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Wunderbare wilde Kinder - Podcast mit Inke Hummel

Inke war schon so oft bei uns, dass wir dachten, wir hätten ihr Buch „Mein wunderbares wildes Kind“ aus dem humboldt Verlag schon mit ihr besprochen. Erst als eine Hörerin nachfragte, wo sie denn den Podcast zum wilden Kind findet, fiel uns auf, dass wir genau dieses Buch nie rezensiert hatten. Deshalb haben wir uns Inke Hummel nochmal eingeladen, um über Kinder zu reden, die in ihrer Lebhaftigkeit von ihrer Umwelt als "zu laut", "zu unbequem" oder "zu anders" gesehen werden. 


Inke, ein "wildes Kind" – was ist das eigentlich?

Der Begriff stammt nicht allein von mir, sondern hat sich entwickelt, nachdem ich das Buch über schüchterne Kinder geschrieben hatte und viele Eltern mich mit der Bitte kontaktierten, doch auch über ihre Kinder zu schreiben, die alles andere als schüchtern seien. Konkreter haben sie sie beschrieben als lauter als andere, mutiger bis hin zu riskanter im Verhalten, insgesamt im Vergleich zu schüchternen Kindern deutlich weniger gehemmt. Ihnen fehlt im Grunde eine Art Pausenknopf, wenn Reize reinkommen oder Interaktion gestartet ist. Sie reagieren sofort und das oft intensiv. Dabei kann aus der Impulsivität oft Distanzlosigkeit werden, die andere herausfordert. Eltern beschreiben ihre Kinder als häufig dominant bis respektlos und teilweise aggressiv. Wildheit hat also viele Komponenten, die für die begleitenden Elternteile sehr fordernd sein können.

Das klingt ein bisschen, wie gefühlsstarke Kinder. Das ist ja ein Begriff, der von Nora Imlau geprägt wurde und all das, was du eben über wilde Kinder gesagt hast, erinnert mich an gefühlsstarke Kinder. Meint ihr die gleichen?

Die Frage kommt natürlich häufiger. Dazu mag ich eingangs sagen, dass ich kein Fan von Schubladen bin, sondern mit meinen Beratungsfamilien eher so starte, dass wir nach den Punkten suchen, die im Alltag wirklich Leid hervorrufen. Aber an sich sind die Bezeichnungen für Eltern oft ein guter Startpunkt, um die Hilfe zu suchen, die ihr Kind benötigt.

Aber genauer zur Frage: Ja, es gibt einige Überschneidungen. Allerdings sind die wilden Kinder eben besonders herausfordernd in ihren Reaktionen, ihrem Handeln. Gefühlsstarke Kinder sind das auch, aber zusätzlich haben sie auch intensiv zu tun mit hereinkommenden Reizen, entstehenden Gefühlen, zeigen sich oft empfindlich, teilweise auch nachdenklich oder gar pessimistisch. Das heißt sie sind emotional deutlich instabiler als die wilden Kinder. Die sind oft Sonnenscheine und mehr für die anderen herausfordernd als für sich selbst.

Inke Hummel im Podcast

 
Kinder, zu denen man als Eltern in der Kita oder in der Schule immer wieder zurückgemeldet bekommt, dass sie die Gruppe stören oder dass sie zu viel Aufmerksamkeit fordern… das können ja aber nicht nur vom Charakter her wilde oder eben gefühlsstarke Kinder sein, sondern dieses Verhalten in Schule und Kita kann ja durchaus auch ein Hilfeschrei des Kindes sein, dass ihm etwas auf der Beziehungsebene fehlt. Das kann zuhause sein, oder auch in der Beziehung zu den Erzieher*innen oder Lehrer*innen. Wie unterscheidet man denn das? Also wie erkennt man als Elternteil: Ah, das ist einfach das Temperament meines Kindes versus Uh, dieses Verhalten zeigt, dass es ihm gerade nicht gut geht und ich mich ihm oder ihr zuwenden muss, um ein Bedürfnis zu befriedigen.

Das ist natürlich ein wichtiger Punkt. Grundsätzlich kann man sagen, das Temperament ist angeboren, das heißt es wird von Anfang an sichtbar sein und zeigt sich überall, egal in welchem Umfeld. Und es bleibt auch für immer. Hat ein herausforderndes, wildes Verhalten andere Ursachen, tritt es meist erst später auf, in Folge von Belastungen oder im Zusammenhang mit bestimmten Personen oder Konstellationen.

Um das wirklich genau sagen zu können, braucht es einen intensiven Blick ins System, am besten mit einer pädagogisch ausgebildeten Bezugsperson des Kindes oder fachlicher Beratung. Da kann dann wirklich auf den Weg von Geburt an geschaut werden, um Erziehungsstil, Belastungsfaktoren, angelegte Regulationsfertigkeiten usw. richtig einschätzen zu können, so dass Hilfe ggf. an den richtigen Stellen ansetzen kann.

Können Eltern etwas tun, was wilden Kindern, gefühlsstarken Kindern oder Kindern mit einem unbefriedigten Grundbedürfnis gleichermaßen helfen würde?

Ja, es gibt einiges, was Eltern tun können und bei dem es im Grunde egal ist, welches Temperament die Kinder mitbringen. In Beziehung zu gehen ist immer eine gute Idee. Ein erster Schritt ist es, sein Kind bewusster wahrzunehmen:

Sind seine Bedürfnisse wirklich alle erfüllt? In den schwierigen Momenten und auch grundlegend im Alltag? Emotional, sozial, vital und kognitiv? Wird es also beispielsweise gut begleitet, ist es sozial gut eingebunden, geht es ihm gesundheitlich gut und in den schwierigen Momenten besonders (satt, ausgeschlafen…), wird auch seine kognitive Entwicklung ausreichend gefördert usw.?

Wird dem Kind 1:1-Zeit mit einer zugewandten Bezugsperson ermöglicht, in der es ganz und gar für sich gesehen wird, ohne an die Spülmaschine, die Hausaufgaben oder den Bruder zu denken? Das muss nicht nur mit Mama oder Papa sein, sondern darf auch eine andere vertraute Person sein. Gerade die wilden Kinder lieben meist eher eine größere Zahl an Bezugspersonen.

Wildes Kind im Wald

Kann bei älteren Kindern mehr auf gute Gesprächszeiten geachtet werden, in denen man dem Kind zuhört, aber auch von sich erzählt, so dass das Kind an bestimmte Themen andocken kann?

Und wird auch die Vielfalt des Kindes gesehen? Es ist ganz sicher nicht nur anstrengend wild, sondern auch kreativ wild zum Beispiel oder zeigt noch viele andere Seiten fern von Wildheit. Der Beziehung tut es gut, auch da bewusst hinzuschauen.

Und zwei weitere Aspekte halte ich für sehr wichtig: Zum einen sind ja gerade Glaubenssätze in aller Munde, wenn wir über Erwachsene sprechen, und wann entstehen die? In der Kindheit. Also sollten wir genau da hinschauen: Welche Glaubenssätze vermitteln wir unserem wilden Kind? Welche die seinen Selbstwert stärken? Weiß es, was es kann? Dass es geliebt wird, egal, was es tut? Dass wir es schätzen, wenn es Dinge macht, die ihm Freude bereiten, aber in denen es vielleicht nicht mal besonders gut ist? Spürt es: Du wirst gebraucht, ohne Dich geht es hier nicht, Deine Meinung ist uns wichtig? Sonst kann man hier gut investieren.

Und der zweite Aspekt sind die Eltern selbst: Sie sollten sich Raum nehmen, um auf sich zu schauen. Sie können ein wildes Kind nur gut begleiten, wenn sie nicht total auf dem Zahnfleisch gehen.

Wir können uns vorstellen, dass Eltern eines wilden Kindes oft an sich und ihrem Weg zweifeln, vielleicht, weil sie Angst haben, dass sie das Kind mit ihrem Erziehungsweg ungünstig beeinflussen oder sie nicht genau wissen, in welchen Situationen sie ihr Kind bremsen müssen. Sie müssen ja immer abwägen zwischen dem, was die Gesellschaft möchte, und dem Entfalten der Persönlichkeit des Kindes. Du berätst solche Eltern online, oder auch vor Ort. Was sagst du ihnen?

Oh, ja, darüber muss ich oft sprechen, teilweise auch zwischen den Elternteilen vermitteln, wenn nur einer von ihnen denkt, die Erziehung könne die falsche sein.

Meine Beratungsrichtung lässt sich fassen mit „Wissen statt Angst“. Wenn offene Fragen und diffuse Ängste bearbeitet werden, können Eltern entspannter werden. Also schauen wir uns an, in welcher Entwicklungsphase das Kind ist, was man schon erwarten kann und wo die Spannbreite einfach sehr weit ist und ihr Kind vielleicht tatsächlich unbedenkliches Verhalten zeigt.

Und um zu entscheiden, welche Verhaltensweisen tatsächlich Unterstützung benötigen oder aber einfach so sein dürfen, wie sie gerade sind, nehmen wir gemeinsam einen kindorientierten Blick ein und klären: Wo leidet das Kind? Wo wirkt sich sein Temperament nachteilig aus? An welcher Stelle braucht es mehr Begleitung und andere Strategien als bisher?

Außerdem schauen wir, wo das Umfeld leidet. Also wirklich leidet und nicht nur „Man macht das aber so nicht!“ dahintersteht.

Beides geht in der Beratung gut anhand von konkreten Situationen. Wie laufen die Morgene immer ab? Wie ist das unter den Geschwistern? In der Sportgruppe? Usw. Wenn man sich da entlang hangelt, findet man gute Antworten und kann zu Hause Ängste kleiner werden lassen und so Druck rausnehmen.

Wildes Kind schaukelt

Ein ganz wichtiger Aspekt für wilde Kinder ist, ihre Impulskontrolle und ihren Fokus zu stärken. Wie hilft man ihnen da?

Der erste Blick ist für mich immer der Gedanke: Sagt den Kindern nicht nur, was sie lassen sollen, sondern auch was sie machen können. Das klingt total logisch und simpel, aber wird im Alltag doch häufig vergessen.

Ein zweiter Tipp, den ich auch erst rund um die Recherchen zu meinem Buch kennengelernt habe, ist der sogenannte Batman-Effekt. Knapp gesagt bedeutet das, sich mit dem Kind zu überlegen, wer sein Held oder seine Heldin ist und es in Situationen, in denen Impulskontrolle, also eine Pausentaste notwendig ist, zu schauen: Was würde dein Held oder deine Heldin jetzt tun, um auszuhalten bzw. abwarten zu können? Das geht ins Spielerische und schafft für das Kind eine gute Distanz zu dem Geschehen. So fällt es ihm in der Regel deutlich leichter, seine Bedürfnisse kurz aufzuschieben oder nicht sofort sehr ungehemmt zu reagieren.

Ansonsten kann man Impulskontrolle am besten dort üben, wo Kinder mit Leidenschaft und Motivation dabei sind, also sich intensiv wünschen, darin besser zu werden.

Bei so wilden Kindern wird vonseiten der Gesellschaft ja gerne an die Eltern herangetragen, dass sie ihr Kind strafen sollten, damit es lernt, was richtiges und was falsches Verhalten ist. Welche Argumente gibt es dagegen?

Ach ja, dieses leidige Thema. In unserer Bubble ist das schon ein echtes Allgemeingut, aber wenn man über den Tellerrand guckt, ist es immer wieder erschreckend, wie viele Eltern denken, ohne Strafe könne man ein Kind gar nicht erziehen. Schauen wir uns das mal genau an.

Werde ich bestraft, fühle ich mich vor allem ohnmächtig. Bei einem Kind, das in sich noch unsicher, sehr auf seinem Entwicklungsweg und noch eher emotional abhängig von seinen Bezugspersonen ist, wird damit viel Selbstverstrauen kaputt gemacht. Das Kind fühlt sich angegriffen und reagiert eher nicht mit einem Blick auf das Thema selbst, um das es gehen sollte, sondern mit einem Angriff seinerseits auf die Person, die sich über es erhoben hat. Das gefährdet die Eltern-Kind-Beziehung auf Dauer, und es gefährdet auch echtes Verständnis.

Strafen verändern im simpelsten Fall Verhalten – „Ich passe mich dem Mächtigen lieber an, als noch mehr Stress zu riskieren.“ – aber sie verändern nicht das Verständnis: Warum war etwas falsch? Wie geht es besser? Wie kann man zukünftig vorsorgen, dass es anders läuft? Wie kann ich etwas wiedergutmachen – und warum sollte ich? Das sollten doch unsere Lernziele sein. Die erreicht man nur, indem man mit Kindern in Beziehung geht, erklärt, sie mitfühlen lässt, sie aktiv werden lässt und vor allem ihnen keine Sicherheit entzieht.

Oft ist besonders wildes Verhalten ja einfach ein Ausdruck von Anspannung. Ich denke, alle Eltern kennen das in gewisser Weise von dem Tag vor Weihnachten, an dem wahrscheinlich alle Kinder dieser Welt durchdrehen. In deinem Buch habe ich gelesen, dass es wilden Kindern helfen kann, zu lernen, Anspannung angemessen abzubauen. Was kann man ihnen denn da anbieten?

Zum einen kann man grundlegend schauen, wo im Alltag zu viel Stress versteckt ist und es vielleicht noch Chancen gibt, Entspannung einzubauen. Das muss bei wilden Kindern nicht immer ein verträumtes Buchangucken sein, sondern ist oft motorisch gekoppelt. Da kann es den Alltag entspannen, wenn ein Weg zu Fuß gemacht wird oder angesammelte Unruhe in Fahrradpedale gesteckt werden darf.

Zum anderen sollte man sich die akuten, wilden Momente anschauen: Wo geht die Anspannung dann hin? Meist ins Orale über Schreien oder Beißen zum Beispiel, oder in die Hände über Werfen, Kneifen, Hauen. Oder sie geht in den ganzen Körper, mit dem dann getobt wird. Und da kann man losmarschieren und Alternativen suchen. Oral kann es Beißschmuck sein, für die Hände spezieller Schmuck zum Fummeln beispielsweise. Wichtig ist, dass die Nutzung immer, überall und sofort möglich ist – was beim Klassiker „ins Kissen auf dem Sofa schlagen“ ziemlich utopisch ist.

Das Annehmen der Alternativen fällt den Kindern leichter, wenn sie mit auswählen dürfen und wir Eltern die neuen Varianten auch für uns selbst verwenden. Dann fühlt sich unser Kind nicht besonders oder gar in irgendeiner Form beschämt. Das Vorgehen sollte in Ruhe miteinander überlegt werden und benötigt anfangs in Akutfällen starke Erinnerungen über Vormachen oder Berühren.

Wildes Kind lacht

Auf Twitter lesen wir bei Ulla Hittmeyer oft vom Wutkerzen auspusten. Das erklärst Du auch in deinem Buch. Was hat es mit den Wutkerzen auf sich?

Ulla hat mir erklärt, dass die Kerzen ihren Ursprung in dem Gedanken haben, dass immer zum Atmen geraten wird, wenn die Emotionen hochkochen. Das fällt ja schon uns Großen oft schwer: Mitten im größten Drama einfach dastehen und ein- und ausatmen?! Kindern geht es damit noch mal anders. Die Wutkerzen sind da eine ähnliche Strategie wie der Batman-Effekt: Sie gehen ins Spielerisch, schaffen Distanz. Sobald die Emotionen anfangen, hochzukochen, streckt man dafür alle Finger einer Hand aus und stellt sich vor, es seien brennende Kerzen, die Stück für Stück ausgepustet werden. Das kann langsam runterbringen. Andere Kinder finden einen ähnlichen verspielten Weg über Singen oder Reimen, gern auch mit Bewegungen kombiniert.

Wir haben ja bald Sommer und viele Familien wollen wegfahren. Ich kann mir vorstellen, dass gerade Urlaube mir einem wilden Kind nicht besonders erholsam sind. Aber wenn es jetzt kein Einzelkind ist, sondern es vielleicht noch Geschwister gibt, dann will man ja als Familie vielleicht trotzdem wegfahren. Gibt es dafür Tipps und Tricks wie ein solches Unterfangen nicht vollkommen stressig wird?

Der wichtigste Blick ist einer, der auch auf andere Situationen wie zum Beispiel gemeinsames Familienessen zutrifft: Wenn ich zu viele Ziele vereinen will, wird es eher scheitern. Will ich warm essen, mich mit meiner Partnerperson unterhalten, stillsitzende Kinder, die sich gesund ernähren, und und und, ist das in der Regel zu viel, um funktionieren zu können. Man muss sich ein oberstes Ziel aussuchen und danach planen.

Für den Urlaub mit einem wilden Kind heißt das in der Regel: Ich hätte gerne auch ein bisschen Erholung. Dafür fallen andere Ziele wie „Was will Oma? Können wir die zwei Städte in der Nähe anschauen? Kann ich einen Surfkurs machen?“ o.ä. hinten runter. Zumindest in den ersten Jahren.

Wilden Kindern hilft es, wenn es im Urlaub eher wenige Reibungspunkte gibt: also eher wenig Menschen, wenige Bereiche, in denen langwierig kooperiert werden muss. Sie mögen es oft, wenn sie wissen, was sie erwartet. Also lohnen sich gleiche Orte oder gute Vorbereitungen mit Suchmaschine und Fotos. Eine kurze Anfahrt trägt ebenso meist zur Entspannung bei.

Und ein wichtiger Punkt ist die Frage der Begleitung: Gerade in den ersten Jahren brauchen wilde Kinder eine enge Begleitung. Da kommt man nicht drumherum, nur weil der Ort ein anderer ist. Hier empfehle ich klare Absprachen: Wer von den Bezugspersonen ist wann zuständig? Das schafft Klarheit und vor allem auch Raum für Phasen, in denen jeder Erwachsene mal Zeit fürs Urlauben hat.

Wilde Kinder wandern

Wir haben vorhin schon kurz über Kita und Schule gesprochen. Pädagogisches Personal reagiert ja mitunter nicht besonders positiv auf sehr wilde Kinder. Und es kann sein, dass diese dann einen negativen Stempel abbekommen. Dass sie als Störer*innen oder Täter*innen angesehen werden und ihnen im Streitfall nicht geglaubt wird. Wie bringt man Erzieher*innen oder Lehrer*innen dazu, das Kind nicht in eine bestimmte Schublade zu stecken?

Ich habe zum Glück schon beides gesehen, also auch super engagierte interessierte Pädagog*innen, die sich über wilde Kinder freuen. Das mal vorweg.

Aber zur Sache selbst: Ich finde es wichtig, offen zu sein und anzuerkennen, dass da eine Fachperson sitzt, die sicher schon öfter mit wilden Kindern arbeiten musste. Also sollten Eltern Zutrauen äußern und nach Rat fragen. Das kann ja sehr konstruktiv sein. Andererseits sollte man versuchen, Verständnis für das eigene Kind schaffen, indem man es übersetzt – den Begriff habe ich eigentlich für die schüchternen Kindern gefunden, aber er passt natürlich auch hier, wenn man erklärt, wie das eigene Kind aufgestellt ist, was es stresst, was ihm hilft, warum es in Situation X mit Verhalten Y reagiert. Dazu gehört dann auch zu berichten, was man zu Hause schon so alles probiert hat oder gerade macht, um dem wilden Kind nach und nach bessere Strategien an die Hand zu geben.

Es sollte also eine echte Erziehungspartnerschaft entstehen, gerne abgerundet von Dreiergesprächen Lehrkraft/Eltern/Kind, damit nicht über- sondern miteinander geredet wird. So kann jede beteiligte Person viel besser mitfühlen, was ein Verhalten bedeutet, wo es herkommt, was es mit dem oder der anderen macht.

Sprich es sollte hier sein wie zu Hause: Beziehung sollte entstehen. Wenn man sich kennt und gut im Miteinander ist, kann man von hier aus weitergehen.

Wenn Kinder in der Schule stören, dann werden sie noch immer oft rausgeschickt und müssen den Stoff dann zuhause nachholen. Mal ganz abgesehen davon, dass das keine pädagogische Glanzleistung ist, lass uns darüber sprechen, wie Eltern es schaffen mit ihren Wilden Kindern Stoff nachzuholen oder Hausaufgaben zu machen. Denn ich kann mir vorstellen, dass das nicht einfach ist.

Genau, das ist wirklich nicht einfach. Ich hab es vielfach im Distanzlernen während der Coronahochphasen gemerkt. Aber auch sonst ist es natürlich oft Thema, genau wie du sagst. Ich finde wichtig, dass Eltern dann nicht darauf schauen, was geschafft wird, sondern dass etwas geschafft wird und wie.

Sie sollten in Beziehung und mit Motivation über Spielräume versuchen, das Kind zum Arbeiten zu bewegen: Wofür macht es das? Wie kann es sich das einteilen? Was kann es tun, damit die Zeit angenehm wird?

Sie sollten sich eng mit der Lehrkraft austauschen und einerseits zurückmelden, wenn das Kind konzentriert bei der Sache war, aber eben nur 2 Sätze statt 2 Seiten geschafft hat, also kleine Erfolge und Mitarbeit zeigen. Andererseits sollte aber auch die Verantwortung bei der Schule bleiben, die in die Schule gehört: Warum bleiben Arbeiten liegen? Was macht es in dem Kind im jetzigen Setting so schwer mitzuarbeiten? Wo sind noch andere Stellschrauben? Das heißt wie müssen wie bei jedem besonderen Verhalten nach den guten Gründen suchen, die ein Kind dafür hat, denn nur so kann es ins Verändern und Lösen gehen.

Wichtig ist auch, nicht nur zu beachten, wenn es sich verweigert, sondern vor allem auch, wenn es arbeitet, und dann nicht sofort selbst wieder zu eigenen To Dos zu wechseln.

Und am Ende bleibt natürlich auch noch der Gedanke ans Auslagern der Schularbeiten: Wie bei Nachhilfe oder auch beim Schwimmenlernen ist es manchmal gut, wenn das nicht in die Eltern-Kind-Beziehung grätscht. Eine ältere Schülerin, ein Sozialpädagoge in einem Jugendzentrum oder einer Kirchengemeinde, ein Elternteil aus dem Freundeskreis könnte hier und da die Begleitung sein, die das Kind braucht, und Stress zu Hause würde eher vermieden.

Lass uns zum Schluss nochmal über Medien reden. Wenn wilde Kinder immer „zu viel“ von allem wollen, ist es sicher auch so, dass das beim Gucken von Youtube oder Spielen von Roblox so ist. Sollte man wilden Kindern digitale Medien gänzlich verbieten?

Wie man über Verbote einen gesunden Umgang mit was auch immer lernen soll, hat sich mir ja noch immer nicht erschlossen und ich hoffe, wir kommen von der Sichtweise irgendwann ganz weg. Gerade beim Thema Medien ist begleiten statt verbieten der richtige Weg, so wie auch das gerade erschienene Buch von Leonie Lutz und Anika Osthoff heißt, das ich dazu absolut empfehlen kann.


Hier kann ich nur verkürzt antworten: Manche wilde Kinder kommen prima mit digitalen Medien zurecht, andere haben in der Tat ein Problem damit, auszuschalten oder danach wieder in eine andere Betätigung zu finden. Da ist die beste Hilfe, Regeln bzw. Alltagstrukturen mit dem Kind gemeinsam zu finden und zu etablieren, so dass es nicht täglich wieder ausgelotet werden muss. Das Kind sollte dabei Gehör finden und Spielräume beim Aufstellen spüren.

Außerdem sollten die Eltern an ihre Vorbildfunktion denken in Bezug auf Nutzung und Nutzungszeiten. Und sie sollten einem Kind mit sehr viel Interesse an Tablet & Co. zeigen, wie vielfältig die Geräte nutzbar sind: auch für den Einkaufszettel, als Lexikon, als Fotoapparat. Wenn ein Kind gar nicht spürt, dass das Ding etwas ominöses Verruchtes ist, sondern die Geräte selbstverständlich in vielfacher Hinsicht zum Alltag dazugehören, verlieren sie einen Teil der starken Faszination.

Gib uns kurz einen Ausblick auf die Zukunft von wilden Kindern: Werden die in der Pubertät weniger wild?

Ha, wie schon eingangs gesagt, bleibt ein Temperament ein Leben lang, wie die Augenfarbe. Aber durch beziehungsorientierte Begleitung können Strategien für einen guten Umgang damit gelernt werden. Das heißt bis zur Pubertät kann da schon einiges weniger intensiv und fordernd sein. Aber die Wildheit wird man in der Regel dennoch spüren. Weil die Kommunikation noch intensiver ist als bei anderen. Oder weil der Hang zu riskantem Verhalten (ohne Nachdenken und Pausetaste) eher da sein kann.

Wichtig ist, die wilden Teenies nicht persönlich zu nehmen, gerade sprachlich, aber auch im Verhalten. Wer dann verhärtet und in die Distanz geht, wird sie nicht mehr für sich gewinnen können. Auch hier braucht es wieder Mitgefühl. Und hoffentlich gab es schon im Vorfeld viel Platz für Beziehung, Sicherheit, Raum für Eigenverantwortlichkeit und Zutrauen. Und hilfreich ist eine gut gelebte Fehlerkultur: Wenn ein Kind weiß, es kann seinen Eltern Misslungenes erzählen und sie helfen ihm beim Geradebiegen und Verhindern weiterer Irrungen, ohne ihm den Kopf abzureißen, wird das dem späteren Jugendlichen sehr zugutekommen.

Eine schöne Aussicht aufs Jugendalter ist vielleicht noch, dass viele Teenies ihre Wildheit dann sehr positiv nutzen können: als Antrieb, in Sachen Kreativität, Lebenslust oder Mut zum Beispiel.

Ha, da können wir gleich noch auf dein Buch hinweisen, über das wir definitiv schon mit dir einen Podcast gemacht haben, das heißt „Miteinander durch die Pubertät“ und darin hast du noch ganz viele andere Tipps für Jugendliche in der Pubertät aufgeschrieben. 

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