Was ist der Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen?


Letztens hatte ich am Morgen ein sehr interessantes Erlebnis mit meinem zweijährigen Sohn. Er verweigerte plötzlich wirklich alles. Ich durfte ihm nicht den Schlafanzug ausziehen, nicht die Zähne putzen, keine neue Windel ummachen, ihm keine Sachen anziehen. Er lief die ganze Zeit vor mir weg und schrie sehr laut und vehement "Nein!" Auch das Frühstück wurde konsequent abgelehnt. Als es Zeit war, zur Kita zu gehen und ich mit seinen Schuhen und seiner Jacke zu ihm kam, versteckte er sich sogar hinter unserem Lesesessel und rief weiterhin laut "Nein! Nein! Nein!" 

Von außen betrachtet war es ein klassischer Trotzanfall eines Trotzkindes in der Trotzphase. Man hätte durchaus meinen können, er würde "seine Grenzen testen" und gucken, wie weit er gehen darf. Da ich an diese Grenzen-Testen-These nicht glaube und ihn besser kenne, war mir bald klar, dass hinter seiner Weigerung ein echtes Bedürfnis steckte, das ich herausfinden und erfüllen musste. Ich wartete also ein wenig ab, denn ich hatte noch einen guten  Zeitpuffer. Wenn ich eins mit drei Kindern gelernt habe, dann dass genügend Zeit eigentlich 90% aller Probleme löst. So war es auch diesmal. Irgendwann kam er hinter dem Lesesessel hervor, kuschelte sich an mich und flüsterte in herzzereißendem Ton: "Hause bleim!" Als ich bedauernd sagte, ich müsse doch zur Arbeit, schlug er vor "Ich Mama helfe Arbeit! Ich mit!". Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Er wollte mich davon abhalten, ihn zur Kita zu bringen. Er wusste, dass eine Bezugserzieherin krank war und eine etwas kühlere Vertretung,  zu der mein Sohn noch keine Bindung aufgebaut hat, an ihrer Stelle die Gruppe übernommen hatte.

Kind spielt nur mit Windel bekleidet


Diese Erkenntnis ließ mich nachdenken über Bedürfnisse, Wünsche und Strategien, um diese erfüllt zu bekommen. Herr Friedlichs Bedürfnis war, den Tag mit einer Bindungsperson zu verbringen. Da seine Bindungsperson in der Kita nicht anwesend war, hatte er daher den Wunsch, zuhause zu bleiben oder auch mit mir zur Arbeit zu gehen, denn ich bin ja seine liebste Bindungsperson. Seine Strategie, das zu erreichen war, sich den Dingen zu verweigern, die Fixpunkte auf dem Weg nach draußen sind: Anziehen, neue Windel, Zähne putzen, Frühstück. Vermutlich dachte er, wenn dieser Programmablauf nicht passiert, kann ich unmöglich mit ihm losgehen.

Häufig sehen wir Eltern nur die Strategien unserer Kinder und werden sauer. Es ist ja auch wirklich ärgerlich, wenn ein zweijähriger Dreikäsehoch zu allem und jedem Nein sagt und so die gesamte Morgenroutine torpediert. Wenn man dann als Elternteil wirklich dringend los muss, dann bleibt im Alltag oft keine Zeit, um tiefer zu forschen und zu erkunden, welches Bedürfnis hinter der Strategie steckt. Manche Eltern sind sich nicht einmal bewusst, dass da überhaupt ein Bedürfnis im Hintergrund steht. Dann werden Erklärungen wie "Er will nur testen, wer der Herr im Haus ist", "Er möchte seine Grenzen aufgezeigt bekommen" oder "Er will seinen Willen durchdrücken" bemüht, um das Verhalten der Kleinen zu interpretieren.

Viele von uns Eltern schaffen es schon, hinter dem Verhalten ihres Kindes den Wunsch zu erkennen. Das ist ein großer Schritt vorwärts, denn damit gibt es immerhin einen nachvollziehbaren Grund für uns Großen. Wer kennt nicht den Gedanken, nicht zur Arbeit zu wollen? Wir können uns also mit ihrem Wunsch, nicht zur Kita zu müssen, identifizieren und das stimmt uns im Hinblick auf ihre - für uns anstrengende - Strategie milder.

Manchmal können wir die Wünsche anderer jedoch nicht nachvollziehen, weil wir sie selbst nicht haben. Dann ärgern wir uns weiterhin. Manchmal richtig doll. Ein Cafébesitzer zum Beispiel, der ein "Kinder verboten!" Schild an die Tür hängt, bekommt Zustimmung von denjenigen, die seinen Wunsch nach Ruhe verstehen und vehementen Gegenwind von denen, die finden, Kinderlärm störe doch überhaupt nicht. So läuft das auch bei Eltern und Kindern. Ist uns der Wunsch unseres Kindes selbst fremd, reagieren wir genervter auf die Art und Weise, mit der er geäußert wird, als wenn wir ihn nachvollziehen können.

Hinter sehr vielen Wünschen stehen echte Bedürfnisse, die denjenigen, die diese Wünsche äußern, meist jedoch gar nicht bewusst sind. Eine Mutter, die ihre Kinder annörgelt, weil diese Tag für Tag ihre Jacken achtlos in der Wohnung auf den Boden fallen lassen, statt sie an den Haken zu hängen, hat vordergründig den Wunsch nach mehr Ordnung. Sie mault oder schimpft so lange, bis die Kinder entnervt ihre Jacken nehmen und diese aufhängen. Das wirkliche Bedürfnis der Mutter ist aber die Wertschätzung ihrer Arbeit. Sie möchte, dass ihre Kinder sehen, dass sie mit Mühe die Wohnung ordentlich und sauber hält und sie diese Arbeit würdigen, indem sie selbst darauf achten, nicht zu viel zusätzliche Unordnung zu schaffen. Da sie sich ihres wirklichen Bedürfnisses nicht bewusst ist - die wenigsten von uns haben gelernt, eigene Bedürfnisse sicher zu erkennen - wählt sie eine nicht zielführende Strategie, nämlich die des Nörgelns. Sie erreicht damit zwar, dass ihr Wunsch nach Ordnung widerwillig erfüllt wird, da ihre Kinder nach ihrer Schimpftirade die Jacken dann maulend aufhängen. Doch ihr echtes Bedürfnis, die Wertschätzung ihrer Arbeit, bleibt unberücksichtigt. Deshalb fühlt sie sich nicht besser, auch wenn die Jacken endlich hängen. Sie ist weiter unzufrieden. Die Kinder konnten möglicherweise ihren Wunsch nach Ordnung nicht nachvollziehen - sie haben vielleicht eine andere Toleranzgrenze, was Unordnung angeht. Sie haben nun aber schlechte Laune, weil sie von ihrer Mutter so angenörgelt wurden und reagieren wiederum auf sie gereizt und patzig. Dies ist kein weltfremdes Szenario - so etwas passiert tagtäglich in vielen Haushalten auf der Welt. Wäre sich die Mutter ihres echten Bedürfnisses bewusst gewesen, hätte sie vielleicht eine völlig andere Strategie zur Erfüllung gesucht.

Unordnung


Eine Möglichkeit wäre, sich eine Putzfrau zu nehmen. Dann wäre die Mutter nicht mehr für die Ordnung verantwortlich gewesen und es hätte nicht mehr ihr Bedürfnis nach Wertschätzung ihrer Arbeit tangiert, wenn die Kinder die Jacken fallen lassen. Sie hätte aber auch offen ansprechen können, was sie bedrückt. Hätte sie ihren Kindern (ohne Vorwurf in der Stimme) gesagt: "Ich gebe mir wirklich Mühe, dass unsere Wohnung ordentlich ist, aber ich habe das Gefühl, ihr seht gar nicht, wie viel Arbeit das ist. Ich fühle mich wie eure Dienerin, wenn ihr eure Jacken einfach so auf den Boden werft. Ich wünschte, ihr würdet daran denken, sie aufzuhängen.", hätten diese ihr Problem möglicherweise besser nachfühlen können. Wer hat schon gern den undankbaren Job des Aschenputtels? Die Chance, dass die Kinder zumindest in der nächsten Zeit die Jacken von selbst aufhängen und damit das mütterliche Bedürfnis nach Wertschätzung erfüllen, ist so in jedem Fall größer als bei der Strategie des Nörgelns.

Der Grund, warum das Ansprechen unserer echten Bedürfnisse bei anderen meist eine positive Resonanz hervorruft und dann dazu führt, dass sie sich tatsächlich bemühen, uns zu helfen, ist, dass alle Menschen dieselben Grundbedürfnisse haben. Wir können sie immer nachvollziehen. Menschen haben unterschiedliche Leben, unterschiedliche Charaktere, unterschiedliche Wünsche und unterschiedliche Strategien - diese können deshalb bei anderen Wut auslösen - aber alle brauchen dieselben lebenswichtigen Grundpfeiler in ihrem Leben! 

Welche Bedürfnisse haben alle Menschen?


Luft, Nahrung, Wasser, Schlaf, Körperhygiene - ohne die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse würden wir relativ schnell sterben, das ist uns allen klar. Auch Bewegung/Körpertraining, Ruhe/Erholung, Sex und Körperkontakt sowie Schutz vor Gefahren sind Bedürfnisse, die den meisten von uns nach einigem Nachdenken einfallen. Doch es gibt noch andere, weniger offensichtliche Bedürfnisse, die im Leben eines jeden Menschen erfüllt sein müssen. Ich schreibe "müssen" bewusst, weil nur bei befriedigten Bedürfnissen ein Mensch wirklich glücklich ist - denjenigen, denen mehrere wichtige Elemente fehlen, werden depressiv und verlieren größtenteils den Mut, zu leben. Das Gehirn des Menschen ist nämlich so angelegt, dass die Erfüllung von Bedürfnissen die Ausschüttung von körpereigenen Opioden, Dopaminen und Oxytocin nach sich zieht - es werden also glücklich machende Hormone ausgeschüttet und der Mensch fühlt sich wohl. Werden die Bedürfnisse dagegen missachtet oder gar nicht erst erkannt, stockt die Ausschüttung. Der Mensch fängt an, unglücklich zu sein. Dummerweise ist das ein sehr unbestimmtes Unglücklichsein. Eins, ohne wirklich greifbaren Anlass. Da wir uns unserer eigenen echten Bedürfnisse häufig nicht wirklich bewusst sind, fangen wir in solchen Momenten an, Strategien zu finden, um wieder glücklicher zu werden. Meist nutzen wir allerdings die falschen Mittel. Doch bevor wir die falschen Strategien  genauer erläutern, wollen wir zunächst einmal klären, was denn nun wirklich die lebenswichtigen Bedürfnisse eines Menschen sind. 

Selbst sein (Authentizität/Integrität)


Jeder Mensch möchte er selbst sein dürfen, ohne sich für einen anderen verbiegen zu müssen. Dieses Bedürfnis haben wir von Geburt an. Leider wurde in der Vergangenheit von Babys und Kleinkindern sehr viel Anpassung an die Wünsche ihrer Eltern abverlangt, was dazu führte, dass die meisten von uns eben nicht ihr ureigenes Selbst entwickeln konnten, sondern etwas windschief in die Richtung gewachsen sind, in der man uns haben wollte. Die Folge eines solchen Lebens "neben der Spur" kann sein, dass man sich zeitlebens irgendwie vage unglücklich oder falsch fühlt. Grundsätzlich gilt: Jedes Kind möchte so geliebt werden, wie es ist. Darf es all seine Facetten zeigen und wird auch bei Konflikten seine Integrität gewahrt, wächst es psychisch gesund heran. 

Selbstwirksam sein


Nichts macht Kinder (und Erwachsene) glücklicher, als zu sehen, dass sie selbst etwas bewirken können. Sei es, wenn ein Baby es zum ersten Mal schafft, an der Schnur des Hampelmanns zu ziehen und dieser daraufhin die Arme und Beine bewegt. Sei es, wenn der Einjährige mit großer Mühe den Hochstuhl allein erklettert. Sei es, dass der Zweijährige sich mit dem Kindermesser selbst die Butter aufs Brot schmiert.... Deshalb ist es wichtig, dass wir Eltern unseren Kindern nicht zu viel abnehmen, aus Angst, sie könnten sich verletzen. Damit beschneiden wir nämlich automatisch ihre Bedürfnisse nach Selbstwirksamkeit und Autonomie. 

Entscheidungen treffen/autonom sein


Sobald ein Kind feststellt, dass es "Ich" ist und der andere "Du", beginnt das Bedürfnis zu wachsen, seine eigenen Entscheidungen treffen zu können. Der Beginn der Autonomiephase wird markiert vom ersten vehementen "Nein!" des Kindes. Wir Eltern sollten darauf achten, - altersgerecht natürlich - möglichst viele Neins zu akzeptieren und die Kinder ihre eigene Entscheidungen im Hinblick auf ihren persönlichen Bereich treffen zu lassen. Dass das nicht bedeutet, mit einem nur in Windel bekleideten Einjährigen auf dem Fahrrad durch die winterliche Stadt zu fahren, wie es kürzlich in der Zeitung zu lesen war, sollte jedem klar sein. Ein solches Verhalten ist unterlassene Fürsorgepflicht und gehört bestraft. Und doch ist es möglich, auch Kleinkinder Entscheidungen treffen zu lassen, wie ich in einem Artikel über die Abende im Hause Snowqueen beschreiben werde. Je älter das Kind wird, desto mehr Entscheidungen sollte es selbst treffen dürfen: Was ziehe ich an? Wann bin ich müde und gehe schlafen? Wie viel esse ich? Wann gehe ich auf die Toilette? Was möchte ich lernen? Beachten Eltern dieses Bedürfnis ihres Kindes nicht, wird es immer wieder dafür kämpfen. 

Junge spielt im Gras mit einer Pusteblume

Wertgeschätzt werden


Wertschätzung für unser Tun und unser Sein, ist eins der größten Grundbedürfnisse der Menschheit. Oft wird Wertschätzung mit Lob verwechselt - Lob ist allerdings nur eine Ersatzdroge. Echte Wertschätzung kann mit einem Blick, einer Körperhaltung, einem einfachen "Danke!" oder einem Kopfnicken ausgedrückt werden. Sie ist das Funkeln im Auge einer Mutter, wenn sie ihr Kind anguckt und wirkt viel stärker als jedes überschwängliche Wort. Kränkelt eine Beziehung zwischen zwei Menschen, liegt es häufig daran, dass sich einer der beiden vom anderen nicht genügend wertgeschätzt fühlt. Kinder fangen dann oft an, absichtlich zu ärgern. Frauen und Männer nörgeln oder werden passiv-aggressiv - all das sind unbewusste Strategien, die angewandt werden, um auszudrücken, dass man das Gefühl hat, nicht mehr wertvoll für den anderen zu sein. 

Emotionale Verbundenheit/Liebe


Babys, die einem länger andauernden Mangel an emotionaler Zuwendung ausgesetzt sind, behalten eine lebenslange Erhöhung der Empfindlichkeit ihrer biologischen Stressantwort zurück. [vgl. Weaver, I., Meaney, M.: Epigenetic programming by maternal behavior. Natures Neuroscience 7: 1-8, 2004] Säuglinge, die von Ammen aufgezogen wurden, denen es vom Stauffer-Kaiser Friedrich II verboten worden war, mit ihnen zu sprechen, starben [vgl. Bauer, J. Warum ich fühle, was du fühlst. 2006: 108]. Die fehlende emotionale Verbundenheit und Liebe in ihrem Leben schlug sich auf die Biologie ihres Körpers durch - ihre Systeme gaben einfach auf. Auf der anderen Seite schüttet das menschliche Gehirn bei liebevoller sozialer Zuwendung Glücksgefühl-auslösende Botenstoffe aus. Ohne Liebe sterben wir, mit Liebe gedeihen wir - was beweist, dass wir von Natur aus so angelegt sind, eine Mindestdosis an emotionaler Verbundenheit zu benötigen.  Sie ist ein wichtiges Grundbedürfnis.

Kind kuschelt mit Mama


Ein Ziel/einen Traum haben


Menschen haben ein biologisch verankertes Zukunftsbedürfnis. Ist es uns nicht möglich, z. B. aufgrund unserer Lebensumstände einen erreichbaren Traum für uns zu formulieren, reagieren wir mit Aggressionen, Depressionen oder Suchttendenzen. Ich arbeite als Sonderpädagogin mit Kindern aus bildungsfernen Familien in einem Brennpunktbezirk. Es ist äußerst schwer, sie dazu zu motivieren, irgendwelche Anstrengungen zu unternehmen: "Warum soll ich das lernen? Ich werde eh nie einen Job bekommen. Ich werde wie meine Eltern Hartz IV beziehen und den ganzen Tag vor der Glotze hängen". Sie haben die Pubertät noch nicht einmal erreicht und bereits vor dem Leben kapituliert. Glücklich sind sie nicht. Um gesund und vital zu bleiben, brauchen auch Erwachsene ein Entwicklungs-Ziel. Wer hat noch nicht vom lähmenden Gefühl gehört, im Job in einer Sackgasse gefangen zu sein? Oder vom gähnenden Loch, in das manche fallen, wenn sie in den Ruhestand gehen. Wir Menschen sind die einzigen Tiere, die Zukunftspläne machen können und die ihren Träumen nachjagen. Wir brauchen diese Träume von einer lebenswerten Zukunft, um glücklich zu sein. 

Teil einer Gemeinschaft sein/Zugehörigkeit/Geborgenheit


Die Sozialpsychologin und Neuroforscherin Naomi Eisenberger bewies in einem Experiment, dass der soziale Ausschluss aus einer Gemeinschaft die Regionen des menschlichen Gehirns aktivieren, die normalerweise dann feuern, wenn echter, körperlicher Schmerz gefühlt wird: Ein Mann spielte mit zwei anderen, für ihn nicht sichtbaren Probanden, per Computer Ball. Zunächst warfen sich alle drei die Bälle relativ gleichmäßig zu. Nach einer Weile jedoch bekam der Mann von seinen Mitspielern keinen einzigen Ball mehr virtuell zugeworfen. Im Kernspintomographen war klar zu sehen, wie sehr ihn dieser Ausschluss „schmerzte“ [vgl. Eisenberger, N., Liebermann, M. D., Williams K.D.: Does rejection hurt? An fMRI study of social exclusion. Science 302: 290-292, 2003]. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Geborgenheit lässt sich auch im Alltag mit Kindern leicht erkennen. Nichts lässt sie panischer werden, als die Drohung der Eltern, sie würden nun allein losgehen, wenn das Kind nicht augenblicklich mitkäme. Nichts macht sie so abgrundtief unglücklich, wie ihre Freunde, die plötzlich ohne sie spielen wollen. Kinder, wie Erwachsene, haben das dringende Bedürfnis, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Gerade in unsicheren Zeiten rücken Menschen enger zusammen – auch zu Gruppen, die gegen andere Gemeinschaft sind: gegen Flüchtlinge, gegen Homosexuelle, gegen die etablierten Politiker. Das Bedürfnis nach der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist grundlegend … und kann leicht verführen. 

Zur Bereicherung einer Gemeinschaft beitragen


Als Studentin habe ich alte Menschen gepflegt, bin täglich zu ihnen gefahren, habe sie gewaschen, angezogen und ihnen Essen gemacht. Die meisten von ihnen wollten nicht mehr Leben und auf die Frage, warum, kam immer die gleiche Antwort: "Weil ich nicht mehr gebraucht werde". Sie hatten das Gefühl, keinen wertvollen Beitrag für ihre Gemeinschaft mehr leisten zu können. Dieses "gebraucht werden" ist ein großes menschliches Bedürfnis und es zeigt sich schon in frühsten Jahren. Kinder, denen nichts zugetraut bzw. alles abgenommen wird, sind irgendwann frustriert und werden aggressiv - das liegt daran, dass sie nicht ihren Teil zum Wohlergehen der Familie beitragen können. Erst, wenn sie echte Aufgaben erhalten, also solche, die echte Verantwortung innehaben, ist ihr Grundbedürfnis erfüllt und die Aggressionen verschwinden. Es hilft Kindern nicht, einfach nur irgendwelche Aufgaben übertragen zu bekommen, wie z. B. Blumen zu gießen. Diese Aufgaben müssen einen Sinn ergeben. Das muss auch gar nichts Großartiges sein: Der Mama helfen, die schweren Einkaufstüten die Treppe hochzutragen. Löwenzahn für die Meerschweinchen pflücken. Die Sauce im Topf umrühren und vorm Anbrennen retten, bis der Papa dem Geschwisterchen die Windel gewechselt hat. Zum Bäcker laufen und Brötchen kaufen, während die Mama in der Zeit den Frühstückstisch deckt. Die Liste ließe sich beliebig erweitern: Alle Aufgaben, bei denen die Familie (für einen kurzen Moment) wirklich auf die Mithilfe des Kindes angewiesen ist, damit alles reibungslos laufen kann, befriedigen des Bedürfnis danach, eine Bereicherung für die Gemeinschaft zu sein. 

Freude/Lachen/Spielen


Die Professoren Dean Mobbs und Allan Reiss der Stanford Universität konnten nachweisen, dass auch Lachen das Belohnungssystem des menschlichen Gehirns nachhaltig anregt. Wenn wir Lachen und Freude empfinden, fühlen wir uns gut. Eng verbunden damit ist Spielen. Selbst niedere Säugetiere, die miteinander spielen, zeigen eine (vom Menschen unterschiedliche) Form des Lachens. Auch bei ihnen werden dabei glücklich-machende Hormone ausgeschüttet. Es lässt sich daraus folgern, dass dem Spiel, dem Lachen und der Freude von der Natur eine zentrale Rolle zugeordnet wurde [vgl. Berns, G., Something funny happend to reward. Trends in Cognitive Sciencees 8: 193, 2003]. Sie sind demnach lebenswichtige Bedürfnisse. 

Gefühle ausleben


Alle Gefühle ausleben zu dürfen, ist ein wichtiger Bestandteil unserer Psychohygiene und gehört deshalb ebenfalls zu den Bedürfnissen eines Menschen. Leider ist dieser Punkt noch immer derjenige, an dem es in unserer Gesellschaft gewaltig hakt. Wut und Trauer, begleitet mit der Strategie Aggression, sind nicht gern gesehen und werden häufig zu schnell "abgeschaltet". Schon Kinder werden darauf trainiert, nicht zu viele Gefühle zu zeigen. Nicht zu laut zu weinen, oder zu lange zu wüten oder zu intensiv zu trauern. 

Struktur


Egal, ob man sich selbst als ordentlich empfindet oder nicht, jeder Mensch hat ein biologisch verankertes Bedürfnis nach Struktur. Das bedeutet nicht, dass wir uns nur dann wohl fühlen, wenn immer alles aufgeräumt ist. Es bedeutet, dass wir uns wohl fühlen, wenn wir bestimmte Abläufe voraussehen können. Deshalb sind für Babys und Kleinkinder Rituale so entspannend. Ein chaotischer, nicht vorhersehbarer Alltag würde unser Gehirn enorm stressen. Eine Weile lässt sich so ein Zustand vielleicht aushalten und überbrücken, doch schon bald würde er zu Krankheiten führen. Das bedeutet jedoch nicht, wie von Experten oft postuliert, dass Kinder deshalb unbedingt Regeln und Richtlinien brauchen. Zum einen bedeuten Regeln und Richtlinien nicht zwangsläufig Struktur. Ein Tag ist schon strukturiert, wenn klar ist, dass morgens aufgestanden und angezogen wird, es dann zum Kindergarten oder zum Spielplatz geht und am Abend wieder ins Bett gegangen wird. Selbst, wenn es im Verlaufe dieses Tages für das Kind keinerlei Regeln gäbe, wäre er dennoch strukturiert. Zum anderen ist es charakterabhängig, wie viel Struktur wirklich benötigt wird - manche haben das Bedürfnis nach viel, manche nach wenig Ordnung im Leben.

Halten wir also fest: Echte Bedürfnisse sind davon gekennzeichnet, dass alle Menschen auf der ganzen Welt sie haben. Das liegt daran, dass echte Bedürfnisse biologisch in unserem Gehirn verankert sind. Werden sie befriedigt, löst das Belohnungssystem unseres Gehirns ein Hormonfeuerwerk aus. Wir fühlen uns dann gesund, glücklich und lebensbejahend.

Junge liegt auf dem Bauch und lacht

 

Zielführende, scheinbar zielführende und irreführende Strategien, um echte Bedürfnisse zu befriedigen 

 

Irreführende Strategien 


Nicht allen Menschen sind ihre eigentlichen Bedürfnisse bewusst, weshalb es dazu kommt, dass sie irreführende Strategien anwenden. Als mein Sohn zwölf Monate alt war, waren wir oft auf dem Spielplatz. Ebenfalls dort waren die damals fast 7-jährigen Zwillings-Nachbarmädchen Rosa und Marie aus unserem Haus, die eigentlich dort ihre beste Freundin Millie zum Spielen treffen wollten. Die Zwillinge waren sehr vernarrt in meinen Sohn (der zugegebenermaßen ein wunderhübsches Baby war ;-)) und beschäftigten sich oft ausschließlich mit ihm. Millie hatte kein Verlangen, mit Herrn Friedlich zu spielen. Sie war wegen ihrer Freundinnen da und irgendwann sehr genervt, dass diese sich ihr nicht zuwandten. Zuerst versuchte sie, neutral zu fragen: "Kommt ihr jetzt spielen?", doch das kam gegen die Magie des Babys nicht an. Er quietschte und giggelte vergnügt, weil die großen Mädchen für ihn Quatsch machten. Millie fing an, sich allein zu beschäftigen, sah aber sehr traurig aus. Irgendwann versuchte sie, Rosa und Marie zum Fangespielen zu animieren, indem sie zu ihnen rannte, sie antippte und "Du bist!" rief. Auch das funktionierte nicht.

Die beiden buddelten nun mit Herrn Friedlich. Millie wurde ärgerlich. Patzig stieß sie hervor: "Es ist gemein, dass ihr immer mit dem Baby spielt!",  und warf (zögerlich, aber bewusst) etwas Sand auf Marie. Das störte diese natürlich. Sie sagte erbost, Millie solle aufhören. Millie hörte aber nicht auf - sie warf noch mehr Sand. Daraufhin wurden die Zwillinge wütend und ein Streit entspann sich. Millie lief mit hoch rotem Kopf weg. Sie kam an meiner etwas entfernten Bank vorbei. Mit unterdrücktem Zorn warf sie mir vor: "Marie und Rosa spielen immer nur mit deinem Baby. Dabei waren sie mit mir verabredet." Ich nickte. "Ich hab es gesehen", sagte ich und wartete ein bisschen ab. Würde sie sich öffnen? Sie blieb etwas unschlüssig vor mir stehen und schaute stumm auf ihre Zehnspitzen. Das Warten zog sich ein bisschen. "Die sind so gemein!", platzte es irgendwann unglücklich aus ihr heraus. Dann hatte sie eine Idee: "Kannst du dein Baby wegnehmen? Dann spielen sie bestimmt mit mir." Ich überlegte. "Hast du ihnen denn schon gesagt, wie du dich fühlst?", fragte ich. - "Na klar, ich habe gesagt, dass ich es gemein finde, dass sie mit dem Baby spielen und nicht mit mir." - "Mmhhh. Nein, ich meinte eigentlich, ob du ihnen gesagt hast, wie du dich fühlst. Wie fühlst du dich denn? - "Ich bin sauer auf die beiden!" - "Das kann ich verstehen. Fühlst du noch etwas anderes?" - "Ich bin traurig. Nein, warte, ich bin enttäuscht. Ich hatte mich auf das Spielen gefreut." Ich nickte wieder und schaute ihr direkt in die Augen. "Weißt du, ich habe euch beobachtet. Du hast wirklich eine Menge ausprobiert, um die beiden zum Spielen zu überreden. Du hast sie freundlich gebeten, du hast sie angestupst und dann bist du sauer geworden und hast sie mit Sand beworfen. Das alles waren Strategien. Die haben nicht so gut funktioniert... Vielleicht gehst du mal zu ihnen hin und sagst ihnen, wie du dich fühlst. Also, du fängst den Satz nicht mit "Ihr seid gemein!" an, sondern du sagst "Ich bin enttäuscht und traurig, weil...". Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das hilft". Millie schaute mich forschend an und drehte sich dann abrupt um. Sie lief zu den Zwillingen. Ich hörte, was sie sagte. Sie machte das wirklich ganz wunderbar: "Ich hatte mich auf euch gefreut. Wir wollten doch spielen. Aber jetzt spielt ihr mit dem Baby. Das macht mich irgendwie traurig". Marie und Rosa schauten ganz bestürzt. "Ja, stimmt, wir wollten spielen. Okay, warte". Sie wandten sich meinem Baby zu: "Herr Friedlich? Wir spielen jetzt mit Millie, ja? Bis später! Und nicht so viel Sand essen, Kleiner!" Dann rannten sie zusammen mit ihrer Freundin los. Millies neue Strategie hatte funktioniert.

Ein ähnliches Erlebnis hatte ich mit meiner Mutter, als Herr Friedlich etwa acht Monate alt war. Meine Eltern hatten meine Töchter zum Schwimmunterricht gebracht und ich kam mit Herrn Friedlich nach, um ihnen durch die Scheibe zuzuschauen. Ich wusste, dass mein Sohn die Atmosphäre in der Schwimmhalle nicht mochte - er hatte dort Angst - deshalb ließ ich ihn nach Ankunft in der Trage. Er kuschelte sich ein. Sein Gesicht war kaum zu erkennen. Er war auch nicht bereit, seine Großeltern anzuschauen oder sich gar aus der Trage nehmen zu lassen. Seine Bedürfnisse waren ganz klar Geborgenheit und Sicherheit, und ich erfüllte sie ihm.

Nachdem sie sich eine Weile vergeblich um Herrn Friedlich bemüht hatte, indem sie ihn freundlich ansprach, wandte sich meine Mutter an mich mit den Worten: "Er ist aber wirklich ein ganz schönes Muttersöhnchen!" Ich zuckte merklich zusammen, presste meine Lippen aufeinander und hielt ein paar wütende Tränen zurück. Wie konnte sie nur so etwas sagen? Wie konnte sie diesen süßen, freundlichen Knirps so beleidigen? Verletzt schwieg ich und lenkte dann auf ein anderes Thema um. Doch ihre Worte beschäftigten mich noch lange an diesem Tag. Meine Eltern sind die besten Großeltern der Welt. Sie sind engagiert, liebevoll, großzügig und sie sind verdammt stolz auf meine drei Kinder. Der Muttersöhnchen-Satz passte einfach nicht zu ihrer großen Enkel-Liebe. Was war da los? Es musste ein unerfülltes Bedürfnis hinter ihrem verletzenden Verhalten geben.

Ich überlegte, was ihr Bedürfnis sein könnte und fand es bald: Emotionale Verbundenheit. Sie wollte gern mit ihrem kleinen Enkel in Verbindung treten, wollte ihn halten, mit ihm spielen und scherzen, so, wie sie es mit den großen Mädchen tut. Doch seit seiner Geburt sahen wir uns viel weniger mit meinen Eltern, weil ich es so anstrengend fand, mit allen dreien quer durch die Stadt zu ihnen zu fahren. Die beiden hatten Herrn Friedlich bisher weit weniger gesehen, als die Mädchen damals im gleichen Alter. Und weil er sich in der Schwimmhalle so zurückgezogen hatte und sie nicht an ihn ran ließ, konnte meine Mutter dieses Bedürfnis nach emotionaler Verbindung mit ihm nicht befriedigen. Ihre Strategie, die dann folgte, war die denkbar schlechteste, die sie wählen konnte. Es ist eine Strategie, die wir alle oft genug anwenden: Sie verletzte, indem sie Schuld zuwies. ("Er ist ein Muttersöhnchen, deshalb will er nicht auf meinen Arm"). Natürlich ist diese Strategie absolut irreführend. Keine Mutter dieser Welt würde nach so einem Satz ihr Kind aus der Trage holen und der Oma auf den Arm setzen. Kein Kind dieser Welt würde die Geborgenheit der Trage aufgeben für jemanden, der es gerade beleidigt hat. Aber meiner Mutter war eben gar nicht klar, was ihr Bedürfnis überhaupt gewesen war. Sie hat nur den unbestimmten Stich verspürt, als es nicht erfüllt wurde und der Schmerz darüber machte sie verbal leicht aggressiv. Hätte sie gewusst, dass sie sich eigentlich Verbindung mit ihrem Enkel wünscht, wäre sie ganz sicher anders an die Sache herangegangen. Dann wäre ihr klar gewesen, dass so eine emotionale Verbindung nicht an einem Nachmittag entsteht. Sie hätte vielleicht geduldiger reagiert und sein Bedürfnis nach Geborgenheit besser akzeptieren können, weil sie gewusst hätte, dass es für ihr Ziel eher zuträglich ist, seine Grenzen zu achten. Vielleicht hätte sie ihre Enttäuschung besser ausdrücken können, indem sie gesagt hätte: "Wie schade, dass er heute nicht aus der Trage rauskommen will. Ich hätte ihn so gern auf den Arm genommen. Ich habe das Gefühl, ihn noch gar nicht richtig zu kennen und habe Angst, dass er mir gegenüber immer so reserviert bleiben wird". Eine solche Offenbarung ihrer echten Gefühle hätte bei mir etwas ganz anderes ausgelöst, als die Strategie, die sich in Wirklichkeit nutzte. Ich hätte dann, weil ich ihr Bedürfnis nach Verbindung nachvollziehen kann, aktiv eine Lösung für das Dilemma gesucht. Ich hätte ihn an dem Tag zwar trotzdem nicht aus der Trage genommen (weil ich sein Bedürfnis erfüllen wollte und Vorrang vor dem Bedürfnis der Oma hat), aber vorgeschlagen, mich öfter mit ihr und ihm auf dem Spielplatz zu treffen, wo die Atmosphäre für ihn weniger beängstigend ist.


Hände einer Erwachsenen halten Kinderhände


Schauen wir noch einmal auf mein Eingangsbeispiel mit Herrn Friedlich, der sich nicht anziehen ließ, weil er nicht in die Kita wollte. Auch mein Sohn hätte, wenn er besser sprechen könnte und sich seines Bedürfnisses bewusster gewesen wäre, eine andere Strategie wählen können. Statt sich am Morgen allem zu verweigern,  hätte er mir sagen können: "Hör mal zu, Mama - ohne meine Erzieherin fühle ich mich in der Kita einsam und verloren. Ich möchte deshalb heute nicht hingehen und lieber bei dir bleiben. Denn bei dir fühle ich mich immer geborgen und gut". Ganz unabhängig davon, ob ich ihm das dann erfüllen hätte können, hätte die Offenbarung seines echten Bedürfnisses bei mir keine Wut ausgelöst, was die Chance, dass ich versucht hätte, eine gute Lösung für ihn zu finden, dramatsich ansteigen lässt. Mir ist natürlich klar, dass so ein Bewusstmachen des eigenen Bedürfnisses die Kompetenz eines Kindes übersteigt. Es übersteigt ja sogar die Kompetenz der meisten Erwachsenen. Deshalb ist es unsere Aufgabe als Eltern, die echten Bedürfnisse hinter dem Verhalten unserer Kinder zu suchen und dann darauf zu reagieren, statt auf ihre ungünstigen Strategien. 

Scheinbar zielführende Strategien


Ich hatte schon in diesem Artikel angedeutet, dass sich das Belohnungssystem unseres Gehirns, welches ja die Glückshormone ausschüttet, wenn unsere echten Bedürfnisse erfüllt sind, leider durch Ersatzbefriedigungen düpieren lässt. Sprich: Wir können es verarschen. Die Glücks-Maschinerie in unserem Hirn wird auch dann angeworfen, wenn wir Süßigkeiten essen, Alkohol und andere Drogen konsumieren, vor dem Fernseher abhängen oder uns in sozialen Netzwerken herumtreiben. Das alles sind Strategien, die scheinbar unsere Bedürfnisse gut befriedigen.

Nehmen wir die sozialen Netzwerke. Ich bin für unseren Blog auf Twitter zu finden. Danielle wiederum ist diejenige, die unseren Facebook-Account betreut. Nun bin ich also jeden Tag auf Twitter und habe dort einen wirklich lieben, super unterstützende Online-Clan gefunden. Wir lieben uns. Wir unterhalten uns, soweit das die 140 Zeichen-Grenze zulässt, wälzen gemeinsam Probleme, heulen uns aus, machen Vorschläge für die Blogs der anderen, manchmal zanken wir uns auch. Einmal setzte jemand einen Hilferuf ab, sein iPhone sei kaputt gegangen und er habe gerade kein Geld für ein neues. Schon meldete sich eine, die ihm ihr altes kostenlos zuschickte. Man kann sagen, es haben sich echte Freundschaften entwickelt - wir erfüllen also unser Grundbedürfnis nach Gemeinschaft dort. Nun weiß ich nicht, wie es den anderen geht, aber für mich ist Twitter seltsam süchtig machend. Ich ertappe mich immer öfter dabei, wie ich mein Handy gedankenverloren aus der Hosentasche zücke, um "nur mal schnell" zu gucken, was die anderen so machen, sagen und posten. Habe ich selbst einen Tweet geschrieben, bin ich alle paar Minuten neugierig, ob er schon von jemandem geliked wurde. Noch mehr geht mir das so, wenn ich einen Link zu meinem neusten Artikel poste - ich kann es dann kaum erwarten, bis jemand ihn kommentiert und mir Feedback gibt. Es scheint so, als fände mein Gehirn meine Online-Gemeinde so großartig, dass es nicht genug davon bekommen kann. Es möchte immer mehr. Und das ist auch das Merkmal von Ersatzbefriedigungen: Sie scheinen auf den ersten Blick unsere Grundbedürfnisse zu erfüllen: Im Fall von Twitter ist das die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die Wertschätzung meiner Arbeit. Doch echte Befriedigung ist es nicht, jedenfalls nicht für mein Gehirn. Die Befriedigung ist nicht nachhaltig. Das Gehirn braucht davon schnell immer mehr, um die gleiche Menge an Glückshormonen auszuschütten und der Mensch gerät in eine Art Suchtkreislauf. Somit ist also meine Strategie, mein Bedürfnis nach Gemeinschaft durch ein soziales Netzwerk zu erfüllen, nur scheinbar zielführend.

Vor ein paar Wochen nun ist etwas wunderbares passiert: Mein Online-Clan hat sich offline getroffen, nämlich bei der Blogfamilia-Konferenz in Berlin. Ich habe dort einen wirklich grandiosen Tag verbracht. Ich habe mit meinen Freunden Herrn Pfarrfrau und Florian von Großstadtküste kichernd in den Vorträgen gesessen und Lego gebaut. Mit Christian vom Familienbetrieb konnte ich übers Bücherschreiben philosophieren. Ich habe die schönsten Männer der Welt, den Papa mit Hut und Jonny Weddingerberg, umarmt. Ich habe die Babybäuche der wunderbaren Alu von Große Köpfe, Bettie von Frühes Vogerl und Bella von Familie Berlin bewundert, mit der bezaubernden Kerstin von Chaoshoch2 über Zwillingsprobleme geplaudert und wurde von Anneliese von Einerschreitimmer freundlich dazu geknufft, nun endlich mal die Abgesandte der Zeitschrift Eltern anzusprechen und ihr von meinem Blog zu erzählen (Danke!). Gleich im Anschluss beeindruckte mich Jessica von Feiersun mal wieder mit ihrem Selbstbewusstsein. Sarah von Mamaskind und Sonja von Mama Notes habe ich leider nur von Weitem gesehen, aber schon allein das Winken war schön! Ich war dabei, als meine Freundin Jessi vom Blog Terrorpüppi aus einem Gespräch mit der unglaublich tollen Juramama so bestärkt herausging, dass sie förmlich schwebte. Ich habe mit Sandy von Einhaufenliebe jemanden kennen gelernt, die noch schüchterner war, als ich und die ich so gern noch einmal auf einen Kaffee treffen würde. Ich wechselte kurze, aber liebe Worte mit Carola von Frischebrise und  Jette und Olli von Halbesachen. Ich habe mit Bea Beste ein Bier getrunken (na gut, in meinem Glas war nur Wasser) und mal wieder festgestellt, was für eine unglaubliche Naturgewalt diese Frau ist.... Und wisst ihr was? Nach diesem Tag war ich wirklich und wahrhaftig beseelt. Ich lief tagelang mit einem Lächeln durch die Stadt und das ging nicht nur mir so. Wenn ihr euch durch die Artikel klickt, die meine Blogger-Freunde nach der Konferenz veröffentlichten, dann werdet ihr lesen, wie viel Glück und nachhaltige Freude dieses echte Treffen in uns allen auslöste. Unsere Belohnungszentren liefen auf Hochtouren -  langanhaltend und komplett erfüllend.

Ich will also nicht sagen, "Haltet euch von den sozialen Netzwerken fern, die sind der Teufel!" Nö. Alles gut. Ich möchte euch aber ans Herz legen, im Hinterkopf zu behalten, welche echten Bedürfnisse ihr damit eigentlich befriedigen wollt und dann nicht zu vergessen, das auch zu tun. Wenn ihr euch also wieder und wieder mit dem Smartphone in der Hand wiederfindet, um zu gucken, ob euer neustes Instagram Bild schon Herzchen bekommen hat, wenn ihr euch abends k.o. mit Chips und Cola auf das Sofa vor den Fernseher haut und euch danach trotzdem irgendwie nicht regeneriert fühlt, dann denkt daran, dass ihr nur scheinbar eure Grundbedürfnisse erfüllt und ihr, um wirklich glücklich zu sein, andere Strategien finden solltet. 

Abwägen von Bedürfnissen


Nun ist es schön und gut zu wissen, dass jeder Mensch Bedürfnisse hat. Doch manchmal kollidieren diese im Alltag miteinander - das macht das Erfüllen etwas kompliziert. Im Beispiel mit meiner Mutter und Herrn Friedlich kamen sich ihr Bedürfnis nach Verbindung mit ihm und sein Bedürfnis nach Geborgenheit und Schutz in die Quere. Beide Bedürfnisse haben ihre Berechtigung und sollten irgendwie erfüllt werden. Es ist trotzdem möglich, sie in der Situation zu gewichten. Das Bedürfnis nach Verbindung hätte vermutlich in der Schwimmhalle auch dann nicht erfüllt werden können, wenn ich Herrn Friedlich aus der Trage genommen hätte. Denn dann hätte mein Sohn so laut geweint und protestiert, dass ein Auf-den-Arm-Nehmen durch seine Oma sowieso zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Eher hätte so ein Vorgehen die Möglichkeit einer Verbindung zwischen den beiden torpediert. Deshalb war schnell klar, dass hier Herr Friedlichs Bedürfnis Vorrang hatte. Die Erfüllung des Bedürfnisses meiner Mutter musste auf eine günstigere Gelegenheit warten. Nun wohnen wir recht nah beeinander, so dass das kein Problem darstellt. Was aber, wenn die Oma kilometerweit weg wohnt, den Enkel nur 2x im Jahr sieht und ihn dann gern auf den Arm nehmen will, obwohl das Kind signalisiert, dass es das nicht will? Hier ist das Abwägen schwieriger. Ich würde sagen: Auch hier gehen die Bedürfnisse des kleinen Kindes vor, doch sollten sich die Eltern Gedanken machen, wie es vielleicht doch noch möglich ist, dass auch das Bedürfnis der Oma befriedigt wird. Vielleicht nimmt das Kind aus der Sicherheit des elterlichen Arms eher Kontakt mit ihr auf? Vielleicht ist es einfacher, wenn alle gemeinsam spazieren gehen und die Oma dabei immer mal einen vorsichtigen Vorstoß in Richtung Kind macht? Das muss man ausprobieren.

Junge fährt Fahrrad

Wenn ein Vierjähriger mit seinen älteren Freunden um den Teich radeln will, ohne dass seine Eltern dabei sind, dann möchte er autonom und Teil einer Gemeinschaft sein. Wenn dieser Junge aber noch nicht schwimmen kann und rund um den Teich auch Autos fahren, dann werden - zurecht - die elterlichen Bedürfnisse nach Sicherheit und Schutz aktiviert. Wieder muss abgewägt werden - wessen Bedürfnis wiegt schwerer? In diesem Fall das der Eltern, da die reelle Gefahr vom Kind noch nicht eingeschätzt werden kann. Trotzdem sollten die Eltern darauf achten, ihm andere Gelegenheiten zu bieten, autonom zu agieren. Möchte er also auf einen Baum oder auf das Dach eines Spielplatz-Häuschens klettern, sollten sie das nicht schon wieder aufgrund ihres Bedürfnisses verbieten. Die echte Gefahr ist hier viel geringer, als der Nutzen für das Kind. Beschneiden die Eltern, weil sie Angst haben, immer wieder die Möglichkeiten zur Erfüllung des Bedürfnisses, wird das Kind irgendwann aggressiv und unwirsch reagieren. Möglicherweise wird es, wenn sie nicht hinsehen, trotzdem auf den Baum klettern oder vor lauter Frust etwas noch Gefährlicheres tun. Unerfüllte Bedürfnisse lassen nicht locker - sie nagen so lange in unserem Inneren, bis wir einen Weg gefunden haben, sie zu erfüllen.

Noch schwieriger wird es, wenn die Bedürfnisse mehrerer Kinder aufeinanderprallen. Erwachsene schaffen es meist gut, ihr eigenes Bedürfnis, zumindest für kurze Zeit, zurückzustecken, aber Kinder? Es ist wirklich die hohe Kunst der Elternschaft, in einem solchen Moment allen gerecht zu werden. Ich sehe mich noch mit einem Neugeborenen im Tuch an der Brust stillend mit der rechten Hand den Zwillingswagen meiner mittagsmüden und schlafen wollenden Töchter schieben und in der linken Hand zwei heiße Pizzapackungen und obendrauf zwei große Becher Eiscafé balancieren. Call me Superwoman! Es ist meist unmöglich, alle kindlichen Bedürfnisse gleichzeitig zu erfüllen. Auch hier muss abgewägt werden, wer für den Moment zurückstecken kann und wer nicht.

Wichtig ist jedoch, die Bedürfnisse, die nicht sofort erfüllt wurden, im Blick zu behalten und dann freiwillig gleich zu beantworten, wenn die Kapazität da ist. Das ist wirklich immens wichtig. Denn nur so lernen unsere Kinder, dass sie nicht um die Befriedigung ihrer Bedürfnisse kämpfen und deshalb nicht eifersüchtig reagieren müssen, wenn einem Geschwisterkind Vorrang gegeben wird. Möchte das Baby also an der Brust trinken, und das Kleinkind in diesem Moment jedoch ebenfalls Aufmerksamkeit von der Mama, dann muss man schauen, ob es ihm ausreicht, nebenbei beim Stillen ein Buch vorgelesen zu bekommen. Ist das nicht der Fall, muss es leider abwarten, bis das Stillen vorbei ist. Doch dann sollte die Mutter wirklich dringend ihr Baby kurz beiseite legen und sich aktiv dem Kind, dessen Bedürfnis noch nicht gestillt ist, zuwenden. Ich werde das in dem Artikel über die Abende in unserer Familie noch einmal detaillierter darstellen.

Schlagen wir einen Bogen zurück auf das Beispiel mit Herrn Friedlich von oben, als er sich weigerte, sich anzuziehen, Zähne zu putzen und zu frühstücken. Ich hatte hinter seiner ungünstigen Strategie sein echtes Bedürfnis erkannt: Er wollte den Tag geborgen bei einer Bindungsperson verbringen und deshalb nicht in den Kindergarten. Nun überkreuzte sich sein Bedürfnis mit meinen Verpflichtungen. Ich musste zur Arbeit und ich musste auch pünktlich dort ankommen. Selbst wenn ich sein Bedürfnis erfüllen wollte, hätte ich es nicht gekonnt. Deshalb brachte ich ihm erst einmal Verständnis für sein Bedürfnis entgegen. Ich redete mit ihm, ich tröstete ihn. Das allein reichte schon aus, dass ich ihn doch noch anziehen durfte. Er kooperierte. Einfach so, obwohl ich nichts weiter getan hatte, als seinem Kummer zuzuhören! Ich überlegte bei der Arbeit dann hin und her, wie ich ihm sein Bedürfnis doch noch zumindest teilweise erfüllen könnte und schaffte es tatsächlich, ihn direkt nach dem Mittagschlaf abzuholen. Somit hatte er dann zwei Stunden ungestörte Zweisamkeit mit mir, die ihm sichtlich gut taten. Nun ist es mir nicht möglich, das jeden Tag zu tun - mein Arbeitgeber würde mir kündigen, würde ich mir das erlauben. Aber das muss ich auch gar nicht: Die - manchmal abstrusen-  Wünsche unserer Kinder verschwinden von ganz allein, wenn die echten Bedürfnisse, die dahinter stehen, vollständig befriedigt wurden. Deshalb sollten wir Eltern uns merken: Wir müssen nicht alle Wünsche unserer Kinder erfüllen. Wir müssen auch nicht alle Strategien unserer Kinder gutheißen. Aber wir sollten alles daran setzen, ihre echten Bedürfnisse zu befriedigen. Und unsere eigenen auch.

© Snowqueen


Quellen


Bauer, J., Warum ich fühle, was du fühlst: Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, 2006

Bauer, J., Selbststeuerung: Die Wiederentdeckung des freien Willens, 2015

Bauer, J., Prinzip Menschlichkeit: warum wir von Natur aus kooperieren, 2008

Rosenberg, M.B., Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens, 2004


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