Spielzeugwaffen für Kinder - harmloses Zeug oder absolutes No-Go?

Mein Sohn Herr Friedlich ist 3;6 Jahre alt und spielt in letzter Zeit total gern mit Waffen. Einen großen Teil dieser Waffen gibt es schon seit gut acht Jahren in unserem Kinderzimmer, doch meine Töchter beschäftigten sich damit meist nur halbherzig und sporadisch damit. Für Herrn Friedlich aber können die "Schießgewehre" nicht groß genug sein - er baut sich aus Duplosteinen riesige Monsterwaffen, die er kaum tragen kann und sieht in jedem Stock auf der Straße eine "Schießkanone", die unbedingt aufgesammelt werden muss. Ähnliches höre ich von anderen Eltern mit Söhnen in seinem Alter. Dieser Artikel soll sich damit beschäftigen, warum das wohl so ist, und wie wir Eltern damit umgehen können.

Spielzeugwaffe aus Duplo-Steinen
"Schießkanonen" aus Duplo


Warum spielen Kinder gern mit Waffen?


Spiegelneurone


Als mein Sohn etwa ein halbes Jahr alt war, verbrachten wir den Vormittag oft in einem Spielcafé. Dort lag er auf dem Boden und guckte den spielenden Kindern zu, während ich bei einem Kaffee entspannte. Während ich ihn so beobachtete, fiel mir etwas Spannendes auf. Herr Friedlich schien mit Vorliebe kleinen Jungen zuzugucken. Bei Mädchen und ihren Spielen verweilte sein Blick immer nur kurz, doch das, was die Jungen so machten, ließ ihn sehr aufmerksam werden. Es schien mir, dass etwas in ihm ihn unbewusst dazu brachte, sich die Mitglieder seines "Stammes" genauer anzusehen, zu denen er gehörte, bevor er selbst wusste, dass er ein Junge* ist (oder dass es überhaupt so etwas wie Geschlechtskategorien gibt). Möglicherweise war das damals reiner Zufall, doch bemerkenswert fand ich es schon, denn diese (vermeintliche) Beobachtung bringt mich zu meinem ersten Argument, warum Kinder - und ganz klischeehaft vor allem Jungen - gern mit Waffen spielen: Spiegelneurone.

aufmerksam schauendes Kind
Kinder beobachten gern

Die Spiegelneuronen in unserem Gehirn sind eine fabelhafte Sache. Beobachtet ein Mensch einen anderen Menschen bei einer Handlung, feuern in seinem Gehirn genau die gleichen Areale, wie in dem Gehirn des aktiven Handelnden. Das Gehirn des Zuschauers lernt sozusagen schon einmal die Schritte der Handlung vor, für den Fall, dass er das einmal brauchen wird. So kommt es, dass unsere Kinder schon sehr früh Dinge interessant finden, die sie bei uns tagtäglich sehen (am Handy spielen, kochen, das Zimmer saugen etc.), und sie anfassen und mit ihnen spielen wollen. Ab einem Alter von etwa einem Jahr machen unseren Kindern deshalb auch solche Spielzeuge am meisten Spaß, mit denen sie die Erwachsenenwelt imitieren können. Seinen Höhepunkt hat dieses Imitationsspiel etwa ab dem 2. bis zum 3. Geburtstag. Dabei unterscheiden die Kinder noch nicht in den Tätigkeiten, die sie nachmachen: in diesem Alter spielen auch z. B. auch Kinder, die männliche äußere Geschlechtsmerkmale haben, mit der Kinderküche, dem Kinderbesen oder hängen gern Wäsche auf der Kinderwäscheleine auf. Sie imitieren einfach alles, was sie sehen und spannend finden.

Ab drei Jahren wird es für die Frage, warum unsere Kinder so gern mit Waffen spielen, spannend. Das ist normalerweise der Zeitpunkt, in dem Kinder in indigenen Kulturen von der Obhut der Eltern in die altersgemischte Kindergruppe entlassen werden. Unsere Kinder sind ab diesem Alter meist in Kitas bzw. in Kindergartenfrei-Gruppen zu finden, d. h. auch in einer altersgemischten Gruppe. Im Steinzeitalter mussten die kleinen Dreijährigen nun gut aufpassen und von ihren älteren Freunden lernen. Spielend zogen sie durch den Urwald und lernten, essbare Pflanzen zu identifizieren, auf Bäume zu klettern oder kleine Tiere zu erlegen. In der Kita passiert ähnliches. Und nun kommt die (gesellschaftlich forcierte) Geschlechtertrennung mit ins Spiel.

Geschlechtsorientierung, Geschlechtsidentität und Geschlechtszugehörigkeit


Geschlechtsidentität ist die subjektive Einschätzung eines Menschen, welchem Geschlecht er oder sie angehört, im Gegensatz dazu, für was andere ihn halten. Ein Kind mit Penis wird von den meisten Menschen für einen Jungen gehalten, das heißt aber nicht, dass dieses Kind im Inneren tatsächlich ein Junge ist. Es kann sich selbst als weiblich verorte oder auch als genderfluid. Darum soll es hier in diesem Artikel allerdings nicht gehen, das können andere (Nina und Zezyra) auch besser als ich. Hier geht es eher darum, dass Kinder etwa ab drei Jahren spüren und wissen, zu welchem Geschlecht sie sich zugehörig empfinden und ab diesem Alter eben sehr stark darauf achten, was die anderen so machen und womit sie spielen. Soll heißen: Ein Kind, das sich als Junge verortet, wird besonders ältere Jungs und Männer beobachten, ein Kind, das sich als Mädchen fühlt, wird gucken, was andere Mädchen und Frauen so tun.

kleines Spielzeugwaffenarsenal

In der Kita orientieren sich unsere Kinder aktiv an den größeren Kindern der Gruppe. Und bei denen geht es - da das der Fokus unserer Gesellschaft ist - auf der einen Seite um stark sein, Wettkampf, kämpfen, Star Wars etc., auf der anderen Seite um schön sein, rosa Feen, Glitzer, Einhörner etc. Es tut mir leid, hier so klischeebehaftet schreiben zu müssen, aber in den Kindergärten unseres Landes ist das leider immer noch Alltag. Falls eure Kinder also in Kindergruppen gehen, in denen es "wilde Jungs" und "friedliche Mädchen" gibt, steht die Chance ziemlich hoch, dass eure dreijährigen Töchter sich bald "das glitzernde Elsa-Kleid" und eure dreijährigen Söhne sich bald ein "Laserschwert" wünschen.

Denn die Elternschaft in Kitas ist bunt gemischt. So kann es durchaus sein, dass eure Kinder mit Kindern zusammen spielen, deren Eltern strikt heteronormativ leben und unbewusste Mitteilungen in dieser Richtung aussenden. Hinzu kommen die soziokulturellen Erfahrungen eines Kindes - eine Unterteilung in "Mädchensachen" und "Jungssachen" sind leider Gottes so alltäglich, dass man ihnen nirgendwo entkommt. Mein (damals zweijähriger!) Sohn wurde in der Kita wiederholt von einem Vorschulkind geärgert, das meinte, Herr Friedlich sei ja wohl ein Mädchen, da er einen lila Schneeanzug trüge. Fräulein Ordnung wiederum, die herbeigeeilt war, um ihrem Bruder zu helfen, wurde von dem Vorschulkind als Junge betitelt, denn sie trug einen hellblauen Anzug. Das zeigt, wie aussichtslos es eigentlich ist, zuhause gutes Vorbild zu sein - in der "Welt da draußen" werden unsere Kinder leider doch mit der Rosa-Hellblau-Falle konfrontiert werden. Und da Kinder in diesem Alter wirklich ungern aus der Reihe tanzen, werden sie sich an diese bekloppte Unterteilung ihrer kleinen Welt halten. Sprich: Kinder, die fühlen, dass sie ein Junge sind, werden sich "jungstypisch" verhalten, Kinder, die sich als Mädchen fühlen, "mädchentypisch". Lebten wir in einer Gesellschaft, die nicht so albern unterscheiden würde, würden unsere Kinder auch nicht so entschieden getrennte Vorlieben entwickeln. Mit etwa vier Jahren hat diese extreme Orientierung an dem, was dem eigenen Geschlecht "erlaubt" ist übrigens ihren Höhepunkt. Ab dem 5. Lebensjahr ebbt das merklich ab und mit etwa 6 Jahren (mit Schuleintritt) sind viele Kinder wieder entspannt genug, um auch ein Stück weit abseits vom Mainstream zu laufen.

Sich machtvoller fühlen


Wenn man drei oder vier Jahre alt ist, ist man noch ziemlich klein. Man darf leider nur wenige Sachen allein tun oder entscheiden und wenn es schlecht läuft, wird man vielleicht sogar von einem Erwachsenen gegen den eigenen Willen hochgehoben oder weggezerrt. Das Leben eines Drei- oder Vierjährigen besteht aus nervig vielen Regeln und Neins, die von machtvollen Großen durchgesetzt werden. Selbst in beziehungs- und bedürfnisorientierten Familien besteht dieses Gefälle an Möglichkeiten.

Spielzeugwaffen, Zauberstäbe oder das Identifizieren mit magischen, machtvollen Figuren wie Feen oder Superhelden und -innen ist ein Weg für Kinder, sich mächtiger zu fühlen. Meines Erachtens besteht keinerlei Unterschied zwischen dem So-Tun-Als-Ob-Spiel als Fee oder als Panzerfahrer. Nur wir Erwachsenen machen da einen (gefühlten) Unterschied. Das eine finden wir niedlich, das andere krass. Aber der Sinn für die Kinder ist der Gleiche: sich in eine Fantasiewelt zu flüchten, in welcher man nicht ohnmächtig Regeln befolgen muss, sondern ein mächtiger Entscheider ist; eine Welt, in der man groß und stark und ohne Angst ist. Wenn man also seinen Töchtern erlaubt, rosa-glitzer-Tüllkleider, Feenflügel, Zauberstab und Prinzessinnenkrone zu tragen, wäre es höchst ungerecht, Nein zu Laserschwertern, Supermankostüm, Cowboy-Pistolen oder schießenden Batman-Autos zu sagen.


Warum ich meinen Kindern erlaube, mit Spielzeugwaffen zu spielen


Spiel als Fenster in die Seele


Im Spiel zeigen Kinder, was sie gerade beschäftigt. Dieses Spiel zu unterdrücken, weil man als Erwachsener andere Assoziationen dazu hat, hieße, dieses offene Fenster in die Seele zu verschließen und sich selbst der Möglichkeit zu berauben, zu verstehen, was gerade an Ängsten und Wünschen in unseren Kindern abgeht.

Meine Töchter zum Beispiel haben, als Herr Friedlich gerade geboren war (also mit etwa 3;6 Jahren), sehr viel Zeit damit verbracht, zu spielen, sie wären Waisenkinder. Sie steigerten sich richtig in ihre Rollen rein, manchmal weinten sie sogar ein bisschen, weil "ihre Eltern tot waren". Mir bereitete dieses Spiel totales Unbehagen. Aber ganz offensichtlich brauchten die beiden das, um mit ihrem gefühlten "Verlust" der Eltern, die gerade schwer mit dem Neugeborenen beschäftigt waren, umgehen zu lernen. Im Spiel bearbeiteten sie ihre Ängste, wirklich allein auf sich gestellt zu sein und nur noch die jeweilige Schwester zum Liebhaben und Festhalten zu haben.

Spiderboy

Herr Friedlich wiederum ist der Kleinste in unserer Familie, und sicherlich auch noch der Schwächste. Kein Wunder also, dass er gerade die starken Superhelden anhimmelt und überall nur noch in seinem Spidermankostüm auftaucht. Kein Wunder auch, dass er machtverstärkende Hilfsmittel im Spiel gebraucht:  Pfeil und Bogen zum Beispiel, mit denen er auf der Lauer liegt, um "die bösen Diebe" zu fangen, die seinen Roller aus dem Keller geklaut haben.

Magisches Denken


Bis zum 7. oder sogar 8. Lebensjahr befinden sich Kinder noch im Magischen Denken. Alles, was passiert, kann in ihren Augen durch Zauberei erklärt und auch wieder gut gemacht werden. In diesem Lebensalter haben Kinder noch keinerlei Vorstellung für die Endgültigkeit des Todes. Deshalb haben sie auch keine Angst und kein schlechtes Gewissen, wenn sie andere "totschießen" mit ihrem gefundenen Stöcken. Wir Erwachsenen denken schon realistisch und sehen deshalb Panzer und Gewehre als abscheuliche Mittel, um andere zu töten. Wir wissen auch, dass der Tod unwiderruflich ist. Deshalb sind wir zutiefst schockiert, wenn unsere Kinder mit "so etwas" spielen wollen. Wir wollen keinen kriegsverherrlichenden, sondern pazifistischen Nachwuchs. Doch wir tun ihnen damit Unrecht, denn ihre Denkweise ist noch eine völlig andere, als unsere. Ihr Spiel mit dem Tod und todbringenden Mitteln ist noch unschuldig und ist kein Zeichen davon, dass sie Massenmörder werden wollen. In ihrer Welt steht der erschossene Freund in einer Minute wieder auf, und sie können erneut anfangen, sich "totzuschießen".
auch Äste von Bäumen werden zu Waffen umfunktioniert

Auch Todesdrohungen den Eltern gegenüber wie z. B. "Ich schmeiße dich aus dem Fenster!" , mit denen (meist) Vorschulkinder manchmal drohen, sind kein Grund, um als Erwachsener panisch zu überlegen, was in der Erziehung falsch gelaufen sein könnte. Übersetzt bedeutet "Ich will dich aus dem Fenster schmeißen" einfach nur: "Ich bin so wütend  mit dir, dass ich dich am liebsten auf den Mond schießen würde." Ihnen ist nicht klar, wie mega krass ein solcher Satz auf uns wirkt. Sie wollen nicht wirklich, dass wir tot sind und sie können auch noch nicht die Dimension des echten Todes nachvollziehen! Manche Kinder sagen in diesem Alter manchmal auch "Ich möchte sterben!" Auch in diesem Fall ist den Kindern nicht vollständig bewusst, was sie da sagen. Sie meinen "Ich fühle gerade sehr viele intensive Gefühle, die ich schlecht aushalten kann. So viel Schmerzen möchte ich nicht ertragen, deshalb wünsche ich mir einen Ausweg, sie nicht mehr fühlen zu müssen."

Interesse am Thema Tod


Vielleicht ist es euch schon aufgefallen: Vierjährige interessieren sich im Allgemeinen sehr für das Thema Tod. Auch wenn sie emotional noch nicht vollständig greifen können, was die Endgültigkeit des Todes wirklich bedeutet, wollen sie gern die technischen Details wissen. Waffen und Panzer als Verursacher des Todes sind schon allein deshalb in diesem Alter interessant. (Und falls euer Kind gerade in dieser Phase ist, diese Bücher gibt es dazu. Sie sind alle ganz okay, keins ist ideal: Ente, Tod und Tulpe, Und was kommt dann? - Ein Kinderbuch vom Tod, Abschied von Opa Elefant, Papa, wo bist du?, Für immer. Ein vierfarbiges Kinderbuch, Wo die Toten zuhause sind, ...)

Interesse am Thema Tod

Welche Einschränkungen sollte man machen?


Ein paar Regeln sollte es selbstverständlich im Umgang mit Spielzeugwaffen geben.

  • Aufeinander schießen (z.B. mit Nerf-Guns) sollte man ausdrücklich nur mit dem Einverständnis des anderen und auch nur mit Schutzkleidung (Brille für die Augen).
  • Stopp muss immer Stopp sein.
  • Gibt es in der Familie und unter den Freunden niemanden, der beschossen werden möchte, darf nur auf Zielscheiben und andere geeignete Ziele geschossen werden.
  • Gibt es im Umfeld Menschen, die diese Spiele nicht aushalten können, werden entsprechende Spielzeuge für die Dauer des Besuches nicht rausgeholt.
  • Ego Shooter (für das Alter eh nicht, aber später dann) sind zu real für die Spiegelneuronen unseres Gehirns - Jugendliche sollten sie noch nicht spielen.
Hinzu kommt: Habt ihr als Eltern keine Lust auf das Kriegsspiel, dürft ihr euch ganz authentisch verweigern. Daran zerbricht kein Kind. Aber es ihm selbst verbieten, ist tatsächlich unnötig.

Es ist nur eine Phase!


Liebe Eltern, es ist nur eine Phase. Wirklich. Die extremen "Ich-bin-eine-Eiskönigin-und-ziehe-nur-glitzerne-Tüllkleider-an!"- und "Ich-bin-ein-starker-Superman-und-wir-müssen-alle-großen-Stöcke-dieser-Welt-zuhause-sammeln!"- Lebensabschnitte gehen vorbei. Denkt mal an eure eigene Kindheit zurück. Habt ihr mit Pfeil und Bogen gespielt? Mit kleinen Soldatenfiguren? Ja? Und liebt ihr heute den Krieg? Nee! Stimmt's?

In jungen Jahren mit Waffen, Soldatenpüppchen oder Panzern spielen zu dürfen macht Kinder nicht automatisch später zum/zur Waffennarr_in oder  Kriegsverherrlicher_in. Machen wir also kein Problem aus etwas, das keins ist. Gönnen wir unseren Kindern ihre kleinen Machtverstärker und bleiben wir cool.

*Wir wissen, dass er ein Junge ist, weil er es mit seinen nun 3;6 Jahren selbst sagen kann.



@ Snowqueen