"Liebe und Eigenständigkeit" - Alfie Kohn

Es gibt Bücher, die verändern das Leben. Und "Liebe und Eigenständigkeit"* von Alfie Kohn ist das Buch, das mein Leben verändert hat - oder vielmehr das meiner Kinder. Auf die Frage an den Arbor Verlag, ob er uns für diese Rezension ein Exemplar des Buches zum Verlosen zur Verfügung stellen würde, bekam ich die Antwort, dass man uns sehr gerne zwei Exemplare zusenden würde. Ganz schlicht stand in der Mail: "Wir lieben dieses Buch". Oh ja, ich liebe es auch - vor allem dafür, dass es mir die Augen geöffnet hat.


Gestolpert bin ich über "Liebe und Eigenständigkeit" vor etwa zwei Jahren. Damals musste meine Tochter (ganz frisch 4 Jahre alt) ein bitteres Antibiotikum einnehmen und fragte mich, als ich es ihr gab: "Mama, lobst Du mich, wenn ich die Medizin ganz tapfer nehme?" Ich war ziemlich irritiert darüber, dass sie ein Lob aktiv erfragte. Schließlich lobte ich sie doch immer in ganz normalem Umfang - eben so, wie jeder Kinder gemeinhin lobt - nicht übertrieben, aber herzlich. Ich begann für einen Artikel über das Loben von Kindern zu recherchieren. Snowqueen drückte mir damals das Buch von Kohn  in die Hand und meinte, sie hätte es noch nicht gelesen, aber da wäre auch ein Kapitel zum Loben drin - vielleicht würde mir das bei meinem Artikel weiter helfen. Ich begann das Buch zu lesen und schon die ersten Seiten erschütterten mich und mein komplettes Erziehungsbild.
 
Ich bin jemand, der grundsätzlich gerne alles unter Kontrolle hat - das hat sich auch auf meine damalige Erziehung ausgewirkt. Ich hielt Erziehung dann für geglückt, wenn meine Kinder das taten, was ich von ihnen verlange. Um sie dazu zu bringen, hielt ich Konsequenz und logische Konsequenzen für die besten Erziehungsmittel - ich war ganz stolz auf meine vermeintlich innovative autoritative Erziehung. Daher war ich wirklich erschrocken, als Alfie Kohn mir schon auf den ersten Seiten seines Buches klar machte, dass dieser Weg nicht zu dem führt, was ich mir für meine Kinder eigentlich langfristig wünsche. Ihr findet  übrigens das erste Kapitel des Buches hier als Leseprobe.

Das Buch enthält insgesamt 10 Kapitel, die ich Euch im Folgenden recht ausführlich zusammenfassen will - das Thema ist so komplex, dass ich mich einfach nicht kurz fassen konnte. Am Ende des Artikels erfahrt ihr, wie ihr Euer persönliches Exemplar gewinnen könnt.
 
 

Einleitung

 
Alfie Kohn - selbst Vater von zwei Kindern - erzählt in der Einleitung seines Buches davon, wie überrascht er davon war, dass es so anstrengend ist, Kinder großzuziehen. Und gerade weil es streckenweise so schwierig ist, liegt das Hauptaugenmerk der meisten Eltern darauf, Kinder dazu zu bewegen, das zu tun, was wir von ihnen wollen. Ein Kind gilt in unserer Gesellschaft als "gut erzogen", wenn es gehorsam ist und so wenig wie möglich stört. Zwar wandelten sich in den letzten Jahrzehnten die Methoden, Kinder zu erziehen - mittlerweile werden Auszeiten verhängt, Belohnungssysteme eingeführt und logische Konsequenzen angewendet und nicht mehr körperlich gezüchtigt - das Ziel ist jedoch seit Jahrhunderten für die meisten Eltern das selbe - Kinder, die sich angemessen im gesellschaftlichen Rahmen bewegen, die tun, was man ihnen sagt und die nicht durch schlechtes Benehmen auffallen.

Kohn fragt Eltern häufig nach den langfristigen Zielen für ihre Kinder. Es werden immer die selben genannt - fast alle wünschen sich, dass ihre Kinder "glückliche, ausgeglichene, selbständige, ausgefüllte, produktive, selbstbewusste, seelisch gesunde, freundliche, rücksichtsvolle, verantwortungsbewusste, liebevolle, wissbegierige und zuversichtliche Menschen" werden. Nur tragen die Methoden, mit denen wir unsere Kinder erziehen, dazu bei? Warum verhalten wir uns häufig vielmehr so, dass unsere Kinder lernen, zu gehorchen und fügsam zu sein? Diese Worte tauchen nie bei den Wünschen der Eltern für ihre Kinder auf und dennoch zielt das Handeln vieler Eltern vornehmlich darauf ab.

Mit diesem Buch soll eine alternative Sichtweise angeregt werden. Anstatt die üblichen Erziehungsstrategien zu nutzen, die Kinder quasi wie Objekte behandeln,  sollen Wege gefunden werden, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Und das soll ohne Strafen und Belohnungen zur Steuerung des Verhaltens geschehen, sondern durch die Art, wie wir uns unseren Kindern gegenüber verhalten.
 

1 Wenn Elternliebe an Bedingungen geknüpft ist


Das erste Kapitel beginnt mit der Frage, ob wir unseren Kindern tatsächlich die Art von Liebe schenken, die sie wirklich brauchen. Die meisten Erziehungsansätze basieren nämlich darauf, unseren Kindern nur dann Liebe zu schenken, wenn sie sich so benehmen, wie wir es von ihnen erwarten. Unangemessenes Verhalten wird mit Ignorieren, Schimpfen, Auszeiten oder Abwenden bestraft, also im Grunde mit dem Entzug von Liebe. Dass die Angst vor dem Verlust der elterlichen Liebe tief verwurzelt ist, erkennen wir daran, dass solche Erziehungsmethoden tatsächlich funktionieren. Kinder ändern nämlich gezielt ihr Verhalten, damit wir ihnen unsere Liebe eben nicht entziehen. Aber die Tatsache, dass das funktioniert, sollte uns eher nachdenklich machen, als die Annahme bestätigen, dass es sich deswegen um "gute" Erziehungsmethoden handelt.

Kohn sagt ganz deutlich: "Kinder sollten sich unsere Anerkennung nicht verdienen müssen". Unsere Liebe sollte nicht davon abhängen, wie sie sich verhalten oder welche Leistungen sie vollbringen, unsere Liebe sollte bedingungslos sein. Nun wird jeder Vater und jede Mutter einwenden, dass sie ihr Kind natürlich bedingungslos lieben und das wird auch tatsächlich so sein. Nur: es reicht nicht aus, bedingungslos zu lieben - entscheidend ist vielmehr, ob sich das Kind bedingungslos geliebt fühlt.

Kinderhand mit GänseblümchenDass wir unsere Liebe an Bedingungen knüpfen, ist den meisten gar nicht bewusst. Das liegt vor allem an unserer eigenen Erziehung zum anderen an unserem Umfeld. Wir sind regelrecht darauf konditioniert, unsere Liebe zur Beeinflussung unserer Kinder zu verwenden. Benimmt sich ein Kind schlecht, schauen wir nicht, warum es das tut - für ins ist nur wichtig wie wir dieses Verhalten möglichst effektiv abstellen.

Bei der heute weit verbreiteten Erziehung  - ich nenne sie mal "konventionell" oder "traditionell" - wird davon ausgegangen, dass Kinder hauptsächlich durch Verstärkung lernen: erwünschtes Verhalten wird gelobt, unerwünschtes bestraft. Beim bedingungslosen Erziehungsansatz geht man dagegen davon aus, dass hinter jedem Verhalten ein Grund steckt. Jedes Verhalten ist außerdem ein Ausdruck von Gefühlen und Gedanken. Wir sollten diese Gründe nicht ignorieren, indem wir uns allein auf die Beeinflussung des Verhaltens konzentrieren.

Beide Erziehungsansätze unterscheiden sich gravierend voneinander. Der traditionelle geht (durchaus unbewusst) davon aus, dass Kinder egoistisch nur auf ihren Vorteil bedacht sind, unkooperativ sind und sich nicht benehmen wollen. Daher sehen es Eltern als ihre Aufgabe, die Kinder zu formen. Schlechtes Verhalten muss "aberzogen" werden, gutes Verhalten "anerzogen". Der Ansatz der bedingungslosen Elternschaft geht hingegen davon aus, dass Kinder von Grund auf kooperieren und gewinnbringend in einer Gemeinschaft leben wollen.

Am Ende des Kapitels belegt Kohn mit verschiedenen Studien, dass sich die Bedingungslosigkeit der elterlichen Liebe langfristig auf die Entwicklung der Kinder auswirkt. Über Jahre haben Forscher festgestellt, dass das Selbstwertgefühl maßgeblich davon beeinflusst ist, wie bedingungslos geliebt sich Kinder fühlen.
 

2 Liebe schenken und Liebe entziehen

 
In Kapitel 2 geht es zunächst um das Thema Auszeiten. Kohn erklärt, warum diese Methode nichts anderes ist, als ein gezielter Liebesentzug mit der Absicht, das Verhalten des Kindes zu manipulieren. Das bewusste Ignorieren eines Kindes oder die Erzwingung einer Trennung hat kurzfristig durchaus Erfolg - aber nur, weil sie mit den Urängsten unserer Kinder spielen. Sie haben solche Angst, von uns verlassen zu werden, dass sie aus reiner Furcht ihr Verhalten anpassen. Wissenschaftliche Forschungsarbeiten zu diesem Thema zeigen, dass die Anwendung von Auszeiten zu einem geringeren Selbstwertgefühl führen kann und die Wahrscheinlichkeit, später an Angststörungen oder Bindungsproblemen zu leiden, steigt.
 
Ein weiterer Abschnitt befasst sich mit dem Thema Belohnungen und Lob. Kohn erklärt, dass es in unserer Kultur nur im Wesentlichen zwei Methoden gibt, die Menschen mit mehr Macht (Eltern/Arbeitgeber) anwenden, um Menschen mit weniger Macht (Kinder/Arbeitnehmer) dazu zu bewegen, etwas bestimmtes zu tun: Bestrafung und Belohnung. Interessanterweise belegen zahlreiche Studien, dass sowohl Kinder als auch Erwachsene weniger erfolgreich und motiviert sind, wenn ihnen eine Belohnung angeboten wird. Belohnungen führen zwar zunächst zum Erfolg, weil sie motiviert - aber in den Versuchen zeigte sich immer wieder, dass Gruppen, die anfänglich nicht belohnt werden, in der Folge viel motivierter und erfolgreicher sind, als die Vergleichsgruppen, die zunächst eine Belohnung erhielten und danach nicht mehr. Die Ursache dafür liegt in der Überlagerung der intrinsischen (Handeln aus reiner Freude) durch die extrinsische Motivation (etwas zu einem Zweck tun). Zahlreiche Untersuchungen  (die näher beschrieben werden) belegen:
"Je mehr jemand dafür belohnt wird, etwas zu tun, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er das Interesse an dem, was er tun musste, um die Belohnung zu bekommen, verliert." (S. 44)
Das Gleiche trifft auf verbale Belohnung - also das Loben - zu. Auch zu diesem Thema habe ich einen sehr ausführlichen Artikel geschrieben, weswegen ich hier nur kurz darauf eingehe. Lob steht einer bedingungslosen Liebe komplett entgegen, weil es stets mit einer bestimmten Handlung/Aussage verbunden ist. Wir signalisieren: Was Du sagst/tust, gefällt mir. Wir knüpfen also unsere Aufmerksamkeit und unsere Zuneigung an einen bestimmten Sachverhalt - nicht selten verbunden mit der Absicht, dieses Verhalten zu verstärken (man denke an ausgiebig gelobte Töpfchen-Erstpiesler). Problematisch ist, dass sich aus einer harmlosen Aussage, wie "Das hast Du gut gemacht!" eine (unbewusste) Gedankenkette beim Kind bilden kann...
"Die Kette könnte folgendermaßen aussehen: (1) "Ich finde es gut, wie Du das gemacht hast" kann für ein Kind klingen wie (2) "Ich finde dich gut, weil du das und das gemacht hast", und das wiederum kann implizieren (3) "Ich finde dich nicht gut, wenn du das und das nicht machst". Der letzte Schritt ist, dass das Kind den Eindruck gewinnt: (4) "Ich bin nicht gut, wenn ich das und das nicht mache."" (S. 49)
In Bezug auf das Loben liest man eher selten von generellen Bedenken - das gieskannenartige Loben (Gelobe für jede Kleinigkeit - sehr beliebt bei Großeltern "Hat Janni haber toll gepupst!") wird jedoch durchaus generell kritisch gesehen. Es heißt, man solle besser nur besondere Leistungen loben... diese Empfehlung impliziert nichts anderes, als dass Kinder Lob doch bitte auch wirklich "verdienen" sollen. Verdienen? Das Lob - und es ist nichts anderes, als der Ausdruck unserer Zuneigung - ist somit an eine Leistung geknüpft und damit ist sie alles andere, als bedingungslos. Mehrere Studien genannt, die ergeben haben, dass Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl von Lob stark beeinflusst sind - jedoch anders, als man es zunächst vermuten würde. Lob stärkt nicht das Selbstbewusstsein - es macht es von sich abhängig.

Das Kapitel endet mit einem Exkurs zum Selbstwertgefühl, bei dem es nicht vornehmlich auf die Ausprägung ankommt, sondern vielmehr darauf, dass es von unseren Leistungen unabhängig ist. Menschen mit einem gesunden Selbstwertgefühl, fühlen sich nicht schlechter oder besser, wenn sie scheitern oder überlegen, wenn ihnen etwas gelingt. Sie ärgern oder freuen sich - aber ihr Selbstwertgefühl schwankt dabei nicht.
 
 

3 Zu viel Kontrolle

 
Dieses Thema wird garantiert demnächst noch mal Gegenstand für einen ausführlichen Artikel bei uns. Es geht um die Frage, wie viel elterliche Kontrolle wirklich nötig ist. Kohn hat beobachtet, dass sehr viele Kinder einem ständigen Kontrollwahn durch die Eltern unterliegen. Da wird ermahnt, gedroht, verbessert, angeleitet, aufgefordert - kurzum: die Kinder werden pausenlos gesteuert.
 
trauriges KindImmer wieder lese ich Klagen, dass Kinder sich heutzutage nicht mehr benehmen könnten. Als Grund dafür wird mangelnder Einfluss der Eltern genannt - angeblich führt die heute praktizierte Weichspülpädagogik dazu, dass Kinder keine Regeln mehr kennen würden. In diesem Zusammenhang wird dann oft der Ruf nach mehr Disziplin und viel mehr Grenzen laut - andernfalls wären wir sonst bald von Tyrannen umgeben (und Herr Winterhoff ist leider wirklich nur einer von vielen, der das ständig propagiert ...).

Dabei bringt es Kohn - wie ich finde absolut treffend - auf den Punkt:
"Das verbreitetste Erziehungsproblem in unserer Gesellschaft ist nicht die zu große Toleranz, sondern die Angst vor zu großer Toleranz. Wir fürchten uns so davor, Kinder zu verwöhnen, dass wir sie im Endeffekt oft übertrieben kontrollieren." (S. 60)
Die Wissenschaft sagt recht eindeutig, dass eine warme, sichere Beziehung zum Kind, die nicht von Macht und Manipulation durch Strafen und Belohnungen geprägt ist, in der wenig Kontrolle ausgeübt wird und in der stattdessen Respekt und Erklärungen dominieren, dazu führt, dass die Kinder eher das machen, was man ihnen sagt, als diejenigen, die autoritär erzogen werden. Dass autoritäre Erziehung eher schlecht funktioniert, ist dadurch bedingt, dass Kinder sich nun mal nicht steuern lassen. Wir können kurzfristige Kooperation durch Ausübung von Macht erzwingen - aber langfristig werden wir damit an Grenzen stoßen. Ebenso wenig, wie wir einen Säugling zwingen können, aufzuhören zu schreien, können wir ein Pubertier zwingen, respektvoll mit uns umzugehen - vor allem, wenn wir die ersten Lebensjahre damit beschäftigt waren, es ständig zu gängeln und zu maßregeln.
 
Die Ausübung von starker elterlicher Macht führt in der Regel zu zwei verschiedenen Verhaltensweisen - übermäßig folgsame und übermäßig aufsässige Kinder. Zwar sind folgsame Kinder bequem für die Eltern, aber die Angepasstheit schlägt sich nachweislich in der persönlichen Entwicklung wieder - auch dazu gibt es Untersuchungen. Außerdem werden die sozialen und akademischen Fähigkeiten maßgeblich beeinflusst.

Die meisten Kinder reagieren jedoch mit Rebellion - gegen alles und jeden. Durch übermäßige Kontrolle fühlen sie sich macht- und hilflos, so dass sie immer wieder Konfrontationen suchen, um sich selbst zu beweisen, dass auch sie über Macht verfügen. Häufig werden Kinder dann auch gegenüber Altersgenossen aggressiv, da sie dort viel eher ihre Macht ausüben können, als daheim.
 
Kohn verweist auf das Buch "The psychology of parental control" von Wendy Grolnick, in dem zahlreiche Forschungsergebnisse zusammenfasst, die zeigen dass
"ein kontrollierender Erziehungsstil im Zusammenhang steht mit einem geringeren Grad intrinsischer Motivation, geringerer Internalisierung von Werten und Moralvorstellungen, einer schlechteren Selbstregulierung und einem schlechten Selbstwertgefühl - ganz zu schweigen von den unerwünschten Nebenwirkungen für die Eltern-Kind-Beziehung".
Und letzteres kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen. Um es ganz klar zu sagen - es geht Kohn hier nicht um die negativen Auswirkungen eines streng autoritären Erziehungsstils, sondern um "kontrollierende" Erziehung - und kontrollierend meint hier mit Strafen (neudeutsch als Konsequenzen geschönt) und Belohnung - also den hierzulande üblichen.
 
 

4 Strafen sind schädlich

 
Strafen sind Maßnahmen, die etwas Unangenehmes herbei führen in der Absicht, das Verhalten zu beeinflussen - kurz: der Strafende fügt einem anderen Leid zu, um ihm eine Lektion zu erteilen. Kohn stellt zum Anfang des Kapitels die Frage, warum man eigentlich an die Wirksamkeit von Strafen glaubt, wenn man sie doch so oft anwenden muss. Wirksame Methoden wären viel nachhaltiger. Und auch die Forschung belegt eindeutig, dass Bestrafung
"auf lange Sicht unwirksam als Methode zur Eliminierung des Verhaltens, auf das sie gerichtet ist." (S. 78)
Durch Strafen lernen Kinder im Grunde nur eins: um den eigenen Willen anderen gegenüber durchzusetzen, muss man Macht anwenden. Diese Erkenntnis wird sie ein Leben lang begleiten.
 
In diesem Kapitel geht es außerdem darum, dass logische Konsequenzen auch nichts anderes sind, als Strafen, auch wenn sie netter verpackt klingen. Sie unterscheiden sich nur dadurch von Strafen, dass wir sie vorher ankündigen. Wobei "androhen" das zutreffendere Wort wäre.
 
Vater tröstet KindDas Problem bei Strafen ist, dass sie einen Teufelskreis schaffen - das bestrafte Kind ist wütend, benimmt sich schlecht und als einzige Lösung wird eine härtere Bestrafung in Betracht gezogen. Im Grunde ist man immer auf der Suche nach der Bestrafung, die hart genug ist, damit der Widerstand gebrochen wird. Ständige Bestrafung führt mit ziemlicher Sicherheit im Jugendalter zu massiver Auflehnung - und auch hier wird dann wieder nach noch effektiveren Strafen gesucht. Dabei erkennen wir nicht, dass nicht das Kind fehlerhaft ist, sondern das System. Wenn das System tatsächlich funktionieren würde (schließlich praktizieren es 99 % der Eltern), warum hat dann jeder Probleme damit? Sofern man nicht diktatorisch autoritär erzieht und es damit schafft, Kinder komplett zu unterdrücken, kommt es über kurz oder lang überall zu Auseinandersetzungen. Streitgegeständlich sind dabei fast immer Macht, Grenzen und Verhalten.
 
Warum Strafen langfristig versagen, wird ausführlich erklärt und die Frage gestellt, ob man die nachweisbaren Nachteile für ein möglicherweise kurzfristiges Funktionieren in Kauf nehmen will.
 
 

5 Zum Erfolg gedrängt

 
In diesem Kapitel geht es um die Frage, wie sich Druck auf Kinder auswirkt. Übertriebenen Frühförderwahn lehnen die meisten ab - doch sobald das Kind auf der Schule ist, erzeugen die meisten Eltern starken Erfolgsdruck. Aus Angst, dass ihren Kindern Nachteile entstehen könnten, überwachen viele Eltern den "Prozess Schule" akribisch. Es wird motiviert mit Belohnungen und Loben gearbeitet, nicht selten auch mit Strafen - doch gerade dadurch entsteht beim Kind das Gefühl, dass es elterliche Anerkennung verdienen muss.
 
Forschungsergebnisse lassen darauf schließen, dass Kinder, die gedrängt werden, bessere Leistungen in der Schule zu bringen, das Interesse am Lernen verlieren, schwierige Aufgaben meiden und weniger gründlich und kritisch nachzudenken. Es gibt auch Studien, die belegen, dass Kinder weniger gut lernen, je mehr Kontrolle die Eltern ausüben, wenn sie Hausaufgaben machen und dass die schulischen Leistungen generell bei viel Druck verschlechtern. Kinder neigen dazu, ihre Autonomie zu bewahren und reagieren dann mit Widerstand - dieser zeigt sich dann in demonstrativer Faulheit und Desinteresse für die Schule.
 
Außerdem entsteht oft der Effekt der "Selbstbehinderung" - wenn Kinder merken, dass sie die Erwartungen nicht erfüllen können, stellen sie ihre Anstrengungen komplett ein, um eine Entschuldigung für ihr Versagen zu haben. So halten sie die Illusion aufrecht: Wenn ich mich angestrengt hätte, hätte ich es sicher geschafft, aber ich hatte eben gerade keine Lust.
 
Angetrieben sind die Eltern in der Regel von der Befürchtung, dass fehlender Druck dazu führt, dass das Kind sich keine Mühe gibt und unmotiviert ist. Dass dies nicht der Fall ist, belegen zahlreiche Studien - Kinder, die sich frei entfalten, sind intrinsisch stark motiviert. Kohn schreibt dazu: 
"Menschen, die wissen, dass sie unabhängig von ihren Leistungen geliebt werden, erreichen oft ziemlich gute Leistungen. Das Wissen, bedingungslos angenommen zu werden, hilft ihnen, ein gesundes Selbstvertrauen zu entwickeln und Mut zu haben, Risiken einzugehen und neue Dinge zu probieren. Der Mut, etwas zu leisten, wurzelt in tiefer Zufriedenheit." (S. 109)
 

6 Was hindert uns daran, bessere Eltern zu sein? 

 
Warum ist der an Bedingungen geknüpfte Erziehungsstil mit Druck, Strafen und Loben so verbreitet? Dieser Frage geht Kohn im sechsten Kapitel nach. Entscheidend geprägt ist die Erziehung, die wir unseren Kindern angedeihen lassen, von unserer eigenen Erziehung. Wir haben "gelernt", dass man mit Kindern so umgeht, wie man mit uns umging. Den meisten fällt sich schwer, sich davon zu lösen. Auch ich ertappe mich immer wieder bei Redewendungen, die ich von meiner Mutter kenne. Dazu kommt, dass unsere Eltern ihre Ansichten über Erziehung auch nicht geändert haben - noch immer gehen sie davon aus, dass das, was sie taten richtig war und überhäufen uns mit Ratschlägen, wie wir es ihrer Meinung nach besser machen. Die Allgegenwart der konventionellen Erziehung lässt uns zudem annehmen, so viele Eltern können sich sicher nicht täuschen.
 
Das Problem ist: konventionelle Erziehung ist einfach - es ist wesentlich aufwändiger, sich mit dem Kind auseinander zu setzen und eine gemeinsame Lösung zu finden, als zu drohen und zu bestrafen. Und diese Methoden sind ja auch durchaus kurzfristig effektiv und die langfristigen Beeinträchtigungen für die Eltern-Kind-Beziehung nicht sofort absehbar. Daher wählen wir oft die vermeintlich viel leichtere Methode.
 
Außerdem ist unsere Welt von einem bestimmten Kinderbild geprägt - hierzulande werden Kinder sehr skeptisch betrachtet - sie werden akzeptiert, so lange sie leise und brav sind, ansonsten ist Deutschland alles andere, als kinderfreundlich. Ständig wird fehlendes Benehmen beklagt und der Ruf nach mehr Strenge und mehr Grenzen wird laut. Wir haben das Bedürfnis, uns in diese gesellschaftlichen Anforderungen und Strukturen einzupassen - das ist schließlich das, was uns anerzogen wurde.
 
Ein Problem ist auch, dass in den Köpfen der Menschen nur zwei Modelle für die Erziehung existieren -  entweder erzieht man die Kinder mit strenger Hand, starker Kontrolle und Lob/Strafe - oder aber man lässt sie machen, was sie wollen (Vernachlässigung/Laissez faire). Kaum jemand zieht in Betracht, dass es andere Möglichkeiten gibt. In aller Munde ist jetzt die autoritative Erziehung, bei der zwar viel mit dem Kind geredet wird (im Gegensatz zur autoritären Erziehung) aber doch ein hohes Maß an Kontrolle ausgeübt wird (im Gegensatz zu Laissez-faire). Sie positioniert sich also vermeintlich zwischen den beiden Extremen und nimmt für sich in Anspruch, damit ein guter Kompromiss zu sein. Nur - die Mitte zwischen zwei schlechten Varianten ist immer noch schlecht. Bessere Alternativen sind weit weg von Kontrolle, Strafe und Manipulation.
 
Kohn nennt weitere Ängste, die uns zu kontrollierender Erziehung treiben - u. A. die Angst vor der Unzulänglichkeit, vor Machtlosigkeit und Angst davor, bewertet zu werden. Aber auch die Sorge um die Sicherheit unserer Kinder und vor zu liberaler Erziehung lässt uns Methoden anwenden, die unseren Kindern schaden. Um bessere Eltern zu werden, sollten wir uns immer wieder folgende Frage stellen:
"Ist es möglich, dass das, was ich mit meinen Kindern gerade gemacht habe, mehr mit meinen Bedürfnissen, meinen Ängsten und meiner eigenen Erziehung zu tun hat als damit, was wirklich in ihrem Interesse ist?" (S. 136) 
 

7 Grundsätze bedingungsloser Elternliebe

 
Kind spielt mit Uhr am väterlichen HandgelenkKohn stellt klar, dass er kein Konzept hat, das Schritt für Schritt vorgibt "Wenn X passiert, dann reagiere Y und sage Z". Kinder sind viel zu verschieden, um allgemein gültige Handlungsanweisen vorzugeben. Es geht vielmehr um das Erreichen einer bestimmten Grundeinstellung und die Beherzigung einiger Grundsätze, die in diesem Kapitel dargelegt sind. So regt er bspw. an, Forderungen an Kinder in Bezug auf ihre Notwendigkeit zu prüfen und so selten wie nötig "Nein!" zu sagen. Ausführlich erklärt wird außerdem, warum es wichtig ist, mit dem Kind in Beziehung zu treten, statt es erziehen zu wollen und welche maßgebliche Rolle der Respekt spielt, den man seinen Kindern entgegen bringen sollte.

Es wird auch angeregt, viele Fragen zu stellen, statt viel zu reden und grundsätzlich immer das Alter des Kindes zu berücksichtigen. Essentiell ist außerdem, den Kindern immer das bestmögliche (mit den Tatsachen zu vereinbarende) Motiv zuzuschreiben, nicht aus Prinzip konsequent zu sein und möglichst wenig Eile zu haben.
 
 

8 Liebe ohne Wenn und Aber

 
Die Liebe zu unseren Kindern ist (in den allermeisten Fällen) sofort da und unerschütterlich. Arbeiten müssen wir daher vor allem an ihrer Bedingungslosigkeit - und vor allem daran, dass sich unsere Kinder auch bedingungslos angenommen fühlen. Daher ist es sinnvoll, sich immer wieder die Frage zu stellen, was das Kind empfindet, wenn wir auf bestimmte Art mit ihm reden. Dabei hilft die Frage: "Wie würde ich mich fühlen, wenn jemand das selbe zu mir gesagt hätte?"
 
Es gibt Dinge, die wir unbedingt weniger tun sollten. Kritik zum Beispiel sollte seltener verwendet werden - und wenn, dann nur auf konkrete Umstände beschränkt. Statt des Pauschalurteils: "Du bist gemein zu deiner Schwester" ist "Es klang gerade sehr unfreundlich, wie du mit Deiner Schwester gesprochen hast" besser. In der Regel ist freundliche, leise, sachliche Kritik ohnehin wirkungsvoller, als entnervtes Geschrei.
 
Zu bedingungsloser Liebe gehört es auch, einem Kind nicht (mehr) zu drohen,es zu bestechen oder zu ignorieren. Aber auch Lob führt dazu, dass Kinder sich nur angenommen fühlen, wenn sie bestimmte Leistungen vollbringen. Kohn zeigt Alternativen zum Lob - diese bestehen in der Hauptsache in einem Wahrnehmen ohne Wertung und interessiertem Fragen.
 
Am Ende des Kapitels geht Kohn noch kurz auch die Diskrepanz zwischen der bedingungslosen elterlichen Liebe und der erfolgs- und leistungsorientierten Schule und wie man diese diplomatisch verringern kann.
 
 

9 Mitspracherecht für Kinder

 
Um sich wertgeschätzt und respektiert zu fühlen ist es erforderlich, dass Kinder in hohem Maße autonom sind, da alle Menschen nach einem Maximum an Autonomie streben. Wir müssen nur daran denken, wie ungern wir uns von jemandem vorschreiben lassen, was wir zu tun haben - unseren Kindern geht es ebenso. Und doch wird immer und immer und immer wieder von ihnen verlangt, dass sie sich unserem Willen beugen. Das ist manchmal schlicht zu ihrem Schutze notwendig - aber bei den allermeisten Themen kann und sollte man Kindern unbedingt ein Mitspracherecht einräumen.
 
Der Grundgedanke dabei ist recht simpel:
"Kinder lernen, gute Entscheidungen zu treffen, indem sie Entscheidungen treffen, nicht indem sie Vorschriften befolgen." (S. 196)
Das bestätigen auch Studien - Kinder, die reichlich Gelegenheit haben, Entscheidungen zu treffen, sind aktiver, aufgeschlossener und spontaner. Und - dem kann ich aus eigener Erfahrung wirklich zustimmen: Eine Vielzahl an Entscheidungsmöglichkeiten führt zu einer hohen Kooperationsbereitschaft bei Themen, die nicht verhandelbar sind.
"Kinder gehen wirklich darauf ein, wenn sie mit Respekt behandelt und am Lösen von Problemen beteiligt werden und wenn man ihnen gute Absichten unterstellt. Dagegen neigen Kinder, die mit konservativeren Erziehungsmethoden (und entsprechende Annahmen über ihre Absichten) erzogen wurden, am ehesten dazu, etwas auszunutzen. "Gib ihnen den kleinen Finger und sie nehmen die ganze Hand" trifft vor allem auf die Kinder zu, denen im Leben immer nur der kleine Finger gegeben wurde." (S. 201)
Natürlich muss es sich bei den Entscheidungen um echte Entscheidungen handeln - eine Pseudoentscheidungsfreiheit hat keinen Sinn. Gemeint sind damit Entscheidungen wie "Ziehst du Dich sofort um oder später, wenn eigentlich Fernsehzeit ist?" Das ist Erpressung - kein Mitspracherecht.
 
Auch in Bezug auf die Grenzen sollte man immer nach dem Motto verfahren "Weniger ist mehr". Wenige Grenzen zeigen und geben Vertrauen. Kinder "brauchen" keine Grenzen - sie müssen sie ertragen. Sie "brauchen", dass man sie nach ihrer Meinung fragt und ihre Bedürfnisse berücksichtigt.

Es gibt Situationen, in denen Kinder bestimmte Dinge tun müssen - für die sanfte Durchsetzung von Notwendigkeiten gibt es einige Tipps und Strategien. Am Ende des Kapitels sind ein paar Übungen zusammengefasst, die einem helfen, zukünftig bessere Problemlösungsstrategien zu entwickeln.
 
 

10 Die Sicht des Kindes

 
Kohn stellt fest, dass es bei der Erziehung zwei zentrale Fragen gibt:
 
"Wie können wir unsere Kinder so erziehen, dass sie glücklich werden?"
und
"Wie können wir unsere Kinder so erziehen, dass sie sich Gedanken darüber machen, dass andere Menschen glücklich sind?"
Vater kuschelt mit seiner TochterDie moralischen Entwicklung kann vor allem dadurch gefördert werden, dass man Kinder ernst nimmt und damit eine vertrauensvolle Eltern-Kind-Beziehung schafft. Da Kinder hauptsächlich durch Nachahmung lernen, ist es wichtig, selbst moralisch zu handeln und Kinder Gelegenheit zum Üben zu geben.

Dabei ist es wichtig, viel zu reden und zu erklären - statt mit Macht wird mit Liebe und Vernunft gehandelt. Ein "Tu das nicht" sollte immer erklärt werden - auch wenn ein Kind die Gründe nicht immer vollständig versteht, es weiß zu würdigen, dass wir uns bemühen, unsere Motivation darzulegen. Und unter Umständen auch zu diskutieren! Wir sollten vor allem auf die Folgen von Handlungen für andere hinzuweisen. Statt zu sagen "Wir hauen nicht!" ist es sinnvoller deutlich zu machen, was in dem anderen vorgeht: "Schau, Louisa weint, das hat ihr sicher weh getan, nun ist sie traurig".

Das führt dazu, dass die Entwicklung von Empathie unterstützt wird. Wenn Kinder verstehen, was ihre Handlungen bei anderen auslösen, sind sie viel eher geneigt, diese zu überdenken. Allerdings sind Kinder erst mit etwa fünf Jahren zu einem Perspektivwechsel in der Lage. Durch spielerisches Fragen "Was denkt dieser Mann? Warum ist er schlecht gelaunt?" regen wir Kinder an, die Gefühlswelt anderer nachzufühlen - und vor allem: sich dafür zu interessieren.

Andersherum ist es für Eltern ebenso wichtig, immer wieder die Perspektive ihrer Kinder zu übernehmen. Wenn wir geübt darin sind, zu erkennen, was in unseren Kindern vor sich geht und warum sie gerade tun, was sie tun, wird das langfristig Konflikte vermeiden, die auf Missverständnissen beruhen. Wir werden außerdem ruhiger und geduldiger - und wir gehen mit gutem Beispiel voran, wenn wir zeigen, dass wir uns für die Gefühle anderer interessieren. 

© Danielle

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