Die
Versprechen der Baby-Kurse klingen verlockend - Gebärdensprache für
Babys soll unsere Kinder nicht nur intelligenter machen, sondern auch die Anzahl von Wutanfällen effektiv reduzieren
und ihnen helfen, schneller sprechen und später einfacher lesen und
schreiben zu lernen. Selten hat ein Baby-Trend, der aus den USA zu uns
rüber geschwappt ist, so viele Hoffnungen geweckt und gleichzeitig
Eltern so unter Druck gesetzt, wie die Zwergensprache.
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"Mehr!"
Quelle: Zwergensprache GmbH |
Wissenschaftliche Studien zur Babygebärdensprache
In den 80er Jahren begannen die Wissenschaftlerinnen Linda Acredolo und Susan Goodwyn eine Untersuchung mit ca. 100 elfmonatigen Kindern, die in drei Gruppen eingeteilt wurden. Die Eltern der ersten Gruppe sollten mit ihren Kindern nicht nur sprechen, sondern gleichzeitig auch Schlagwörter gebärden. Die zweite Gruppe sollte nicht gebärden, aber beim Spielen und Sprechen mit ihren Kindern besonderen Wert auf die sprachliche Kommunikation legen - also viel und genau verbalisieren und ihre Kinder ebenso dazu ermuntern. Die letzte Gruppe Eltern wusste weder etwas über Gebärden, noch war ihnen der Schwerpunkt der Untersuchung (Kommunikation) klar. Sie spielten und sprachen so mit ihren Kindern, wie sie es auch ohne Studie taten.
Die Kinder wurden im Alter von 15, 19, 24, 30 und 36 mit standardisierten Tests auf ihre Sprachfähigkeiten getestet. Während es zwischen den beiden Kontrollgruppen ohne Gebärden fast keine Unterschiede gab, schienen die Kinder der Gebärden-Gruppe zu jedem Zeitpunkt verbal den anderen Gruppen weit voraus. Mit 24 Monaten, so schienen die Wissenschaftlerinnen beweisen zu können, hätten die Gebärden-Kinder bereits einen durchschnittlichen Wortschatz von 28-monatigen Kindern erreicht. Mit 3 Jahren sprachen sie auf dem Niveau von 4-Jährigen. Sie schnitten in Intelligenztests durchschnittlich um 12 Punkte besser ab, als die Kinder der Kontrollgruppen.
Leider wiesen die Studien grundlegende methodische Mängel auf. Sie waren so aufgebaut, dass die Ergebnisse eigentlich schon von Vornherein feststanden und nur noch bestätigt wurden. Sie erlauben deshalb keine wissenschaftlich fundierte Aussage, wie Cyne Johnston von der University of Ottawa 2004 im Auftrag des Canadian Language and Literacy Research Network feststellte. Mit anderen Worten: Die empirische Forschung bleibt bis heute eindeutige Belege der postulierten Vorteile schuldig.
Ich habe mit meinen Kindern trotzdem gebärdet. Nicht, weil mir wichtig war, sie frühzeitig zu "fördern", um so ihre Intelligenz zu steigern, auch nicht, um ihre Sprachaneignung zu beschleunigen. Ich habe gebärdet, weil ich meine Kinder besser verstehen wollte. Ich wollte nicht raten müssen, wenn sie unzufrieden sind und weinen und ich war neugierig, was in ihren kleinen Köpfen so vor sich ging.
Welche Gebärdensprache sollen wir nutzen?
Mittlerweile gibt es eine Reihe von verschiedenen Gebärdensprachen für Babys, so dass eine Auswahl für Eltern ohne Vorkenntnisse erst einmal schwer fällt. Die wahrscheinlich bekanntesten Babykurse für Gebärden sind die der Zwergensprache, einem Konzept von Vivian König, die auch ein sehr umfangreiches Gebärdenbuch herausgebracht hat. Die Zwergensprache basiert auf den Gebärden der "echten Gebärdensprache" (DGS/ Deutsche Gebärdensprache) und wurde allenfalls leicht modifiziert. Vivian König schreibt:
"Wir haben bei unserer Gebärdenauswahl aus den deutschen Dialekten der DGS darauf geachtet, dass diese für Babys möglichst leicht nachzuahmen und anschaulich sind, so dass die Kinder die Assoziation leicht herstellen können zu dem, was die Geste darstellt. Zudem ist die Auswahl so abgestimmt, dass die Gebärden möglichst verschiedenen Arm- und Handbewegungen ausführen und an deutlich verschiedenen Körperstellen gezeigt werden. Damit werden spielerisch auch Motorik, insbesondere die Auge-Hand-Koordination und Körperwahrnehmung der Kleinen geschult. Nur ganz wenige Gebärden (vielleicht 10 von 300) sind verkürzt oder für Babyhände vereinfacht worden. Manche Gebärden der DGS bestehen aus bis zu drei Bewegungsabläufen. Das halte ich für die Kleinsten zu kompliziert. Manche sind motorisch sehr anspruchsvoll. Da ich mir aber wünsche, dass die Kinder die Zeichen anwenden und ich sie erkennen kann, sind die wenigen Vereinfachungen zustande gekommen."
In den Kursen lernen die Eltern Kinderlieder und Spiele, die ein Grundvokabular an Babygebärden enthalten. Für die Kinder ist es nichts anderes, als ein Kurs, in dem gesungen wird und das ist auch gut so, denn klassisches Vokabelpauken ist in diesem Alter ganz und gar unsinnig. Den Eltern werden in jeder Kursstunde jeweils 6-7 Zeichen angeboten. Sie wählen daraus aus, was Sie für ihr Kind für passend halten und was sie davon umsetzen möchten. Das geschieht unter Berücksichtigung der Interessen und des Alters des Kindes sowie der Umsetzungsmöglichkeit im Alltag und in Ritualen. So werden im Laufe eines 10-12 Wochen Kurses ca. 75 Gebärden vermittelt. Vivian König ist besonders die langfristige Begleitung der Eltern wichtig, damit kein Lerndruck aufkommt, sondern die Kinder in ihrem jeweiligen Tempo die Zeichen ausprobieren können. Gerade Gelassenheit im Umgang damit, eigenes Bauchgefühl und die Individualität der Kinder sollten im Vordergrund stehen.
Ebenso gut sind die Kurse von babySignal (Wiebke Gericke), auch diese stützen sich auf die Deutsche Gebärdensprache. Auch hier erfahren die Eltern im Kurs, wie sie die Gebärden in den alltäglichen Ablauf mit ihrem Kind (beim Sprechen, Singen, Spielen) einbauen können. Jede Woche lernen sie neue Gebärden und neue Möglichkeiten für die Umsetzung zu Hause, während die Kinder sich frei im Raum bewegen dürfen.
Natürlich muss man als Eltern keinen Kurs besuchen, wenn man das nicht möchte. Man muss auch nicht zwingend die Gebärden der deutschen oder österreichischen Gebärdensprache nutzen. "Schau doch meine Hände an" des Bundesverbandes der evangelischen Behindertenhilfe arbeitet zum Beispiel mit speziellen Gebärden, die nicht sprechenden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit geistiger Behinderung bei der Bewältigung ihres Alltags helfen sollen und dafür besonders vereinfacht wurden. Bernd Eisenhardt, Fachschuldirektor ("Die Zieglerschen") erklärt.
"Die Gestaltung (Fotos, Videos) und auch das Vorwort stammen aus der Heimsonderschule Haslachmühle, einer Einrichtung für hör- und sprachbehinderte Menschen mit geistiger Behinderung. Für diesen Personenkreis wurden seit den 60er Jahren diese Gebärden auch entwickelt, parallel in mehreren Einrichtungen, in denen diese Menschen lebten. Für die Gehörlosen waren Gebärden zu diesem Zeitpunkt "verboten", sie mussten in der Schule Lippemablesen lernen.
Erst Anfang der 80er Jahre setzte sich die DGS (Deutsche Gebärdensprache) als anerkannte gleichberechtigte Sprache zur Lautsprache durch. Dies ist auch der Unterschied zu "Schau doch meine Hände an". DGS ist eine eigene Sprache der Gehörlosen mit eigener Grammatik die ohne Lautieren praktiziert wird. SdmHa wird lautsprachunterstützend eingesetzt und nur die Sinnträger der Botschaften werden gebärdet. Unsere Gebärdensammlung ist sowohl vom Wortschatz als auch von der Ausführung auf geistig behinderte Menschen abgestimmt und wird zumindest in Baden Württemberg an den meisten Sonderschulen für geistig Behinderte eingesetzt."
Es ist außerdem durchaus möglich, sich selbst Zeichen auszudenken - als idiosynkratisches Zeichensystem einer Familie und ohne jeden Bezug zu einer bestehenden Gebärdensprache. Wichtig ist, dass diese konstant bleiben, also immer die gleiche Gebärde für ein Wort. Guckt einfach, welches System für euch als Familie am einfachsten zu lernen ist.
Ich war selbst in keinem Kurs, sondern habe mir einfach dieses Buch gekauft und mich zunächst für mich selbst mit den einzelnen Gebärden beschäftigt. Als ich das Gefühl hatte, nun einen Grundwortschatz parat zu haben, begann ich, im Alltag ein paar wenige Gebärden gleichzeitig zur Sprache zu benutzen.
Wie führen wir die ersten Gebärden ein?
Meine Töchter sind so unterschiedlich, wie Feuer und Wasser. Während die eine motorisch sehr fit ist, lag sie andere lange zufrieden auf dem Rücken auf der Krabbeldecke herum und lautierte vor sich hin. Die motorisch fitte Tochter spielte fast nie mit Lauten. Diese typischen lalalala, gagaga, mamama -Phasen durchlief sie so gut wie nicht. Das höchste der verbalen Äußerung war ein örrrööö und ein gurrrrr, aber dann war sie auch schon wieder damit beschäftigt, sich vorwärts- oder rückwärts zu schieben oder irgendein weit entferntes Spielzeug unter Aufbietung aller Kräfte zu erreichen. Meine sprachlich fitte Tochter dagegen durchlief alle Lall-Phasen sehr früh, nutzte Silbenverdopplungen mit großer Vorliebe und spielte richtggehend mit ihrem Mund, indem sie bewusst ihre Lippen verformte, mit Spucke gurgelte, Spuckebläschen produzierte und dabei genau zuhörte, was diese Veränderungen der Lippenmotorik mit den Lauten aus ihrem Mund machten.
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"Milch"
Quelle: Zwergensprache GmbH |
Bei beiden Kindern begann ich mit ca. 8 Monaten, wenige Gebärden einzuführen. Ich begann zunächst mit "fertig" (der Gebärde für "genug") und "Milch". Immer, wenn ich eines der beiden Wörter im Alltag auftraten, gebärdete ich sie gleichzeitig mit dem gesprochenen Wort - diese Vorgehensweise nennt man lautsprachunterstützendes Gebärden. Wurden sie also unruhig und zappelig und ich wusste, sie hatten Hunger, fragte ich "Möchtest du Milch?" (unterstrichene Wörter sind immer gesprochen und gebärdet). Fielen sie satt wie Maikäferchen von meiner Brust ab, sagte ich: "Oh, ich glaube, du bist fertig." Auch beim Windelwechseln oder Anziehen - beides mochten sie überhaupt nicht - setzte ich fertig oft ein. Immer, wenn ich die Tätigkeit fast beendet hatte, sagte ich: "Wir sind gleich fertig!", was den wunderbaren Nebeneffekt hatte, dass sie ab da anfingen, sich zu entspannen. Sobald ich also fertig gebärdet und gesprochen hatte, wurde der Kampf gegen die Windel oder das Kleidungsstück aufgegeben, denn sie wussten, dass ein Ende in Sicht ist.
Es ist übrigens am Anfang sehr seltsam, zu gebärden. Wir sind es einfach nicht gewohnt und man kommt sich, ehrlich gesagt, ein bisschen plemplem vor, seine Hände so unterstützend zu nutzen. Deshalb habe ich erst einmal zuhause gebärden geübt, manchmal auch vor dem Spiegel, denn es ist gar nicht so einfach, sich gestisch expressiv auszudrücken, wenn man von Natur aus eher introvertiert ist. Der Spiegel hat mir geholfen, mich an meine Gebärden selbst zu gewöhnen und wenn man einmal über die erste Hemmschwelle hinweg ist, macht man es auch in der Öffentlichkeit....
Fertig (genug) war die Gebärde, die ich am allerhäufigsten nutzte und tatsächlich war dies auch die erste, die meine motorisch fitte Tochter mit 9 Monaten nutze. Wir waren gerade beim Breiessen, als sie nach drei oder vier Löffelchen ihr Ärmchen wild hin- und her wedelte. Ich dachte zunächst, dass sie mir den Löffel aus der Hand schlagen will, dann aber realisierte ich, dass sie vielleicht gebärdet. Ich probierte noch einmal aus, den Löffel zu ihrem Mund zu führen - wieder das wilde Armgefuchtel verbunden mit einem grantigen Gesichtausdruck. Ich antwortete ihr überrascht: "Du sagst fertig! Gut, dann hören wir jetzt auf." Sofort erschien ein Strahlen auf ihrem Gesicht - ich hatte sie richtig verstanden.
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"essen"
Quelle: Zwergensprache GmbH |
Es ist schwer, die ersten Gebärden des Kindes richtig zu identifizieren, denn die Auge-Hand-Koordination ist in einem so jungen Alter natürlich noch nicht besonders gut ausgeprägt. Deshalb sind viele Gebärdenversuche unserer Kinder erst einmal grob verzerrt und daher leicht zu übersehen. Die Gebärde "genug" (die ich für "fertig" nutzte) ist eigentlich ein zweimaliges Tippen der Hand mit der Handkante kurz unter dem Mund. Meine Tochter dagegen fuchtelte zunächst ihren ganzen ausgestreckten rechten Arm vor ihrem Oberkörper hin und her. Später, mit ca. 12 Montaten veränderte sie die "fertig"-Geste, indem sie ihre flache Hand zweimal über ihren gesamten Mund legte, mit 14 Monaten verfeinerte sie die Gebärde dann zum letzten Mal - erst dann sah sie so aus, wie das Original. Es ist nicht verwunderlich, dass auch das Gebärden ein Prozess ist, der erst nach und nach erlernt wird. Auch beim Sprechen unterlaufen unsere Kinder Übungsphasen - bei meinen Töchtern hieß "schaukeln" lange Zeit "aate", dann "autel", dann "saukeln" und zu guter Letzt "schaukeln". Einige Gebärden blieben auch in ihrer verkürzten Version. "Milch" zum beispiel wird in der DGS wie das Melken einer Kuh gebärdet, man öffnet und schließt seine Hände, während man die Arme abwechselnd nach oben und unten bewegt. Meine Töchter verkürzten das selbständig auf ein gleichzeitiges Auf- und Abbewegen beider Arme, die Hände waren zu Fäustchen geschlossen. Insbesondere nachts war diese - sehr vehemente - Gebärde hilfreich, da ich auch im Halbschlaf das energische "Milch!!!" registrierte.
"Weintraube" wird in der DGS normalerweise mit zwei Händen gebärdet. Die eine Hand wird so in der Luft gehalten, als würde man eine ganze Traube Weintrauben am Stiel festhalten, die andere Hand formt mit den Fingern von unten die daran dranhängenden Trauben nach. Meine Töchter zeigten immer nur die obere Hand - und das reichte auch aus, ich verstand sie ohne Probleme.
Manchmal dauerte es etwas, bis ich kapierte, was sie mir sagen wollten: Wir waren oft in einem Spielcafé (Freund Blase), in dem ein wirklich super netter, von meinen Kindern schwer angehimmelter Mann hinterm Tresen steht. Eines Tages stand eine meiner Töchter vor mir und zuppelte sich bedeutungsschwanger vorn an ihren Haaren und guckte dabei immerzu zum Tresen. Ich wusste, sie wollte mir etwas sagen - aber was?! Sehr ausdauernd zeigte sie mir immer wieder die Gebärde "Haarzuppeln", bis bei mir endlich der Groschen fiel - "Mann! Du gebärdest Mann! Du fragst, wo Jan ist? Er steht gerade nicht hinterm Tresen, stimmt. Er ist in der Küche und kocht!" Zufrieden grinste meine Tochter, sichtlich erfreut, dass Mama doch nicht so doof ist, wie sie aussieht und ihre wunderbar klare Geste doch noch erkannt hatte.
Nachdem meine motorisch fitte Tochter das erste eigene Zeichen regelmäßig gebärdete, erweiterte ich meine Gebärden Stück für Stück. Zu "Milch" kamen zunächst noch "essen", "müde", "schlafen", "Windeln wechseln" hinzu. Sehr selten zeigte ich auch andere Gebärden, meist, um für mich selbst zu üben. Beim Windeln wechseln guckte meine Tochter interessiert auf die Schlafzimmerlampe. Ich gebärdete und sprach "Lampe! Die Lampe ist an." und wickelte sie dann zuende. Eine Woche später fuhr ich mit ihr durch ein Einkaufszentrum. Ein sehr hell erleuchtetes Einkaufszentrum. Nach einigem interessierten Gucken hielt meine Tochter die Hand nach oben und öffnete die Finger - sie gebärdete "Lampe"! Ich war ziemlich verblüfft, denn dieses Zeichen hatte ich ihr nur einmal gezeigt. Ich hätte gedacht, dass ein für ihr Überleben relevanteres Zeichen als nächstes von ihr kommt - aber nein, "Lampe" war ihr wohl wichtiger. An diesem Nachmittag hatten wir beide noch unheimlich viel Spaß. Meine Tochter machte mich wirklich auf jede Lampe in der Berlin aufmerksam. Ich konnte richtiggehend sehen, wie viel Vergnügen es ihr bereitete, sich mir mitzuteilen und ich war erstaunt, mit wie viel Blick zum Detail ein zehn Monate altes Kind durch die Welt geht. Mir wären all die Lampen gar nicht mehr aufgefallen.
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"Licht" Quelle: Zwergensprache GmbH |
Nach der "Lampen"-Gebärde gab es für mich kein Halten mehr. Ich gebärdete wirklich wild drauf los. Jeder Gegenstand, den ich als Gebärde kannte, wurde nun in Gegenwart meiner Kinder benannt: "Blume", "Schlüssel", "Fenster", "Tür auf - Tür zu", "Mann"; Frau", "Mädchen", "Junge", "Ball", "Bär"..... es nahm gar kein Ende und ich entwickelte richtig Spaß daran, neue Gebärden zu lernen und zu finden. Die meisten lernte ich durch zwei Apps, die ich mir eigens dafür heruntergeladen hatte: Spread the Sign und DGS, wobei letztere ziemlich teuer war. Die Apps haben aber den Vorteil, dass man sie immer im telefon dabei hat und bei Bedarf schnell nachschlagen kann. Manchmal suchte ich auch im Internet nach bestimmten Gebärden, oft würde ich dabei bei Birgit Butz von "Sprechende Hände" fündig. Einmal sprach ich sogar auf der Straße ein gehörloses Paar an und fragte (in Gebärden!) nach der Geste für das Sandmännchen, weil meine Kinder sich - kurioserweise ohne ihn aus dem Fernsehen zu kennen - in eine Sandmännchen-Puppe verliebt hatten.
Beim Einführen neuer Gebärden war es mir weiterhin wichtig, dass dies im Kontext geschah. Niemals setzte ich meine Kinder irgendwo hin und hielt dann Gegenstände oder Bilder hoch, um zu "üben". Alles passierte einfach im Alltag. Wenn wir irgendwo entlang liefen und ich eine Blume sah, hielt ich kurz an, nahm die Blume in die Hand, zeigte sie meinen Töchter und sagte/gebärdete: "Oh, so eine schöne Blume. Sie ist ganz rosa und riecht gut!"
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"Blume"
Quelle: Zwergensprache GmbH |
Meine sprachliche fitte Tochter machte derweil übrigens überhaupt keine Anstalten, zu gebärden. Ich hatte sogar das Gefühl, sie guckt überhaupt nicht hin, wenn ich gebärdete. Sie fing zwar mit 9 Monaten an, zu sprechen - ihr erstes Wort war Kaaaka für "Kater" - zeigte aber keinerlei Affinität, ihre Hände zum Mitteilen zu benutzen. Auch gut, dachte ich, dann braucht sie es eben nicht. Mit 12 Monaten jedoch zeigte sie mir plötzlich überraschend, dass sie alle Gebärden, die ihre Schwester schon lange zeigte, ebenso beherrschte! Sie hatte sie nur, warum auch immer, nicht zeigen wollen. Ab da gebärdete und sprach sie gleichzeitig, während ihre Schwester weiterhin nur gebärdete und selten ihren Mund benutzte. Ich muss ehrlich sagen - hätte nicht meine motorisch fitte Tochter so früh mit dem Gebärden begonnen, hätte ich es sicherlich aufgegeben. Ich habe mit 8 Monaten angefangen und erst vier Monate später kamen die ersten Gebärden meiner zweiten Tochter zurück - ich denke, ich hätte da schon nicht mehr daran geglaubt, dass doch noch etwas kommt. Ich hatte also Glück, ein gebärdenbegeistertes Kind zu haben, sonst hätte ich das ganze Konzept der "Babygebärden" sicherlich als unnötig und klappt sowieso nicht abgestempelt.
So aber tauchten wir gemeinsam ab in eine wunderbare Welt des gegenseitigen Verstehens. Es war wirklich spannend für mich zu beobachten, was in den Köpfen von so kleinen Kindern schon vor sich geht. Dass eine meiner Töchter mit 11 Monaten einmal zwei Stunden nach einem Sportkurs erzählte, Monique hätte "Krokodil schwimmt im Nil" gesungen, hatte im Artikel über den 46-Wochen-Schub schon einmal erwähnt. Ich war wirklich unglaublich verblüfft, in welchen Zeitdimensionen sich ein Kind unter einem Jahr erinnern kann. Einen Monat später gingen wir an einem Volleyballfeld, das auf unserem Nachhauseweg liegt, vorbei und ein paar Jungs spielten Ball. Nach diesem Tage fing es für drei Wochen fürchterlich an zu regnen, so dass dort niemand mehr Volleyball spielte. Trotzdem gebärdeten meine Töchter jeden Tag, an dem wir dort entlang liefen: "Junge Ball!" und ich antwortete: "Ja, dort haben die Jungs Ball gespielt." Zwei Wochen lang war dieser Dialog für meine Kinder interessant und ihnen wichtig, mir mitzuteilen, was sie dort gesehen hatten. Das ist doch nicht zu fassen, oder?
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"Horch!"
Quelle: Zwergensprache GmbH |
Mit ca. 14 Monaten hatten wir einen richtigen Gebärdenhöhepunkt mit etwa 100 aktiv gezeigten Gebärden (wobei einige sehr verschwommen gezeigt wurden und nur von uns, nicht von Fremden, erkannt wurden). Zu diesem Zeitpunkt mit ihnen durch die Stadt zu fahren, sah in etwa so aus: Meine Kinder saßen im Doppelkinderwagen und schauten sich die Welt an. Dabei hielten ihre Finger und Arme nie still. Sie gebärdeten: "Da, Flugzeug! Da, Blume. Da, Mann und Hund! Angst Hund! Mann Hut. Mann Tür. Schlüssel, schließen. Hund weg. Wo? Katze Fenster. Katze schläft. Da, Mädchen. Mädchen Fahrrad. Mädchen rot. Weg. Wo? Da, Schmetterling! Horch - Tatütata....."
Manchmal führten sie regelrechte Gespräche miteinander. Am Frühstückstisch gebärdete eine Tochter "Avocado alle alle." und die andere antwortete altklug "Mama einkaufen!". Da waren sie knapp 13 Monate alt.
Wie führen wir "abstrakte" Gebärden ein?
Bei Gebärden für klassische Gegenstände wie "Nuckel", "Ball", "Puppe" ist es nicht schwer, sich vorzustellen, wie man diese dem Kind näher bringt. "Heiß" und "kalt" mag auch noch gehen, aber wie sieht es bei abstrakteren Begriffen aus? Wie ist es mit "gefährlich", "Angst" und "erschreckt"? Ganz einfach: Man macht es wie beim normalen Sprechen auch: Wenn ein Hund vorbei kam, habe ich gesagt: "Guck mal, da ist ein großer Hund!" und Hund habe ich gleichzeitig gebärdet. Meist haben sich meine Kinder hinter meinen Beinen versteckt, also bin ich in die Hocke gegangen und habe gesagt: "Du hast Angst! Angst. Du sagst: Weg, Hund, weg!" Ich wollte, dass sie das seltsame Gefühl in ihrem Bauch gleich mit einem Wort verbinden, weil ich es wichtig finde, dass Kinder ihre Gefühle verbalisieren können. Am Anfang muss man ihnen natürlich beibringen, wie sich Angst anfühlt. Bald schon übertrugen sie die Gebärde "Angst" auf andere Situationen. In einem Spielcafé lag einmal ein roter Schneeanzug auf einem Stuhl und eine meiner Töchter weigerte sich strikt, dort hinzulaufen. Ich fragte sie, warum sie nicht weiterläuft, da gebärdete sie: "Angst. Da was?" Ich hob den Schneeanzug auf und sagte und gebärdete: "Es ist nur ein Schneeanzug." Da nickte sie erleichtert und ging weiter. Ich weiß bis heute nicht, was sie dachte, was es ist, aber immerhin konnte sie mir ihr Problem mit dem "Ding" mitteilen. Da war sie 14 Monate alt.
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"kaputt"
Quelle: zwergensprache GmbH |
"Kalt" war eine Rutsche im Winter, die meine Töchter anfassten. Im Sommer würde ich einfach "Eis" als "kalt" deklarieren. Auch Sachen aus dem Kühlschrank sind kalt. Man findet eigentlich immer genügend Beispiele, auch für "heiß". "Heiß" ist meiner Meinung nach eine wunderbar eindrückliche Gebärde, die ich oft nutzte, wenn sie dem Herd zu nahe kamen oder meine Teetasse anfassen wollten. Auch Heizungsrohre - sehr gefährliche Verletzungsherde übrigens - wurden mit der Gebärde "heiß" belegt. Wenn sie hingefallen sind und geweint haben, habe ich gesagt: "Du hast dich erschreckt! Erschreckt! Du bist hingefallen." und habe sie dann getröstet. Immer wenn ein anderes Kind geweit habe, habe ich gesagt und gebärdet: "Das Baby weint. Es ist traurig."
Schwieriger war es bei der Gebärde "gefährlich". Ich habe sie zunächst im Straßenverkehr eingesetzt und habe, wenn wir an einer Straße ankamen gebärdet: "Die Straße ist gefährlich! Allein rübergehen ist verboten. Du darfst nur an Mamas Hand rübergehen." Nach und nach schlich es sich aber ein, dass ich die "gefährlich"-Gebärde immer stärker ersetzte mit "verboten". Mir war einfach wichtig, dass sie verstehen, dass sie an bestimmte Dinge nicht herandürfen wie Steckdosen, Straßen und Herd zum Beispiel, deshalb reduzierte ich an dieser Stelle auf das Wesentliche.
Für die Bezeichnung von Mama, Papa, Oma, Opa etc. gibt es natürlich ganz normale Gebärden und die Einführung dürfte nicht schwer fallen. Ich selbst fand jedoch, dass mein "Mama" für meine Kinder etwas anderes sein sollte, als der Begriff "Mama" für die Mutter eines anderen Kindes. Deshalb habe ich, wie es bei gehörlosen Menschen üblich ist, mir eigene Namensgebärden ausgedacht, die eine Eigenschaft der betreffenden Person aufzeigte. Ich selbst habe rote Haare, deshalb legte ich, wenn ich "Mama" sagte, meinen Zeigefinger zuerst auf die Lippen ("rot") und dann auf die Haare. Die Oma meiner Kinder hat die allertollste weiche Oma-Haut dieser Welt, deshalb bekam sie als Namensgebärde die Geste für "Samt". Meine Kinder haben - sehr richtig übrigens - ihr noch eine zweite Gebärde gegeben: die für "Essen". Immer, wenn wir dort sind, kocht die Oma für uns nämlich sehr leckere Gerichte, etwas, was meine Kinder wohl positiv beeindruckt hat. Der Onkel hat einen Vollbart, daher bekam er die Gebärde "Vollbart". Oft gebärdeten meine Kinder noch "Buch" nach dem "Vollbart" und ja, der Onkel liest sehr gerne vor. Der Opa hat einen Dreitagebart, daher gebärdeten wir, wenn wir "Opa" aussprachen, "kratzig" dazu. Die nette Monique, die unseren Turnkurs leitet, bekam die Geste als Gebärde, die sie immer, aber auch wirklich immer, am Anfang jedes Kurses mit den Händen macht (sie singt "Wozu sind die Hände da" und dreht dabei die Hände). Diese Gebärde war auch tatsächlich eine der ersten, die meine Kinder zeigten. Ganz offensichtlich ist ihnen Monique wichtig genug gewesen, um sie in den Wortschatz aufzunehmen.
Helfen Gebärden, Trotzanfälle zu verringern?
Bei uns zumindest schon. Wir sind im Alter von 12-18 Monaten eigentlich nie in den Genuss dieser ersten kleinen Wutanfälle aufgrund von Sprachbarrieren gekommen. In den allermeisten Fällen, könnten wir das Problem gleich gestisch lösen.
Da lief z.B. eine unserer Töchter mit 13 Monaten in eine völlig andere Richtung als wir und ich frage sie: "Wo willst du denn nur hin?" - "Brot einkaufen!" gebärdete sie zurück und ich verstand endlich, warum sie partout nicht in unsere Richtung wollte. Denn der Weg, den sie eingeschlagen hatte, führte tatsächlich zum Bäcker.
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"Willst du einen Keks?"
Quelle: Zwergensprache GmbH |
Das einzige Mal, als wirklich ein Sprachproblem vorlag, war, als eine meiner Töchter "Keks" gebärdete und dann einen riesigen Trotzanfall erlitt, als ich ihr tatsächlich einen Keks geben wollte. Sie hatte nämlich zwar "Keks" gebärdet, wollte aber eigentlich die gerade eingekaufte Banane! Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schnell ich danach sämtliche Gebärden für verschiedenes Essen und Trinken eingeführt habe!
Auch sprachliche Missverständnisse konnten wir mithilfe der Gebärden schnell auflösen. Eines meiner Kinder und ich gucken uns ein Bilderbuch an. Ich fragte (ohne Gebärde, da ich das Buch in der Hand hielt): "Kannst du mir das Boot zeigen?" Meine Tochter guckte aufs Buch, runzelte die Stirn und fragte mit Gebärde nach: 'Brot???' Ich musste erst einmal herzhaft auflachen, schüttelte dann den Kopf und gebärdete "Boot". Schon konnte sie mir das gewünschte Bild zeigen. Auch, als wir einmal spazieren gingen, kam es zu einem Mißverständnis. Meine zweite Tochter hat (bis heute) einen totalen Schuhtick und als wir an einer Schule vorbeigingen erklärte ich ihr: "Das ist eine Schule. Viele Kinder lernen hier." Verdutzt drehte sich mein Kind vom Buggy aus nach mir um und gebärdete: "Schuhe"? - "Nein, Püppchen, Schule."
Haben Gebärden einen positiven oder negativen Einfluss auf das Lautsprachelernen?
Oft wird von skeptischen Großeltern gefragt, ob die Gebärden auf das Lautsprachelernen negativen Einfluss haben, also ob die Kinder deshalb nicht vielleicht später mit dem Sprechen beginnen, da sie sich ja verständigen können. Bei uns war das nicht so. Meine verbal fitte Tochter hat die Gebärden zwar benutzt, fing aber schon mit 13 Monaten an, die unglaublichsten Wörter auszusprechen. Sie sammelte richtiggehend Wörter, am liebsten dreisilbige. Meine motorisch fitte Tochter hat die Gebärden dagegen richtig gebraucht - es fiel ihr viel schwerer, mit dem Mund Sachen nachzusprechen. Aber auch diese Tochter hat mit 18 Monaten ganz normal angefangen zu sprechen und zwar gleich mit 2 Wort Sätzen, da sie das mit den Gebärden ja auch schon getan hatte. Ihre Aussprache war altersgemäß verwaschen. Sie sagte bei der U7 Sätze wie "Güne Wosch weg!" ("Der grüne Frosch ist weg.") und hatte insgesamt einen Sprachwortschatz von ca. 250 Wörtern inklusive Drei-Wort-Sätzen.
Dazu muss jedoch gesagt werden, dass sie mit 22 Monaten nur einen Wortschatz von 20 Wörtern, mit 23 Monaten von 50 Wörtern hatte und die 200 zusätzlichen Vokabeln innerhalb der letzten vier Wochen vor ihrem zweiten Geburtstag dazu kamen. Manche ihrer Wörter waren auch Eigenkreationen - wie "Bui" für Rutschen, "Aate" für Schaukeln oder das allseits bekannte "Mnjamnjam" für Essen. Unsere Kinderärztin aber sagte, dass diese Ersatzwörter dazu gezählt werden, wenn sie immer für den gleichen Gegenstand benutzt werden. Meine sprachlich fitte Tochter hatte laut Ärztin bei der U7 ein Sprachvermögen einer 3,5 Jährigen. Ihren Wortschatz konnten wir nicht mehr zählen und sie sprach sehr lange, verschachtelte Sätze in perfekter Aussprache.
Mit 23 Monaten sagte sie zum Beispiel nach dem Martins-Umzug: "Den Mann und den Pferdchen haben wir hinter uns gelassen!" und beim Zähneputzen philosophierte sie mit 24 Monaten: "Man muss nämlich immer die Zahnmännlein wegputzen. Die heißen Bakterien." Sie hätte die Gebärden ganz sicher nicht gebraucht - aber geschadet haben sie ihr auch nicht. Für meine andere Tochter dagegen waren die Gebärden ein Segen und für mich als ihre Mama auch. Sonst hätte ich so viele kluge, manchmal aberwitzige Gedanken verpasst, die sie verbal noch nicht äußern konnte, aber die schon so lange in ihr drin steckten. Ich hätte ein ganz anderes Bild von meiner Tochter gehabt, da bin ich ganz sicher. Ich hätte viel von ihrem Potential nicht erkannt, hätte sie vielleicht sogar für weniger schlau als ihre Schwester gehalten.
Die Gebärden verschwanden übrigens so nach und nach. Jedes Wort, welches sie in der Lautsprache lernten wurde als Gebärde fast sofort abgelegt. Lediglich "Angst" und "kalt" wurden noch eine Weile gleichzeitig gesprochen und gebärdet und manchmal, wenn sie den Mund voll mit Brötchen haben und deshalb nicht artikulieren können, gebärden sie noch heute "trinken" als Aufforderung an mich. Auch das energische "Milch!" wurde noch bis ich abstillte in der Nacht gebärdet, dann aber abgelegt.
Ein wenig wehmütig macht mich das Verschwinden der Gebärden durchaus. Es war eine tolle, viel zu kurze Zeit, die mich meinen Kindern näher gebracht hat, als ich gedacht hätte und die mir einen Zugang zum Reichtum ihrer Gedanken verschaffte. Beim nächsten Kind gebärde ich auf jeden Fall wieder, vielleicht besuche ich dann sogar einen Baby-Gebärden-Kurs. Ich freue mich schon drauf.
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"schlafen"
Quelle: Zwergensprache GmbH |
© Snowqueen
Literatur
Acrelodo, L., Goodwyn, S. Babysign. How to talk to your baby before your baby can talk
Clibbens, J., Powell, G.G. & Atkinson, E. (2002). Strategies for achieving joint attention when signing to children with Down’s syndrome. International Journal of Language and
Communication Disorders, 37(3), 309–323
Johnston JC, Durieux-Smith A: Teaching gestural signs to infants to advance child development: A review of the evidence. First Language, Vol. 25, No. 2, 235-251 (2005) online
Kiegelmann, M. : Baby Signing – Eine Einschätzung aus entwicklungspsychologischer Perspektive. 82 (2009), 262-272, online