Welche Auswirkungen können elektronische Spiele auf das kindliche Gehirn haben?
 Im ersten Teil dieser Serie habe ich erklärt, wie Kinder lernen und wie Handyspiele auf das Gehirn wirken. Allerdings ist nicht alles, was Computerspiele, Konsolen und Apps betrifft, 
eitel Sonnenschein. Natürlich gibt es an der Sache auch einen (oder auch
 mehrere) Haken. Einer davon ist die Entwicklung des Gehirns. Genauer 
gesagt, das aufbauende Training des präfrontalen Cortex.
Im ersten Teil dieser Serie habe ich erklärt, wie Kinder lernen und wie Handyspiele auf das Gehirn wirken. Allerdings ist nicht alles, was Computerspiele, Konsolen und Apps betrifft, 
eitel Sonnenschein. Natürlich gibt es an der Sache auch einen (oder auch
 mehrere) Haken. Einer davon ist die Entwicklung des Gehirns. Genauer 
gesagt, das aufbauende Training des präfrontalen Cortex. Die Ausbildung der Selbstkontrolle wird durch Spiele oft nicht trainiert
Ich habe das schon ausführlich in unserem Artikel über die Tyrannenkinder beschrieben - der präfrontale Cortex ist unser wichtigstes Werkzeug, um unsere Impulse steuern zu können. Er ist aber auch für unsere Aufmerksamkeitsfokussierung, unsere soziale Intelligenz und für die Planung unserer Zukunft eminent. Nur ist dieser Teil des Gehirns bei der Geburt noch nicht ausgereift - seine neuronalen Bahnen müssen erst ein paar Jahre lang geprägt werden. Das geschieht automatisch, wenn die das Kind umgebenden Menschen authentische Reaktionen und ihre persönlichen Grenzen zeigen, wenn es Ursache-Wirkungs-Experimente durchführen kann, wenn das Kind in natürlichem Setting abwarten muss, wenn es scheitern und fallen darf, aber dabei immer wieder hinterher von seinen Bindungspersonen tröstend empfangen wird.
Besonders Abwarten, Beharrlichkeit und Sich-Selbst-Zurücknehmen sind Tugenden, die dringend erlernt werden müssen, damit ein Kind im Leben und in der Gesellschaft bestehen kann. Im freien Spiel werden sie automatisch und nebenbei trainiert. Möchte ein Kind z. B. eine Wasserrutsche heruntersausen, muss es mitunter, wenn das Freibad sehr voll ist, zehn Minuten an der Treppe warten, bis es an der Reihe ist. Ein Kleinkind, das einen Turm bauen will, muss dies immer und immer wieder tun, bis er endlich stehen bleibt. Beim Mutter-Vater-Kind-Spiel müssen alle Beteiligten Rücksicht auf die Spielwünsche der anderen und somit sich selbst ein wenig zurück nehmen, sonst macht das Spiel bald keinen Spaß mehr und die Spielgruppe löst sich auf.
Computerspiele
 und Apps dagegen trainieren meist die schnelle, automatisch ablaufende Reaktion auf Reize. Allenfalls die Beharrlichkeit wird geübt,
 wenn ein Kind im Computerspiel wieder und wieder eine bestimmte Sequenz
 spielt, bevor es die gestellte Aufgabe meistert. In der App Mia and Me -
 Rettet die Einhörner z. B. muss das Kind zunächst genügend goldene 
Noten einsammeln, bevor es im Spiel weitergehen darf.  Das Spiel gehört 
zur Kategorie "Jump  'n' Run", d. h. der Spieler muss gleichzeitig ein 
Einhorn steuern, Federn zum Fliegen einsammeln, über Hindernisse 
springen und auf verlorene Ringe achten. Das alles geschieht nach einer 
kurzen Übungsphase quasi intuitiv, d. h. nicht der präfronale Cortex 
wird gebraucht, sondern vor allem sein Antagonist, das Basissystem.  
Prof. Dr. med. Joachim Bauer, Neurobiologe und Psychotherapeut schreibt 
dazu: 
"Pauschale Verurteilungen der modernen Medien haben keinen Sinn. Mit Blick auf die Entwicklung der exekutiven Funktionen ist das, was Kinder und Jugendliche bei Computerspielen, in sozialen Netzwerken oder beim ziellosen Surfen im Internet tun, allerdings wenig hilfreich, im Gegenteil. Gefragt sind in den modernen Medien schnelle Reaktionen auf Reize, nicht aber für die Entwicklung der Selbststeuerung so wichtige Innehalten und das Reflektieren von Wahlmöglichkeiten. Trainiert wird mit dem modernen Medien viel zu sehr das Go, die schnelle wie automatisch ablaufende Reaktion, und viel zu wenig das No, also das Innehalten und Nachdenken" [Bauer, J., 2015, S. 66].Dass das Basissystem "trainiert" wird, ist nicht per se schlimm oder schädlich. Auch hier macht die Dosis das Gift. Solange Kinder den größten Teil des Tages offline sind, sich draußen an der frischen Luft frei bewegen und mit anderen im freien Spiel versinken können, schaden Apps und Co nicht. Schwierig allerdings wird es, wenn dieser Gegenentwurf, also das freie Spiel und das Draußensein, zu gering ausfällt. Bei der Entwicklung des Gehirns, also auch beim Trainieren des präfrontalen Cortex, gilt nämlich das Motto: "Use it, or loose it."
Ein
 Baby wird geboren mit einer Überzahl an neuronalen Bahnen - einige 
davon werden von seiner Umwelt und den Menschen darin angesprochen und 
zum "Klingen" gebracht, diese verstärken sich. Andere, die nicht 
adressiert werden, verkümmern gewissermaßen [vgl., Hüther, G., Hauser, 
U., 2012: 46f]. Ein Neugeborenes zum Beispiel, das aufgrund einer 
Netzhautrübung blind auf die Welt kommt, und nicht in der frühen 
Kindheit am Auge operiert wird (in sogenannten Dritte-Welt-Ländern kommt
 dies noch viel zu häufig vor), wird trotz alledem blind bleiben, auch, 
wenn die Sehfunktionalität durch die OP wiederhergestellt wurde [vgl. 
Hubel, 1989, S. 198].
Auch
 beim Spracherwerb gibt es eine solche kritische Phase in den ersten 
Lebensjahren. Kommen Kinder erst danach mit Sprache in Berührung, lernen
 sie nie wieder eine Sprache flüssig, selbst wenn sie intensiven 
Sprachunterricht erhalten [vgl. Olah, Annegret, 1999, S. 66]. Kinder, 
die im Alter zwischen 2 und 10 Jahren im freien Spiel und in Beziehung 
zu anderen ihre Impulskontrolle und Selbststeuerung nicht 
genügend trainieren können, werden immer sprunghaft auf äußere Reize 
reagieren, schlecht planen oder sich nicht in eine Gruppe 
einordnen können, weil die Nervenbahnen in der kritischen Phase nicht 
genügend trainiert wurden und deshalb verkümmerten [vgl. Bauer, J., 
2015, 22].
Doch
 nicht nur das. Selbst bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, bei 
denen der präfrontale Cortex schon gut entwickelt ist, kann ein 
übermäßiger Konsum der Neuen Medien zu Problemen führen. Wird immer 
wieder das faule Basissystem des Gehirns angesprochen und trainiert, 
geht der präfrontale Cortex quasi in den Ruhemodus. Doch welche 
Auswirkungen hat das? 
Aggressive Impulse können möglicherweise nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden
Wird
 eine Schlange auf irgendeine Art und Weise geärgert, schnappt sie 
instinktiv zu. Ihr Reptiliengehirn reagiert mit ungebremster Aggression 
auf einen Stressor. Auch wir Menschen haben noch ein "Reptiliengehirn" -
 das Basissystem. Auch wir haben, wenn uns jemand ärgert, zunächst 
einmal den Impuls, zurückzuschlagen oder verbal ausfällig zu werden. Uns
 unterscheidet allerdings der Fakt, dass unser Gehirn eine 
Kontrollschleife eingebaut hat, den präfrontalen Cortex. Der aggressive 
Impuls, den wir verspüren, durchläuft also zunächst unsere 
Kontrollschleife. Dort wird, aufgrund vorangegangener Erfahrungen, 
abgewägt, inwiefern es sinnvoll ist, zu schlagen oder zu motzen. Der 
präfronale Cortex hält also unsere animalischen Impulse unter Kontrolle.
Ist
 dieser allerdings durch zu viel Konsum der Neuen Medien "eingeschlafen"
 (oder wurde gar nicht erst richtig trainiert), ist er nicht mehr 
arbeitsfähig. Unsere aggressiven Impulse bleiben unkontrolliert. Konkret
 heißt das: Ein Kind, das zu viel am Computer spielt, reagiert unwirsch,
 mürrisch oder sogar aggressiv, wenn es aufgefordert wird, nun das Spiel
 zu beenden. Es wird dafür kämpfen, manchmal auch durch Hauen, Kneifen 
oder Treten, weiterspielen zu können.
Es
 ist also nicht ganz richtig, dass den Neuen Medien vorgeworfen wird, 
sie "machen aggressiv". Die Aggressivität ist schon in uns - die Neuen 
Medien schalten nur die Kontrollschleife (d. h. den 
präfrontalen Kortex) aus. Was allerdings stimmt ist, dass Computer- oder
 Konsolenspiele und Apps die Schwelle der Gewaltbereitschaft der 
Menschen sinken lässt. Das ist nicht schwer zu erklären.
Wir Menschen lernen viel über Beobachtung. Unsere im Gehirn vorhandenen Spiegelneuronen nehmen unwillkürlich alle Informationen aus unserer Umgebung auf und speichern diese als "Normalzustand" ab. Spielt nun ein Mensch wieder und wieder Baller- und Killerspiele, bleibt das im Gehirn nicht unbemerkt. Die Spiegelneuronen des Gehirns nehmen das Abknallen und das Blutspritzen als Normalzustand auf, der Mensch stumpft ab und seine Schwelle zur Gewalt sinkt.
Die Hemmschwelle gegenüber Gewalt könnte sinken
Wir Menschen lernen viel über Beobachtung. Unsere im Gehirn vorhandenen Spiegelneuronen nehmen unwillkürlich alle Informationen aus unserer Umgebung auf und speichern diese als "Normalzustand" ab. Spielt nun ein Mensch wieder und wieder Baller- und Killerspiele, bleibt das im Gehirn nicht unbemerkt. Die Spiegelneuronen des Gehirns nehmen das Abknallen und das Blutspritzen als Normalzustand auf, der Mensch stumpft ab und seine Schwelle zur Gewalt sinkt.
Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass alle Menschen, die Ballerspiele spielen, Amokläufer werden! Zu diesem Schritt gehören dann noch eine Menge anderer äußerer und innerer Umstände! Es bedeutet aber, dass ein Mensch, dem in der Vergangenheit sehr viel Leid und Unrecht widerfahren ist und der diese Erfahrungen in seinem Inneren angesammelt hat, wie kleine spitze Nägel, eher Amok laufen wird, wenn er vorher vermehrt aggressive Spiele gespielt hat. Ein Mensch dagegen, der keine demütigenden oder traumatischen Erinnerungsspuren in sich trägt, bzw. solche Erlebnisse sofort mit einer vertrauten Person aufarbeiten und somit überwinden konnte, wird eher nicht Amok laufen, auch wenn er noch so viele Ballerspiele konsumiert.
"Aus neurobiologischer Sicht ist der Zusammenhang absolut klar: Das Gehirn ist ein permanent lernendes System. Es macht ausgerechnet dann, wenn es um die für Jugendliche überaus spannende und brisante Darbietung von Gewaltverhalten geht, keine Lernpause. Was wir sehen - dies ist die zentrale Botschaft der Spiegelneuronenforschung-, wird in Nervenzellnetze eingeschrieben, die Programme für eigene Handlungsmöglichkeiten kodieren. Sicher: Etwas zu sehen bedeutet nicht, die gesehene Handlung auch selbst auszuführen. Dazu sind noch weitere Faktoren erforderlich. Was wir an Handlungen sehen, wird jedoch als Modell abgespeichert, und es erzeugt, wenn es als Aktion in einem angenehmen, amüsanten oder nützlichen Zusammenhang erscheint [beim Spielen tut es das ja], Handlungsbereitschaften" [Bauer, J., 2006, S. 121f].Auch Menschen, die sich im Internet in geschlossenen Gruppen treffen, in denen dem Hass z. B. gegen Ausländer offen gefrönt wird, entwickeln irgendwann eine niedrigere Hemmschwelle gegenüber Straftaten, die gegen ebendiese Ausländer begangen werden. Wenn also Otto Normalverbraucher jeden Tag in seiner Filterbubble bei Facebook liest, dass andere, ihm gleichgesinnte, Menschen schreiben, "die Ausländer die unsere Frauen vergewaltigen" und "unsere Arbeit wegnehmen" und deshalb "abgeknallt oder abgefackelt gehören", nehmen seine Spiegelneuronen diese Gedanken als Normalzustand an. Er denkt wirklich, dass die Mehrheit der Deutschen so denken - natürlich bis auf die linksverdrehten, verblendeteten Gutmenschen. Den Schritt, dann nach draußen zu treten und ein Ausländerheim anzuzünden, tun nicht viele (wie bei den Ballerspielen und den Amokläufern), aber die, die es tun, denken, dass sie der Gesellschaft einen Gefallen tun und es gut und richtig ist, was sie machen. Sie fühlen sich im Recht und erwarten von der Gesellschaft Beifall, weil sie etwas gegen die "Feinde" gemacht haben.
Eigentlich
 sind Spiegelneurone eine fantastische Idee der Natur, die uns Menschen 
ermöglicht, als Babys und Kinder energieeffizient genau das zu erlernen,
 was wir in der Gesellschaft, in der wir leben, brauchen, um uns gut zu 
entwickeln. Ein Kind, das im Dschungel aufwächst, lernt etwas anderes, 
als eines, das im ewigen Schnee oder in einer Großstadt lebt, weil es 
die Menschen in seiner Umgebung beobachtet und imitiert - und das ist 
auch gut so. Problematisch wird dieses Supertool unseres Gehirns erst, 
wenn die Umwelt (Neue Medien mit eingeschlossen) empathielos und voller 
Hass und Gewalt ist. Aufgabe der Eltern ist es deshalb, eng 
mitzuverfolgen, welche Art von Spiele unsere Kinder konsumieren, und wie
 der allgemeine menschliche Umgang miteinander in Familie und Schule 
ist. Gegebenenfalls müssen sie dann an dieser Stelle richtungsweisend 
eingreifen.
Dass es süchtige Menschen gibt, auch spiel- oder internetsüchtige, ist unbestritten. Es gibt genügend wissenschaftlich fundierte Zahlen, die das belegen. So surfen zum Beispiel etwa 560.000 Erwachsene in Deutschland, also rund 1 % aller Deutschen zwischen 14 und 65 Jahren, mehr als 35 Stunden wöchentlich und täglich bis zu 12 Stunden im Internet. Rund 6 % sind akut suchtgefährdet, d. h. ihr Konsum liegt nur wenig unter der Zeit, die eine "echte" Abhängigkeit ausmacht [te Wildt, B.T.: Nicht substanzgebundene Abhängigkeit - Verhaltenssüchte. Psychother. Psych. Med. 64: 151-160 (2014)].
Suchtverhalten könnte entstehen
Dass es süchtige Menschen gibt, auch spiel- oder internetsüchtige, ist unbestritten. Es gibt genügend wissenschaftlich fundierte Zahlen, die das belegen. So surfen zum Beispiel etwa 560.000 Erwachsene in Deutschland, also rund 1 % aller Deutschen zwischen 14 und 65 Jahren, mehr als 35 Stunden wöchentlich und täglich bis zu 12 Stunden im Internet. Rund 6 % sind akut suchtgefährdet, d. h. ihr Konsum liegt nur wenig unter der Zeit, die eine "echte" Abhängigkeit ausmacht [te Wildt, B.T.: Nicht substanzgebundene Abhängigkeit - Verhaltenssüchte. Psychother. Psych. Med. 64: 151-160 (2014)].
Der
 Mechanismus, der hinter dieser Sucht steckt, lässt sich wiederum 
mit neurologischen Eigenheiten des Gehirns erklären. Ich habe das im Artikel über den Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen
 schon ausführlich dargestellt. Kurz gefasst ist es so, dass alle 
Menschen dieser Welt bestimmte Grundbedürfnisse haben, wie z. B. 
wertgeschätzter Teil einer Gemeinschaft zu sein, ein erreichbares Ziel 
für die Zukunft zu haben, emotional mit jemandem verbunden zu sein und 
so geliebt zu werden, wie man ist, ohne sich verstellen zu müssen. Sind 
diese (und andere) Grundbedürfnisse erfüllt, schüttet das Gehirn 
Dopamine aus, und der Mensch ist glücklich und gesund. 
Fehlt
 jedoch etwas Wichtiges im Leben eines Menschen, d. h. sind nicht alle 
Grundbedürfnisse ausreichend befriedigt, entwickelt er Strategien, um 
sie zu erfüllen. Sagen wir, eine junge Erstlingsmutter fühlt sich 
plötzlich isoliert - ihre Freundinnen haben alle noch keine Kinder und 
verstehen nicht, dass sie nun nicht mehr spontan über ihre Freizeit 
entscheiden kann. Ihr Grundbedürfnis, Teil einer Gemeinschaft zu sein, 
ist nicht mehr erfüllt, weil sie nicht mehr mit ihren alten Freundinnen 
um die Häuser ziehen kann. Nun entwickelt die junge Mutter Strategien, 
um aus ihrer Isolation herauszukommen. Vielleicht meldet sie sich in 
einer Krabbelgruppe an, um dort andere junge Mütter zu treffen und 
bestenfalls einen neuen Freundeskreis aufzubauen. Oder sie sucht online 
nach Mütterforen oder Facebookgruppen, in denen sie sich virtuell 
unterhalten kann. In beiden Fällen wäre sie wieder Teil einer 
Gemeinschaft und nicht mehr sozial isoliert, d. h. sie würde sich wieder
 glücklich fühlen. 
Allerdings
 macht die Art der Strategie für unser noch urzeitlich geprägtes Gehirn 
einen Unterschied. Die Online-Gemeinschaft stellt für das Gehirn leider 
nur eine Ersatz-Befriedigung dar, d. h. das Bedürfnis wird nicht 
nachhaltig befriedigt, sondern nur für kurze Zeit. So kommt es 
möglicherweise dazu, dass die Mutter immer öfter und immer länger auf 
ihr Handy starrt und mit ihrem Online-Clan quatscht, um sich nicht 
isoliert zu fühlen. Ein Treffen in der realen Welt, auch, wenn es nur 
eine Stunde dauert, ist erwiesenermaßen weitaus nachhaltiger und 
befriedigender für das Gehirn (und den Menschen). Die Mutter wäre nach 
einem solchen Treffen länger glücklich und hätte nicht, wie beim 
Online-Clan, den Wunsch, es sofort zu wiederholen. Ein echtes Treffen 
"sättigt" das Bedürfnis also sehr viel gründlicher, als ein virtuelles. 
"Es ist das Wesen eines Ersatzmittels, dass es nicht leistet, was es zu leisten verspricht. Keine Ersatzbefriedigung macht wirklich glücklich, keine stillt das Bedürfnis nach wirklicher Verbundenheit und nach ureigenen Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Aber alle verengen den Blick. Sie lassen wichtig erscheinen, was eigentlich bedeutungslos ist. Sie verschaffen ein kurzes Lustgefühl, aktivieren das sogenannte Belohnungszentrum im Gehirn und hinterlassen einen faden Nachgeschmack [Hüther, G., Hauser, U., 2012, 114f].Sucht entsteht also nicht primär wegen eines Suchtmittels (Computerspiele, Internet, Alkohol...), sondern weil ein grundlegendes menschliches Bedürfnis unbefriedigt ist. Die Sucht entsteht dann, wenn der Mensch aus Unwissenheit nicht-zielführende Strategien anwendet, um eine unbestimmte Leere in ihm zu füllen. Dazu gibt es ein (schon viel besprochenes) aufschlussreiches Experiment von Alexander Bruce aus dem Jahr 1970.
Bis
 zu diesem Zeitpunkt war in Experimenten mit Laborratten "nachgewiesen" 
worden, dass Drogen abhängig machen. Die Ratten in den Experimenten 
hatten die Wahl zwischen mit Drogen vermischtem Wasser und einfachem 
Leitungswasser gehabt und entschieden sich signifikant häufiger für das 
Drogenwasser - bis sie starben. Alexander Bruce nun zweifelte die 
Richtigkeit dieses Versuchsaufbaus an, und änderte diesen. 
Er
 unterteile neugeborene Ratten in vier Gruppen: diejenigen, die im Alter
 von 22 bis 80 Tagen in normalen Laborkäfigen gehalten wurden, 
diejenigen, die den gleichen Zeitraum in einem groß angelegten 
Rattenpark leben durften, diejenigen, die bis zum 65 Tag im Rattenpark 
leben durften und dann in den Laborkäfig umgesetzt wurden und 
diejenigen, die bis zum 65. Tag im Laborkäfig lebten und dann in den 
Rattenpark umgesetzt wurden. Der Rattenpark war ein - für Ratten - 
wunderschönes, bepflanztes Gelände mit reichlich Auslauf und anderen 
Ratten/potentiellen Partnern, Spielzeug und Essen - etwa 200 Mal so groß
 wie ein Standard-Laborkäfig. In allen vier Settings bot er normales 
Leitungswasser und mit Morphium versetztes Wasser an.
Die
 Ratten in den kleinen Käfigen tranken vor allem das Drogenwasser - wie 
schon in den Experimenten vorangegangener Wissenschaftler. Die Ratten 
aus dem Rattenpark dagegen bevorzugten eindeutig das drogenfreie 
Leitungswasser, wobei sie ab und an auch das andere probierten. Am 
interessantesten war die Gruppe von Ratten, die zunächst in den 
Laborkäfigen gehaust hatten, um dann in den Rattenpark gesetzt zu werden
 - diese tranken dort nur noch drogenfreies Wasser. Selbst Ratten, die 
in einem weiteren Experiment in den Laborkäfigen ausschließlich Wasser 
mit Drogen angeboten bekommen hatten (also keine Wahl hatten, gesundes 
Wasser zu trinken), entschieden sich im Rattenpark dann für das reine 
Wasser. Sie zeigten zwar kleinere Entzugserscheinungen, aber keinen 
Drang, zu den Drogen zurückzukehren. Bruce schloss aus den Ergebnissen 
seines Versuchsaufbaus, dass nicht Drogen per se abhängig machen, 
sondern nur dann, wenn es ein Defizit an einer angenehmen 
Lebensumgebung, stimulierender Beschäftigung und sozialen Beziehungen 
gibt, sprich, wenn die Grundbedürfnisse nicht befriedigt sind.
Die
 gleichen Mechanismen lassen sich beim Menschen erkennen: Sind alle 
Grundbedürfnisse des Menschen gestillt, ist eine süchtigmachende Wirkung
 von Internet, Spiele-Apps und Konsolen in der Regel nicht zu 
befürchten. Die Frage, die wir uns also stellen sollten ist nicht, "Wie 
halte ich mein Kind vor potentiell süchtig-machenden Dingen fern?", 
sondern "Kann es sein, das mein Kind unbefriedigte Grundbedürfnisse hat 
und wenn ja, wie lässt sich das ändern?" 
Trotz
 dieser Entwarnung sollte man das kalkuliert eingebaute 
Übernutzungspotential der Spiele kombiniert mit einem (noch nicht) 
ausgreiften, voll funktionstüchtigen präfrontalen Cortex bei Kindern im 
Blick behalten: Selbst, wenn keine echte Sucht entsteht, können sich 
schlechte Angewohnheiten einschleichen, die sich möglicherweise auf die 
wirklich wichtigen sozialen Beziehungen auswirken. Auf diese kommen wir 
morgen im dritten Teil der Serie zu sprechen.
In unserem Podcast findest Du übrigens auch eine Serie zum Thema digitale Medien:
Teil 1: Die Ängste der Eltern
Teil 2: Aggressionen und Impulskontrolle
Teil 3: Ballerspiele und Amokläufe
Teil 4: Medienexpertin Patricia Cammarata
In unserem Podcast findest Du übrigens auch eine Serie zum Thema digitale Medien:
Teil 1: Die Ängste der Eltern
Teil 2: Aggressionen und Impulskontrolle
Teil 3: Ballerspiele und Amokläufe
Teil 4: Medienexpertin Patricia Cammarata
© Snowqueen
 



Großartig! Danke für den erneut hervorragend recherchierten Artikel. Ich fühle mich aufgeklärt, gleichzeitig beruhigt und weiß, worauf ich achten sollte.
AntwortenLöschenViel wie wir denken. Großartig! Anstelle des Hofes Kinder verbringen viel Zeit mit der Nase in den Tabletten.
AntwortenLöschenGanz herzlichen Dank für diesen Artikel und die vielen Informationen! Jetzt bin ich gespannt auf Teil 3. Viele Grüße, Uta
AntwortenLöschenVielen Dank für diese Artikelreihe...
AntwortenLöschenSpannendes Experiment, das mit den Ratten!Kannte ich noch nicht und das Ergebnis ist erstaunlich und wahnsinnig interessant!!!
Ich ertappe mich selbst dabei, dass ich mir "Ersatzbefriedigung" im "Online-Clan" suche... das vor allem bei Themen, die ich in der realen Welt nicht so gut besprechen kann... nämlich wenn es um mein Bonuskind und die Probleme mit der zugehörigen Mutter geht... viele verstehen das nicht bzw. wollen es nicht hören (was ich durchaus nachvollziehen kann). Seit ich regelmäßig auf dem Stiefmutterblog bin und dort mit anderen kommunizieren kann, habe ich mich in der Hinsicht in der realen Welt fast komplett zurückgezogen darüber zu sprechen, zumindest mit all denen, die eine "intakte" Familie haben und die Probleme nicht verstehen können (meine beste Freundin ausgenommen, die hört mir IMMER zu). Ich habe aber mal (durch Zufall) zwei andere "Stiefmütter" persönlich kennengelernt und es tat so unheimlich gut, mit ihnen zu reden. Endlich jemand der ähnliche Probleme hat oder hatte und der meine Bedenken und Sorgen nachvollziehen konnte. Also kann ich in dem Punkt absolut zustimmen: "Ein Treffen in der realen Welt, auch, wenn es nur eine Stunde dauert, ist erwiesenermaßen weitaus nachhaltiger und befriedigender für das Gehirn (und den Menschen)." Solange das nicht möglich ist, hilft es mir auch, mich im "Online-Clan" darüber auszutauschen.
Bei uns gibt es nur wenig und dosiert fernsehen. Die kleine (knapp 4) spielt selten mal mit Papa "Kater Tom", sonst noch gar nichts. Da sie es nicht kennt, vermisst sie auch nicht wirklich was. Der große (9) darf, wenn er bei uns ist hin und wieder was auf dem Tablet oder der Playstation spielen, das sind eigentlich immer Spiele ohne Gewalt. Also z.B. Autorennen, Motorrad-Geschlicklichkeitsspiele, Lego Spiele (ja, die gibt es). Zeitlich beschränkt...max. 30-45 min. Wenn wir merken er ist absolut nicht mehr ansprechbar oder gar aggressiv, wird frühzeitig abgebrochen. Danach geht es nach draussen um das Bewegungsdefizit wieder auszugleichen. Und generell werden bei uns im Herbst/Winter bei schlechtem Wetter eher Medien konsumiert... Es gilt die Regel: Bei Sonnenschein gibt es weder Fernsehen noch Tablet... Wenn graues Regenwetter ist gucken wir dann dafür auch mal einen kompletten Film (wo meine Tochter meist nach einer Weile selbst keine Lust mehr hat und lieber spielen geht). Und die beiden "Jungs" (Papa+Sohn) spielen auch gerne mal zusammen was an der Spielkonsole...aber auch immer zeitlich begrenzt... Hin und wieder muss ich allerdings den Papa daran erinnern, wie viel Zeit schon um ist... ;-)