deutschland. Schaut man sich Befragungen an, stellt man fest, dass dort nur 14,6% der Kinder vollgestillt werden - in Deutschland sind es nach der Geburt 61,9% und nach 3 Monaten noch 34,4 %. Geraucht wird in 70 % der Haushalte in beiden Ländern nicht. Zwar schlafen in den Niederlanden nur 3,1 % der Kinder auf dem Bauch (Deutschland 3-monatige Babys 11,2 %) - aber im eigenen Zimmer schlafen in den Niederlanden 81,2% der Kinder - bei uns sind das 39,4 % der Neugeborenen und 49,6 % der 3-monatigen Babys. Dabei lautet die offizielle Empfehlung bei uns, dass die Kinder im ersten Jahr aus Präventionsgründen bei den Eltern schlafen sollen. In Deutschland schlafen 81,2 % der Neugeborenen im Schlafsack und sogar 84,7 % im Alter von 3 Monaten. In den Niederlanden sind das gerade mal 19,6 % der Kinder. Dort werden 63,8 % der Kinder zusätzlich mit einer Decke zugedeckt. Dennoch war die SIDS-Inzidenz bei uns im Jahr 2011 um 269 % höher.
Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Ich sage nicht, dass es keinen Zusammenhang zwischen den bisher vermeintlich durch Studien belegten Risikofaktoren und dem plötzlichen Kindstod gibt. Unabhängig von der Frage, wie einflussstark die einzelnen Präventionsmaßnahmen nun wirklich sind - es schadet in keinem Falle, sie umzusetzen. Ich bezweifle jedoch dass der Zusammenhang so gravierend ist, dass man als Mutter eines Bauchschläferkindes schlaflose Nächte hat, weil das Kind partout nicht auf dem Rücken schlafen will.
Für mich erscheint es nachvollziehbar, dass nicht die Zahl der Todesfälle "durch SIDS" sinkt, sondern sich einfach die Möglichkeiten, die Todesursachen zu entdecken kontinuierlich verbessern. Mit den heutigen Möglichkeiten, hätten vielleicht vor 20 Jahren auch schon bei einer Vielzahl der Todesfälle die Ursache aufgedeckt werden können. Es liegt auch in der Natur der Sache, dass niemals alle Todesfälle vollständig aufgeklärt werden können - derzeit liegt die Quote von Todesfällen mit unklarer Ursache in der SIDS-relevanten Zeit (zweiter bis zwölfter Lebensmonat) bei rund 18,07 % - 1991 waren das noch 45,73 %.
Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Ich sage nicht, dass es keinen Zusammenhang zwischen den bisher vermeintlich durch Studien belegten Risikofaktoren und dem plötzlichen Kindstod gibt. Unabhängig von der Frage, wie einflussstark die einzelnen Präventionsmaßnahmen nun wirklich sind - es schadet in keinem Falle, sie umzusetzen. Ich bezweifle jedoch dass der Zusammenhang so gravierend ist, dass man als Mutter eines Bauchschläferkindes schlaflose Nächte hat, weil das Kind partout nicht auf dem Rücken schlafen will.
Für mich erscheint es nachvollziehbar, dass nicht die Zahl der Todesfälle "durch SIDS" sinkt, sondern sich einfach die Möglichkeiten, die Todesursachen zu entdecken kontinuierlich verbessern. Mit den heutigen Möglichkeiten, hätten vielleicht vor 20 Jahren auch schon bei einer Vielzahl der Todesfälle die Ursache aufgedeckt werden können. Es liegt auch in der Natur der Sache, dass niemals alle Todesfälle vollständig aufgeklärt werden können - derzeit liegt die Quote von Todesfällen mit unklarer Ursache in der SIDS-relevanten Zeit (zweiter bis zwölfter Lebensmonat) bei rund 18,07 % - 1991 waren das noch 45,73 %.
Ich bin der festen Überzeugung, dass kein gesundes Kind "einfach so" stirbt - jeder Tod hat eine medizinische Ursache (auch wenn ihn das nicht weniger tragisch macht). Und dass die Ursachen immer zuverlässiger erkannt (und damit zukünftig ggf. besser beeinflusst werden können), das sollte uns Zuversicht geben und uns der "Angst vor SIDS" möglichst rational entgegen treten lassen. Kinder sterben nicht "an SIDS".
© Danielle
© Danielle
Quellen
Alle statistischen Angaben zu den Todeszahlen können nachvollzogen werden unter www.gbe-bund.de - als Suchbegriff dient die ICD-9 bzw. ICD-10-Klassifizierung.
Bitzer, Walter, Lingner, Schwartz: Kindergesundheit stärken, Springer, 2009
Kahn, A., Sawaguchi, T., Sawaguchi, A. et al.: Sudden Infant deaths: from epidemiology to physiology, Forendsic Sci Int. 2002, 130 (suppl), S. 8 - 20
http://edoc.ub.uni-muenchen.de/1872/1/Zinka_Bettina.pdf
https://www.dkfz.de/de/tabakkontrolle/download/Publikationen/RoteReihe/Frauen_und_Rauchen_Band_9.pdf
Zuletzt aktualisiert am 10.02.2016