Wenn bei Kindern mit Lernschwierigkeiten gar nichts mehr geht: 5 bedürfnisorientierte Impulse, die Entspannung bringen

Gastartikel

Dieser Gastbeitrag ist von Monika & Thomas Abt. Sie sind Lerncoaches spezialisiert auf Rechenschwierigkeiten (Dyskalkulie) sowie Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten (Legasthenie / LRS). Mit ihren Online-Programmen helfen sie betroffenen Familien, ihre Kinder mit fachkundiger Unterstützung selbst zu begleiten: www.school-life-balance.net

Ihre Stimme stockte.

Dann verstummte sie ganz.

Die Nervosität überwältigte sie.

Stets erging es ihr so, als sie vor der Klasse vorlesen sollte. Das war vor über 50 Jahren. Damals plagten Caryn Elaine Johnson massive Leseschwierigkeiten. Ihre Mitschüler*innen hänselten sie. Caryns Selbstvertrauen rutschte in den Keller.

Jetzt ist es anders: Whoopi Goldberg hat sich zum preisgekrönten Hollywoodstar entwickelt. Sie steht bei den bedeutendsten Filmprojekten vor der Kamera und liefert ihre Texte souverän ab.

Auch heute teilen viele Kinder das Schicksal der kleinen Caryn: Sie leiden an Lernschwierigkeiten und versuchen, diese zu überwinden. 

Lilly besucht die 3. Klasse und hat Mühe mit dem Lesen und dem Rechtschreiben. Eigentlich geht sie gerne zur Schule. Doch ihre Schwierigkeiten belasten sie zunehmend. Alles hatte so gut begonnen: Lilly startete mit Begeisterung in die 1. Klasse. Mit Freude erlernte sie die Buchstaben. Doch der Schritt zum Lesen fiel ihr schwer; quälend langsam verband sie Laute zu Silben und Wörtern. Während ihre Mitschüler*innen immer zügiger lasen, mühte sich Lilly mit jedem Wort ab. Seit dem Start in die 3. Klasse ist die Situation noch schwieriger geworden: Oft sitzt sie regungslos vor einem Lesetext und Tränen rollen über ihre Wangen.

Auch Jonas verzweifelt häufig. Er besucht die 3. Klasse und tut sich schwer in Mathe. Gerade nimmt die Klasse den Schritt in den großen Zahlenraum. Jonas schaut auf die vielen Ziffern und weiß nicht, was er damit anfangen soll. Während sein Banknachbar fleißig rechnet, starrt er hilflos auf sein Arbeitsblatt. Er spürt, wie die Lücken immer größer werden.

Damit sind Lilly und Jonas nicht alleine.

Laut Studien leiden ungefähr 5% der Kinder und Jugendlichen an Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (vgl. Shaywitz, S.E., 1990). Auch bei Matheschwierigkeiten deuten Studien auf eine ähnliche Häufigkeit hin (vgl. Fischbach, A., 2013). Mitte der Grundschulzeit bekundet 23% aller Schüler*innen Mühe mit den Grundlagen beim Lesen, Rechtschreiben und/oder in Mathematik (vgl. Fischbach, A., 2013).

Das bedeutet: In einer Klasse von 20 Kindern sitzen durchschnittlich 5 Kinder, die sich mit den Grundlagen schwertun. Im deutschen Sprachraum sind somit mehrere hunderttausend Kinder betroffen.


Ganz normal anders


Lilly und Jonas sind krank.

Zu dieser Schlussfolgerung kommt die Weltgesundheitsorganisation (WHO): Sie führt Lernschwierigkeiten im Internationalen Katalog der Krankheiten (ICD-11) unter neurologischen Entwicklungsstörungen auf (vgl. Schulte-Körne, G., 2021). Die Fachwelt verwendet dafür unterschiedliche Bezeichnungen: Rechenschwäche, Rechenstörung oder Dyskalkulie bei Mathematikproblemen; Lese-Rechtschreibstörung (LRS), Legasthenie, isolierte Lese- oder Rechtschreibstörung bei Schwierigkeiten beim Lesen und/oder Rechtschreiben.

Für eine Diagnose ermitteln Fachpersonen das Leistungsniveau betroffener Kinder mittels standardisierter Tests. Sie stellen eine Diagnose, wenn die gemessene Leistung der Kinder deutlich unter dem Niveau liegt, das aufgrund ihres Alters, ihrer Intelligenz und der Beschulung zu erwarten ist. Gleichzeitig versuchen Forscher, die Ursachen für Lernschwierigkeiten in bestimmten Hirnregionen zu verorten oder einem Gen zuzuschreiben.

All diese Betrachtungen weisen einen Schwachpunkt auf:

Sie richten den Blick ausschließlich aufs Kind - dieses wird zum “Problemfall” erklärt. Dabei blenden sie die vielfältigen Ursachen von Lernschwierigkeiten aus.

Wie bei einer Krankheit wird beim Kind ein messbares, diagnostizierbares und therapierbares “Problem” gesucht. Das Kind erhält eine Diagnose - “Dyskalkulie”, “Legasthenie”, “LRS”. Dieser “Stempel” entwickelt sich oft zum Stigma: Die Lernschwierigkeit wird zum Kriterium, welches das “kranke” Kind von “normalen” Kindern unterscheidet (Büchner, B., Kortländer, B., et al, 2009: 3).

Wir möchten eine andere Sichtweise auf Kinder mit Lernschwierigkeiten vermitteln: Jedes Kind kann Fortschritte beim Rechnen, Lesen und Rechtschreiben erzielen und seine Schwierigkeiten überwinden. Deshalb sprechen wir in diesem Beitrag von “Rechenschwierigkeiten” und “Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten”.

Diese Sichtweise ist komplizierter - sie nimmt uns in die Pflicht. Schieben wir Lernschwierigkeiten in die medizinische Ecke, macht das für uns alles einfacher: Sie sind "medizinisch" bedingt und somit unabwendbar. Wir als Gesellschaft brauchen uns nicht zu fragen, wieso unser Schulsystem betroffene Kinder nicht mitziehen kann. Nach dieser Logik sind Lehrpersonen von der Aufgabe befreit, die Kinder im Rahmen des Schulunterrichts zu unterstützen und zu fördern. Lernschwierigkeiten sind so vom Unterricht losgelöst (Büchner, B., Kortländer, B., et al, 2009: 10).

Zu unrecht.

Denn der Schulunterricht trägt eine “wesentliche Rolle bei der Entstehung, der Prävention und der Entschärfung von Schwierigkeiten” (vgl. Diener, M., Schmassmann, M., 2012: 2). Eine Untersuchung aus Kärnten veranschaulicht diesen Einfluss: Die Lehrpersonen in vier Klassen erhielten eine Weiterbildung in neuen mathematikdidaktischen Ansätzen. Am Ende der 1. Klasse rechneten dort gerade mal 0 bis 8% der Kinder mit der zählenden Strategie. In zufällig ausgewählten Kärtner Klassen lag deren Anteil bei durchschnittlich 27% (vgl. Gaidoschik, M., Fellmann, A., Guggenbichler, S., 2015). Die unterschiedlichen Unterrichtsmethoden beeinflussten das mathematische Leistungsniveau vieler Kinder.

Moser Opitz bezeichnet deshalb Rechenschwierigkeiten auch als “Versagen im Mathematikunterricht und als Versagen des Mathematikunterrichts” (vgl. Moser Opitz, 2013, S. 139ff). Sie verortet Lernschwierigkeiten klar im Klassenzimmer.

Doch was geht dort vor sich?

Das Puzzleteil, das einfach nicht passt

Vieles passiert im Verborgenen.

Mädchen im Unterricht


Lernschwierigkeiten entwickeln sich oft schleichend und unauffällig. Kinder wie Lilly und Jonas fallen deshalb häufig erst spät auf - meist in der 2. oder 3. Klasse.

Lilly zögert, dann liest sie los: “...Be-ei…de”. Immer wieder überlegt sie, welche Laute zu b oder d passen. Oft erfindet sie ähnlich klingende Wörter. Ihr Lesefluss ist quälend langsam und stockend. Auch beim Schreiben passieren Lilly häufig Fehler. In der 3. Klasse soll sie nun längere Texte lesen und schreiben. Erst da hat ihre Lehrerin bemerkt, wie weit Lillys Leistungsniveau zurückliegt.

Lilly zeigt typische Anzeichen für Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten. Am deutlichsten fallen bei betroffenen Kindern die vielen Rechtschreibfehler und die niedrige Lesegeschwindigkeit auf. Viele der Kinder benötigen das Zwei- bis Dreifache der Lesezeit. Auch haben sie Mühe, das Gelesene zu verstehen (vgl. Schulte-Körne, G., 2010). Die Schwierigkeiten bei den Grundlagen führen zu einem immer größer werdenden Leistungsrückstand im Schulunterricht.

Auch Jonas kämpft seit dem Start in die 3. Klasse: Gerade überlegt er, welche Stelle bei 8’744 die Hunderter sind. Der große Zahlenraum bereitet ihm Mühe. Auch das Rechnen mit Zahlen über 100 fällt ihm noch schwer: Bei Aufgaben wie 290 + 210 oder 830 - 370 steht er an. Er verwendet den zählenden Weg und stößt damit immer mehr an Grenzen.

Mit einem Unterschied: Das heutige Schulsystem bietet betroffenen Kindern weniger “Raum”. Sie geraten schneller in eine Abwärtsspirale: Sie scheitern im Unterricht, entwickeln Stofflücken und kommen unter Druck.

"Beeinträchtigungen beim Lesen, Schreiben und in der Mathematik bergen ein großes Risiko, dass Betroffene in der Bildung benachteiligt werden." (vgl. vds, 2022)

Erlebt ihr auch, wie euer Kind mit Lernschwierigkeiten unter Druck steht?

Dann ist dieser Beitrag für euch: Ihr erfahrt, wie ihr als Eltern die Lernsituation zuhause entspannen könnt. Ihr lernt 5 erprobte Wege kennen, mit denen ihr euer Kind bei seinen Bedürfnissen abholen und wirkungsvoll unterstützen könnt.

(Hier noch ein wichtiger Hinweis: Kinder mit Lernschwierigkeiten benötigen professionelle Unterstützung. Gleichzeitig können wir Eltern viel für sie bewegen; am besten in enger Zusammenarbeit mit einer Fachperson eures Vertrauens.)

Legen wir los.

Wenn der Druck steigt…


Auch Lilly und Jonas verspüren den Druck.

Jonas zeigt das typische Bild eines Kindes mit Rechenschwierigkeiten: Er hat zentrale Aspekte der Rechengrundlagen noch nicht verstanden. Betroffenen Kindern fehlt das Verständnis für die Mengen, die Stellenwerte, die Operationen und die Größen (vgl. Moser Opitz, 2009, 286ff). Deshalb bleiben sie beim zählenden Weg hängen und fallen im Mathematikunterricht immer weiter zurück.

Lilly und Jonas besuchen den Schulunterricht - seit Monaten und Jahren. Sie hören sich die Erklärungen ihrer Lehrpersonen an. Sie üben. Sie probieren.

Gleichzeitig werden ihre Lücken immer größer.

Denn die beiden haben spezielle Lernbedürfnisse, wenn es ums Lesen und Rechtschreiben oder ums Rechnen geht. Deshalb stellt das Fördern von Kindern mit Lernschwierigkeiten “höchste fachliche und fachdidaktische Anforderungen an die Lehrpersonen” (vgl. Diener, M., Schmassmann, M., 2012: 2).

Leider ist das Schulsystem wenig auf Kinder mit speziellen Lernbedürfnissen vorbereitet.

Kinderhände, die Mathematikaufgaben bearbeiten


Oft fehlt den Lehrpersonen die diagnostische Kompetenz und das fachdidaktische Wissen zu den verschiedenartigen Lernschwierigkeiten. Auch mangelt es an vielen Schulen an spezialisierten Fachpersonen, die Lehrer*innen einbeziehen können.

Das Ergebnis: Die betroffenen Kinder versuchen im regulären Unterricht mitzukommen. Oder sie erhalten “irgendwelche” Förderung. So versinken sie in der überwältigenden Stofffülle, die der schulische Aufbau mit sich bringt. Immer wieder erhalten Kinder mit Lernschwierigkeiten auch Zusatzübungen, um die Lücken bei den Grundlagen mit “mehr Üben” auszugleichen (vgl. Diener, M., Schmassmann, M., 2012: 2).

Die Kinder geraten in eine verhängnisvolle Situation: Das geforderte Leistungsniveau steigt kontinuierlich an; sie bleiben bei den Grundlagen hängen. Dieses Spannungsfeld erzeugt einen enormen Druck. Immer und immer wieder scheitern die Kinder. Sie spüren, dass sie die schulischen Anforderungen nicht erfüllen können. Ihr Selbstvertrauen nimmt Schritt für Schritt ab. Viele betroffene Kinder leiden stark an der schulischen Situation: Sie verschließen sich, fühlen sich traurig und niedergeschlagen oder verspüren Angstzustände.

Lernschwierigkeiten wirken sich oft negativ auf die gesamte schulische Entwicklung der Kinder aus (vgl. vds, 2022). Viele betroffene Kinder fallen leistungsmäßig so ab, dass sie die Klasse wiederholen. Oft holen sie auch beim zweiten Durchgang die Lücken bei den Grundlagen nicht auf - die gezielte Förderung fehlt erneut. Immer wieder verpassen Kinder mit Lernschwierigkeiten auch den Übertritt in die gewünschte weiterführende Schule.

Lernschwierigkeiten verfolgen Betroffene bis ins Erwachsenenalter. Sie beeinträchtigen sie im Alltag - speziell auch im Berufsleben.

Die Mutter eines Kindes mit Rechenschwierigkeiten berichtete uns, dass sie bis heute an denselben Problemen leidet. Als Laborassistentin ist sie im Berufsalltag ständig mit Messwerten und Zahlen konfrontiert. Deshalb hat sie für sich “Hilfestellungen” entwickelt: Sie notiert sich Werte auf einem Schmierzettel und rechnet sie schriftlich zusammen. Oder sie nimmt die Taschenrechnerfunktion ihres Mobiltelefons zu Hilfe. Kleine Rechnungen zählt sie an den Fingern ab - unsichtbar in der Tasche ihres Laborkittels.

Eltern - die unverhofften Verbündeten


Jonas Blick wandert nach rechts.

Sein Banknachbar schreibt soeben das letzte Ergebnis aufs Arbeitsblatt.

Er ist gerade mal bei der dritten Rechenaufgabe. Dann ertönt die Schulglocke. Endlich!

Doch er weiß: Die verbleibenden Aufgaben stehen zuhause an - zusätzlich zu den Hausaufgaben. Verzweifelt lässt Jonas seinen Kopf sinken.

So schwappt die angespannte Schulsituation rüber ins Elternhaus.

Jonas Eltern versuchen zu helfen, wo sie können. Sie unterstützen bei den Hausaufgaben, erklären geduldig und üben fleißig mit ihm.

Kind übt schreiben


Wir hören immer wieder von Eltern, die mit ihrem Kind eine Stunde oder mehr an einer Hausaufgabe sitzen. Dies führt zur Überforderung auf allen Seiten: Die Eltern wissen oft nicht, wie sie wirkungsvoll unterstützen können. Sie fühlen sich hilflos und der Stresspegel steigt. Das Kind spürt den elterlichen Druck und macht zu. Allzu oft enden solche Situationen in Streit und Tränen. Dies belastet alle Beteiligten und die Beziehungen zwischen ihnen. Das Schlimmste ist: In der angespannten Situation findet kein Lernfortschritt statt. All die Energie und Zeit verpufft wirkungslos.

Eltern sind bei Lernschwierigkeiten mittendrin: Sie durchleben tagtäglich die schwierigen Situationen mit ihrem Kind. Sie üben viel und versuchen so, die Lücken auszugleichen. Sie machen sich Sorgen um das Wohlergehen und die Zukunft ihres Kindes.

Eltern können viel zur Entschärfung - aber auch zur Verschärfung - von Lernschwierigkeiten beitragen (vgl. Diener, M., Schmassmann, M., 2012: 4). In unserer Arbeit mit betroffenen Familien erleben wir, wie viel Eltern für ihre Kinder bewegen können. Richtig eingesetzt sind sie schlagkräftige Verbündete im Kampf gegen Lernschwierigkeiten.

Denn die Eltern besitzen einen mächtigen Stellhebel. Einen, der sie eng mit ihrem Kind verbindet. Einer, der externen Fachpersonen fehlt:

Es ist die vertrauensvolle Eltern-Kind-Beziehung.

In dieser Beziehung steckt ungeahnt viel Kraft.

Wollt ihr diese auch zum Wohle eures Kindes einsetzen?

Dann lest weiter: Ihr lernt 5 Impulse kennen, mit denen ihr eure Kinder mit Lernschwierigkeiten bedürfnisorientiert unterstützen könnt.

Impuls #1: Nah dran statt außen vor


Lilly könnte die Aufgabe rechnen.

Doch sie versteht nicht, was sie tun soll.

Deshalb sitzt sie verloren vor ihrem Prüfungsblatt und versucht den Aufgabentext zu entziffern:

“Paul hat… 3 M-e-t… M-e-t-er Sch…Schn-u-r…”

Sie schafft es nicht. In der Prüfungssituation fällt Lilly das Lesen besonders schwer. Sie bräuchte Unterstützung. Doch Lilly traut sich nicht zu fragen.

Vielen Kindern geht es wie Lilly. Sie fühlen sich “allein gelassen, von den Lehrkräften abgelehnt und zurückgewiesen” (vgl. Schulte-Körne, G., 2010). Auch zuhause treffen Kinder mit Lernschwierigkeiten oft auf Unverständnis. Die Eltern können sich nicht in ihre Kinder reinversetzen. Sie nehmen nicht wahr, was mit ihnen los ist und was sie brauchen.

Die Folge: Die Kinder fühlen sich verlassen. Sie ziehen sich in ihre Welt zurück und bleiben mit ihren schwierigen Gefühlen alleine. Nicht überraschend entwickeln Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten überdurchschnittlich häufig psychische Probleme: Sie leiden an Traurigkeit, gedrückter Stimmung und schulbezogenen Ängsten. Betroffen sind schätzungsweise 40 bis 60% der Kinder und Jugendlichen mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten; verglichen mit 5-18% bei allen Kindern und Jugendlichen (Remschmidt, H., Walter, R., 1990).

Lehrpersonen und Eltern können den Kindern nur helfen, wenn sie ihre Situation und ihre Bedürfnisse verstehen. Dieser eindrückliche Abschnitt von Börner et. al. (2001) kann einen Beitrag dazu leisten.

Kinder mit Lernschwierigkeiten brauchen die Anerkennung, dass sie:

„... nicht dumm sind ...

nicht faul sind ...

nicht zu wenig üben ...

... sondern zu viel das Falsche üben ...

zu viel auswendig lernen, um ohne Verstehen zu bestehen ...

sich oft nicht zu fragen trauen, wenn sie nicht weiter wissen ...

oft keine Hilfe finden, weil keiner versteht, was sie da nicht verstehen ...

die vielen eigenen Ideen und Theorien nicht diskutieren können ...

sich oft wundern, wieso sie schon wieder nicht richtig liegen ...

irgendwann mal denken: Mit mir stimmt was nicht ...

deswegen fast verzweifeln ...

... und am Ende den Schluss ziehen: Ich bin eben so!”

Lernschwierigkeiten bringen viele schwierige Emotionen mit sich: Frustration, Wut, Angst, Trauer, Scham, Einsamkeit und vieles mehr. Betroffene Kinder dürsten nach Verständnis, Halt und Geborgenheit.

Genau da könnt ihr als Eltern ansetzen.

Wir laden euch ein: Verschiebt den Blick im ersten Schritt weg von Rechenwegen und Rechtschreibregeln hin zur Situation eures Kindes und seinen Gefühlen. Wie geht es ihm? Was fühlt es? Was braucht es?

Trauriges Kind


Gerne empfehlen wir euch dafür die Methode des aktiven Zuhörens. Sie erlaubt es, eurem Kind auf Augenhöhe zu begegnen. Es in seiner Situation wahrzunehmen und anzuerkennen. Seine Gefühle zu verstehen, ohne sie zu bewerten.

Seid einfach da, wenn euer Kind niedergeschlagen oder traurig ist. Nehmt es in den Arm und tröstet es. Lasst es von seinen Erlebnissen und Gefühlen berichten, wenn es dazu bereit ist.

Zudem könnt ihr eurem Kind helfen, seine schweren Gefühle zu überwinden.

Der Stellhebel ist euer Vertrauen.

Nehmt dazu eine positive, zuversichtliche Haltung ein. Seid hoffnungsvoll in eurem Denken: “Ja, mein Kind wird es schaffen!”

Ihr habt allen Grund dazu: Denn jedes Kind kann in Mathe, beim Lesen oder der Rechtschreibung Fortschritte erzielen. Auch wenn die Situation festgefahren scheint, kann eine Veränderung stattfinden. Das erleben wir tagtäglich in unserer Arbeit mit betroffenen Kindern.

Euer Kind spürt eure vertrauensvolle Haltung: “Meine Mama/mein Papa glaubt an mich!”

Das gibt ihm Halt und Mut. Es traut sich, seine Angst zu überwinden und einen nächsten Schritt zu wagen.

Zusatzimpuls


Nutzt bewusst die Kommunikation mit eurem Kind, um diese Wirkung zu verstärken: Fasst euer Vertrauen in Worte. Bringt eure Zuversicht zum Ausdruck.

Das könnte so aussehen: “Ich weiß, dass du das schaffen wirst… Probier's aus… Ich bin da für dich und helfe dir.”

Euer Kind erlebt so die Kraft eures Vertrauens.

Impuls #2: Kleines ganz groß


Endlich ist Jonas mit den Mathehausaufgaben fertig.

Er weiß genau, was nun folgt: Seine Eltern wünschen, dass er täglich zwei Seiten in einem Zusatzheft bearbeitet. Sie wollen ihm so helfen, die Lücken in Mathe zu schließen.

Jonas schlägt das Heft auf und sieht sie: die vielen Aufgaben.

8’654 - Wie viele Hunderter enthält die Zahl?

5’321 - Wie viele Einer enthält die Zahl?

4’873 - Wie viele Tausender enthält die Zahl?

Es sind genau die Aufgaben, die ihm so schwerfallen - ganze 24 Stück. Entmutigt vergräbt er sein Gesicht in den Händen.

Für Kinder mit Lernschwierigkeiten ist der große Stoffumfang in der Schule schwierig. Zusatzübungen zuhause verschlimmern die Situation. Die Kinder erleben immer und immer wieder, dass sie überfordert sind und scheitern. Diese Gefühle verinnerlichen sie.

Junge sitzt unglücklich an seinen Hausaufgaben


Sehen sie ein übervolles Aufgabenblatt oder einen langen Lesetext, kommt das Gefühl der Überforderung hoch. Sie nehmen nur den “Berg” von Aufgaben wahr und spüren: “Ich schaff das nicht!” Versagensangst überwältigt sie.

Das Ergebnis: Die Kinder sind wie gelähmt und kommen gar nicht ins Arbeiten.

Hier könnt ihr euer Kind unterstützen: Schützt es vor Überforderung.

Deshalb dürft ihr die “Portionsgröße” anpassen. Teilt die Hausaufgaben in kleine, verdaubare Häppchen auf. Lasst euer Kind immer wieder kurz daran arbeiten - ideal sind 10 Minuten. Kleine Schritte lassen große Wegstrecken kurz erscheinen. Auch bescheren kleine Schritte mehr Erfolgserlebnisse. Am besten sucht ihr gemeinsam mit der Lehrperson Wege, um die Aufgabenmenge für euer Kind leistbar zu machen.

Zusatzimpuls


Große Arbeitsblätter oder lange Lesetexte wirken bedrohlich. Gerne dürft ihr deshalb die Seiten “schrumpfen”. Schreibt die Aufgaben auf kleine Zettel - ideal sind Post-it-Notes. Alternativ könnt ihr die Blätter auch in kleinere Abschnitte zerschneiden. Wählt dabei die “Portionsgröße”, die euer Kind meistern kann. Bewährt haben sich kleine Päckchen: beispielsweise 3 bis 5 Rechenaufgaben oder ein kurzer Textabschnitt.

Impuls #3: Mama, ich habe Platzangst!


Lilly liest mit Mama in ihrem Lieblingsbuch.

Sie startet mit dem nächsten Satz: “Oje, hoffentlich ist das nicht irgend so eine…” Dann bleibt sie stecken: Pin…ng…””

Schnell kommt ihre Mama zu Hilfe. "Pingeltante", spricht sie Lilly das Wort laut und deutlich vor.

Jonas geht es ähnlich.

Er schaut im Matheunterricht gebannt auf eine Abbildung im Rechenbuch. Er versucht sich gerade mit der Darstellung zurechtzufinden.

Schon ertönt die Stimme seiner Lehrerin: “Wir kommen zu den Aufgaben. Blättert auf Seite 21.”

Kinder mit Lernschwierigkeiten sind oft unter Druck: Immer wieder fehlt ihnen die Zeit und der Freiraum, den sie fürs Lernen brauchen.

Bedingt durch ihre Schwierigkeiten benötigen sie mehr Zeit. Erst nach mehrmaligem Lesen verstehen sie die Aufgabenstellung. Sie arbeiten sich langsam Schritt für Schritt durch einen Rechenweg. Sie brauchen mehr Wiederholungen, um etwas zu festigen. Genau diese entscheidenden Zeitfenster fehlen den Kindern. Immer wieder werden sie unterbrochen.

Oft mangelt es ihnen auch an den notwendigen Freiräumen beim Lernen. Es geht ihnen wie Lilly in unserer Geschichte: Sie bekommen gar nicht die Möglichkeit, Dinge selbst zu probieren. Selbständig einen Schritt zu wagen. Auf eigene Gedanken und Ideen zu kommen. Fehler zu machen und diese zu korrigieren.

Gut gemeinte Hilfestellungen bremsen die Kinder immer wieder aus. Allzu schnell sind Lehrpersonen und Eltern zur Stelle. Mit unwillkommenen Hinweisen wie “Schau nochmals genau hin!” oder “Bist du dir sicher?” Oder mit schnellen Rezepten: “Das macht man so!” oder “Schau mal, einfacher geht es so…!”

All dies schadet mehr, als es hilft: Denn es nimmt den Kindern die Möglichkeit, selbstwirksam zu sein.

Hier könnt ihr als Eltern einen Unterschied machen.

Ihr könnt eurem Kind die Zeit und den “Raum” schenken, den es beim Lernen braucht.

Wie könnt ihr das umsetzen?

Macht es wie bei einem Kopfsprung: Ihr taucht ins Wasser ein und begebt euch in eine andere Welt. Alles andere lasst ihr hinter euch.

Also: Legt das Mobiltelefon weg. Überlasst die kleinen Geschwister dem anderen Elternteil. Schiebt die Gedanken an Prüfungen und Noten zur Seite.

Taucht gemeinsam mit eurem Kind in die Übungs- oder Lernsituation ein. Richtet eure ungeteilte Aufmerksamkeit auf das, was euer Kind tut. In diesem Moment seid ihr eng mit eurem Kind verbunden und kommt in einen Zustand der geteilten Aufmerksamkeit (“Shared Attention”).

So entsteht ein “Raum”, in dem euer Kind so lernen kann, wie es dies braucht: Es bekommt die Zeit, die es benötigt. Es kann all seine Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse einbringen - ohne dabei ausgebremst oder bewertet zu werden.

Dieser Raum ist nicht leer.

Im Gegenteil: Ihr “füllt” ihn genau mit dem, was euer Kind in dieser Situation braucht. Ihr passt eure Begleitung situativ an: Manchmal genügt eine erneute Erklärung oder ein detailliertes Beispiel. Immer wieder brauchen Kinder mit Lernschwierigkeiten auch andere Wege, die ihnen einen alternativen Zugang erlauben. Dafür holt ihr euch am besten Unterstützung von der Lehrperson oder einer Fachperson eures Vertrauens.

Manchmal ist euer Kind in Schwung und möchte zeigen, was ihm gelingt.

Mutter hilft Tochter bei den Hausaufgaben


Zusatzimpuls


Dann könnt ihr die Dynamik umkehren. So bekommt euer Kind noch mehr Freiraum.

Dazu gebt ihr die “Führung” an euer Kind ab. Ihr nehmt euch bewusst zurück. Ihr lasst euer Kind den Schritt selbst gehen, auch wenn es etwas länger dauert. Ihr spricht kein Wort und beobachtet einfach. Ihr hakt erst dann wieder ein, wenn euer Kind unsicher wird oder um Hilfe fragt.

So entsteht Freiraum, der euer Kind stärkt: Es erlebt, dass es eigene Gedanken entwickeln kann. Dass ihm selbstständig ein Schritt gelingt.

Euer Kind spürt die Kraft, die in ihm steckt. Und euer Vertrauen in diese Kraft.

Impulse #4: Falsch und doch genau richtig


Jonas ist ein “Pandemiekind”.

Er wurde im Sommer 2020 eingeschult. Über Monate war seine Schule pandemiebedingt geschlossen; der Unterricht fand zuhause mit Mama statt.

Jede Woche bearbeitete er unzählige Arbeitsblätter. Stundenlang saß er mit Mama an den Aufgaben. Jeden Freitag gab Mama die bearbeiteten Blätter in der Schule ab.

Eine Rückmeldung bekam Jonas nie: Er wusste nicht, ob er richtig rechnete. Er erfuhr nie, was ihm gelang, und wo es noch schwierig war.

In der Zwischenzeit hat sich das geändert.

Jonas bekommt Rückmeldungen: Hausaufgabenblätter und Prüfungsbögen erhält er rot markiert zurück.

Auf einen Blick erkennt er, dass ihm Mathe nicht gelingt. Das Rot macht sein Scheitern sichtbar. Auch seine Mama blickt erstmals auf die rot markierten Stellen: die Fehler, die Punktzahlen und die Note. Die korrekt berechneten Aufgaben gehen da unter.

Unser menschliches Gehirn liebt Probleme. Denn unsere Vorfahren haben gelernt: Gefahrenabwehr ist essentiell fürs Überleben. Deshalb sucht unser Gehirn ständig nach Fehlern, Abweichungen und Störungen (Täuber, M., Obermaier, P., 2018, 13). Sie ziehen uns magisch an: Unser Blick, unsere Gedanken und Gefühle bleiben wie ein Magnet an den Problemen “kleben”.

Ernüchtert hält Jonas Mama das Prüfungsblatt in den Händen. Wieder hat er eine Prüfung “verhauen” - wieder ein Misserfolg.

Auch eine andere Perspektive auf Fehler ist möglich: als “notwendige Begleiterscheinungen von Lernprozessen” (vgl. Diener, M., Schmassmann, M., 2012: 5). Dann sind Fehler kein Anzeichen für Misserfolg. Vielmehr sind sie die Einladung, an einem Thema weiter dranzubleiben. Fehler werden so zum Anlass, tiefer zu gehen und die Lernsituation des Kindes zu verstehen: Was gelingt ihm bereits? Wo wird es schwierig? Warum ist das so? Was braucht mein Kind?

Merkt ihr, wie sich der Blick verändert?

In dieser Perspektive geht ihr davon aus, dass eurem Kind bereits Vieles gelingt. Bei einigen Dingen passieren “noch” Fehler - sie gelingen “noch nicht”. Hier braucht euer Kind einfach noch etwas mehr Zeit und Übung, dann wird es auch klappen.

Diese Betrachtungsweise stellt die positive Entwicklung ins Zentrum. Sie verschiebt den Blick weg von den Fehlern und Problemen hin zu dem, was möglich ist. Sie vermittelt Zuversicht und Hoffnung.

Wir laden euch ein, Fehler so zu sehen.

Lasst euch nicht vom vielen Rot überwältigen. Nehmt ein korrigiertes Arbeitsblatt oder eine Prüfung erstmals zu euch. Schaut sie in einer ruhigen Minute durch. Richtet euren Blick auf das, was eurem Kind bereits gelingt. Erst dann schaut ihr auf das, was es “noch nicht” schafft. Bespricht die Prüfung dann gemeinsam mit eurem Kind.

Startet mit dem, was geklappt hat: “Schau mal, hier hast du erkannt, dass es ums Thema .. geht. Drei von fünf Antworten hast du gewusst!”

Erst nachher wechselt ihr zu den Dingen, die euer Kind noch nicht geschafft hat: “Schau, hier hast du die Großschreibung am Satzanfang vergessen. Lass uns das nochmals zusammen anschauen!”

Verbindet die Rückmeldung mit dem Angebot, euer Kind zu unterstützen. So werden ihm diese Dinge auch bald gelingen.

Mädchen sitzt an den Hausaufgaben



Impuls #5: Mit Händen und Füßen


Zum zehnten Mal.

So oft schaut Jonas bereits auf die Zahlenreihe:

880, 850, 820…

Es ist zum Verzweifeln: Er soll die Zahlenfolgen auf seinem Arbeitsblatt fortsetzen. Wie oft er auch hinschaut: Die Zahlen bleiben leblose Zeichen auf seinem Blatt.

Jonas erlebt es gerade: Schulisches Lernen ist oft ein “eindimensionaler”, passiver Prozess.

Mit der zahlenbasierten Aufgabe kann Jonas die Zahlenfolge nur über den visuellen Kanal angehen. Er sitzt an seinem Schreibtisch und schaut auf die Zahlen.

Das könnte anders sein: Denn Lernen ist ein aktiver Prozess (vgl. Diener, M., Schmassmann, M., 2012: 3). Je aktiver Kinder dabei sind, desto einfacher und wirkungsvoller ist das Lernen.

Die Pädagogin Maria Montessori maß den Händen und dem Tastsinn besondere Bedeutung zu. Das Wort „be-greifen“ deutet genau dies an: Darin steckt das Wort “greifen” - also Dinge mit den Händen zu ertasten, zu erforschen und auszuprobieren. Natürlich bedeutet “begreifen” auch “verstehen” - also eine Denkleistung. Der Begriff verbindet also Hand und Kopf (vgl. Polk Lillard, P, Lillard Jessen, L, 2012: 68ff).

Gerade Mathematik ist für viele Kinder mit Lernschwierigkeiten nur schwer zugänglich. Sie erleben das Fach im Schulunterricht als ein Dickicht aus abstrakten Erklärungen und unergründbaren Darstellungen. Das sollte nicht so sein: Denn Mathematik ist ein “lebendiger, vielfältiger Unterrichtsbereich, in dem die Kinder viel erforschen und entdecken können” (vgl. Diener, M., Schmassmann, M., 2012: 3). Er umfasst viel mehr als nur “Rechnen”, sondern auch das “Erkunden, Gestalten und Beschreiben von Mustern und Zusammenhängen” (vgl. Diener, M., Schmassmann, M., 2012: 3). Zentral ist auch der Alltagsbezug: Denn damit erkennen die Kinder, dass Mathe in ihrem Leben einen alltäglichen, praktischen Nutzen stiftet.

Leider bleiben diese Facetten des Lernens im Schulalltag oft auf der Strecke.

Genau da könnt ihr als Eltern eure Kinder unterstützen.

Wir laden euch ein: Streut etwas “Salz und Pfeffer” in den Schulalltag eurer Kinder. Bringt Kreativität, Spiel, und Bewegung ins Üben und Lernen.

Das könnte so aussehen:

Euer Kind soll in Geometrie den Umfang eines Rechtecks berechnen. Dazu geht ihr ins Freie: Auf einem Spaziergang schreitet ihr gemeinsam den Umfang eines rechteckigen Gartens oder einer Viehweide ab. So erlebt euer Kind, wo Rechtecke im Alltag vorkommen und wie sie aussehen. Es sieht den konkreten Alltagsbezug der Aufgabe.

Euer Kind soll einen langen Text lesen und verzweifelt daran. Hier hilft Bewegung: Verschiebt den Lernort beispielsweise auf ein Trampolin. Euer Kind liest immer einen Satz und hüpft leicht dazu. Nach jedem Abschnitt darf es zur Belohnung drei wilde Sprünge ausführen. Da steigt die Motivation sprunghaft an!

Euer Kind soll sich Lernwörter einprägen. Hier könnt ihr gemeinsam mit eurem Kind zu jedem Lernwort eine Geste finden. Ein Beispiel: Fürs Wort “trinken” hebt euer Kind die Hand, als ob es ein Trinkglas zum Mund führt. Wenn es sich die Vokabeln “to drink” oder “boire” einprägen soll, macht es immer diese Handbewegung dazu.

Lernen kann fantasievoll und einfallsreich sein. Deshalb dürft ihr immer wieder neue Ideen einbringen. Fragt euer Kind, wo und wie es gerne eine Aufgabe bearbeiten möchte. Damit bindet ihr euer Kind aktiv in den Lernprozess ein: Es wird so noch motivierter mitmachen.

Vater und Kind an einem überdimensionalen Globus



Bonus-Impuls: Besser gemeinsam als einsam


“Warten Sie ab! Das kommt schon!”

Diesen beruhigenden Ratschlag erhalten viele Eltern von Kindern mit Lernschwierigkeiten. Leider erfüllt sich diese Hoffnung meist nicht.

Gehen wir dazu nochmals zu Jonas:

Er besucht die 3. Klasse und verwendet oft den zählenden Weg. Aufgaben im Zahlenraum bis 100 konnte er teilweise noch bewältigen. Im großen Zahlenraum steht er damit an. Die Schere zwischen seinem Leistungsstand und dem aktuellen Schulstoff geht immer weiter auf.

Das Beispiel verdeutlicht: Zu späte Unterstützung kann den weiteren Lernverlauf stark beeinträchtigen (vgl. Diener, M., Schmassmann, M., 2012: 3). Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie bringt es auf den Punkt: “Der Unterricht darf für den betroffenen Schüler nicht zum belastenden Kraftakt werden, da Denkmuster sich leider an Misserfolgserlebnissen orientieren. Es muss unbedingt vermieden werden, dass der Schüler immer wieder scheitert und letztendlich aufgibt.” (Durchholz, M., Küspert, P., et al., 2020: 27)

Glücklicherweise besitzen Lehrpersonen viele Möglichkeiten, Kinder mit Lernschwierigkeiten zu entlasten und zu fördern.

Hier einige Stellhebel: Im Unterricht kann eine Lehrperson das Niveau und den Umfang des Stoffes anpassen. Verschiedene Hilfsmittel (z.B. Wörterbücher) können das Kind entlasten. In Prüfungssituationen kann die Lehrperson die Zeit verlängern oder die Aufgabenstellung vorlesen. Für die Hausaufgaben können Lehrperson und Eltern eine Entlastung fürs Kind vereinbaren; beispielsweise eine zeitliche Begrenzung.

Lehrpersonen verfügen über einen pädagogischen Ermessensspielraum (Durchholz, M., Küspert, P., et al., 2020: 19). Diesen sollen sie zum Wohl der Kinder mit Lernschwierigkeiten einsetzen.

Wir laden euch ein: Sprecht die Lehrperson eures Kind auf diese Möglichkeiten an. Fordert ein, dass es Entlastung und Hilfe erhält.

Zusatzimpuls


In der Schulsituation können viele Emotionen stecken. Gleichzeitig entstehen die besten Lösungen, wenn alle Involvierten gemeinsam in die gleiche Richtung arbeiten.

Wir laden euch deshalb ein: Lasst in Elterngesprächen euren Ärger, Vorwürfe und Anschuldigungen beiseite. Sie helfen eurem Kind nicht. Vielmehr führen sie beim Gegenüber zu Abwehr und Blockade. Versucht einen konstruktiven Austausch mit der Lehrperson in Gang zu bringen.

Dieser wird sich für euer Kind auszahlen.

Ja, ihr könnt und dürft…

Zu spät, verfehlt oder gar nicht.

Viele Kinder mit Lernschwierigkeiten erhalten im Schulsystem nicht die Unterstützung, die sie brauchen.

Deshalb fragen wir: Was können wir tun, um ihre Situation zu verbessern?

Was können wir als Gesellschaft tun? Was kann die Schule tun? Was können Lehrpersonen tun? Was können wir als Eltern tun?

Leider gibt es auf einige dieser Fragen keine schnellen, einfachen Antworten. Vieles liegt außerhalb unseres Einflussbereichs.

Gleichzeitig gibt es Dinge, die wir Eltern beeinflussen können - für unsere Kinder.

Wir laden euch ein, genau dort anzusetzen: Macht euch die vertrauensvolle Eltern-Kind-Beziehung zunutze und verändert so die Lernsituation eures Kindes. Schützt es vor Überforderung; nehmt den Druck raus.

Viele Eltern schrecken davor zurück. Sie fragen sich: Kann ich das? Darf ich das?

Ja, ihr könnt und dürft.

Ihr seid eng mit eurem Kind verbunden. Ihr durchlebt mit ihm die schwierigen Situationen. Ihr spürt, was es braucht. Jeder Schritt in Richtung Entspannung ist wertvoll.

Wir wissen aus unserer Arbeit mit betroffenen Familien: Es lohnt sich, fürs eigene Kind einzustehen und dranzubleiben. Denn Lernschwierigkeiten wachsen sich nicht aus. Die Kinder brauchen gezielte Unterstützung - je früher, je besser.

Wenn diese Hilfe nicht kommt, dann dürft ihr sie einfordern. Fragt in der Schule nach oder zieht eine Fachperson eures Vertrauens bei.

Nun seid ihr an der Reihe: Was ist euer erster Schritt, um die Situation eures Kindes anzugehen?

Wir freuen uns auf eure Kommentare.

Quellen


Börner, G., Börner, K., Brettschneider, J. et al.; Rechenschwäche verstehen. Essen/Volxheim: Rechenschwächeinstitut Volxheim; 1998.

Büchner, B., Kortländer, M., Werner, B., et al.; Legasthenie – eine Krankheit, eine Behinderung, eine Störung?; Verein Legakids 2009.

Diener, M. und Schmassmann, M.; Lernschwierigkeiten in Mathematik entschärfen - aber wie?; Verband Dyslexie Schweiz 2012.

Durchholz, M., Küspert, P., Haberstroh, S. und Volkmer, S.; Dyskalkulie in der Schule: Handreichungen für Lehrkräfte; Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V.; 2020

Fischbach, A., Schuchardt, K., Brandenburg, J., et al.; Prävalenz von Lernschwächen und Lernstörungen; Zur Bedeutung der Diagnosekriterien; Lern Lernstörungen 2013; 2: 65–76.

Gaidoschik, M.; Fellmann, A., Guggenbichler, S.; Computing by counting in first grade: It ain’t necessarily so; CERME 9 - Ninth Congress of the European Society for Research in Mathematics Education, Charles University in Prague 2015: 259-265.

Marcus, T. und Obermaier, P., Alles reine Kopfsache: 5 Phänomene aus der Hirnforschung, mit denen Sie alles schaffen, was Sie wollen!; 2018

Moser Opitz, E.; Rechenschwäche/Dyskalkulie; Theoretische Klärungen und empirische Studien an betroffenen Schülerinnen und Schülern; Beiträge zur Heil- und Sonderpädagogik; Erziehung Unterricht Diagnostik Therapie, 2. Auflage; 2013.

Moser Opitz, E.; Rechenschwäche diagnostizieren; In: Fritz, Annemarie, Ricken, Gabi & Schmidt, Siegbert: Handbuch Rechenschwäche, 2. Auflage; 2009: 286 – 307.

Polk Lillard, P. und Lillard Jessen, L.; Montessori von Anfang an. Ein Praxishandbuch für die ersten drei Jahre des Kindes; 2014.

Remschmidt, H. und Walter, R.; Psychische Auffälligkeiten bei Schulkindern: Eine epidemiologische Untersuchung; Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 1990; 18: 121–32.

Schulte-Körne, G.; Diagnostik und Therapie der Lese-­Recht­schreib-Störung; Deutsches Ärzteblatt 2010; 107(41): 718-27.

Schulte-Körne, G.; Verpasste Chancen: Die neuen diagnostischen Leitlinien zur Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung der ICD-11; Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2021; 49(6):1-5.

Schulte-Körne, G. und Remschmidt, H.; Legasthenie – Symptomatik, Diagnostik, Ursachen, Verlauf und Behandlung; Deutsches Ärzteblatt 2003; 100(7): A-396 / B-350 / C-333.

Shaywitz, S.E., Shaywitz, B.A., Fletcher, J.M. und Escobar, M.D.; Prevalence of reading disability in boys and girls; Journal of the American Medical Association 1990; 264: 998–1002.

vds Verband Dyslexie Schweiz, Legasthenie und Dyskalkulie – Ein Risiko für den Erfolg in der Bildung? (aufgerufen am 12.10.2022)


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.