Erstausstattung für Babys - was braucht man wirklich?


Unser Kinderwunsch ist abgeschlossen und ich beginne allmählich, unsere Babysachen zu verkaufen. Nach zwei Kindern ist mein Resümee in Bezug auf die Babyausstattung recht eindeutig: Wir hatten viel zu viel unnützes Zeug. Das Geld wäre anders wesentlich sinnvoller investiert gewesen. Viele Dinge wurden überhaupt nicht gebraucht, einige musste ich dann in Hau-Ruck-Aktionen beschaffen, weil ich gar nicht daran gedacht hatte, sie im Hause zu haben.

Ich möchte in diesem Artikel meine Erfahrungen zusammenfassen und eine Liste mit Dingen erstellen, die unentbehrlich sind - aber auch mit solchen, die wirklich nett zu haben sind. Das ist nicht ganz so einfach, weil die Bedürfnisse in jeder Familie doch sehr unterschiedlich sind. Daher will ich zu den einzelnen Dingen gerne etwas ausführlicher schreiben, damit jeder selbst entscheiden kann, ob er das Produkt anschaffen möchte oder nicht. 

Erstausstattung - weniger ist mehr 


Ich kann mich noch gut erinnern, wie aufregend es vor der Geburt unseres ersten Babys war. Die letzten Wochen der Schwangerschaft zogen sich zäh dahin und die Vorfreude wuchs und wuchs. Der Nestbautrieb sorgte dafür, dass man ständig das Bedürfnis hatte, alles optimal vorzubereiten. Der Mutterschutz wurde genutzt, um noch dieses und jenes zu kaufen und als das Baby kam, war das Kinderzimmer liebevoll eingerichtet, die Sachen im Schrank sortiert, die Windeln im Regal geordnet und der Heizstrahler montiert. Es macht großen Spaß, die Erstausstattung zusammenzusuchen, leider gerät man nur allzu schnell in einen Beschaffungsrausch.

Als das Baby dann da war, wurde es plötzlich hektisch. Der Papa musste los und Strampler in Gr. 50 besorgen - in Gr. 56 ertrank das Kind. Eine Milchpumpe musste her und für mein Schreikind brauchte ich Pucksack und Gymnastikball. Im liebevoll eingerichteten Zimmer hielten wir uns - außer beim Wickeln - das erste Jahr eigentlich überhaupt nicht auf. 

Mein wichtigster Tipp daher vorab: Warte gelassen ab - man kann jede Menge Geld sparen, wenn man nach Bedarf kauft. 

Es gibt nur sehr, sehr wenige Dinge, die ein Kind wirklich benötigt, alles andere kann man immer noch kaufen, wenn es gebraucht wird. Heute kann man sich wirklich alles von heute auf morgen liefern lassen, wenn man etwas plötzlich dann doch und unvorhergesehen benötigt. Mit Baby zu Hause würde ich definitiv Amazon-Prime-Kunde werden, da alles kurzfristig geliefert wird. Außerdem kann man den Papa ja auch immer noch mal los schicken, um etwas zu besorgen.
Wenn Euch jemand vor der Geburt fragt, was ihr gerne geschenkt bekommen möchtet, dann sollte die Antwort immer lauten: einen Gutschein! Sei es für Amazon, Rossmann oder Babymarkt.de - ihr werdet den garantiert gebrauchen können. Man kann das auch ruhig etwas offensiver kommunizieren - sonst bekommt ihr am Ende fünf Schmusetücher oder drei Schnullerketten und vier Spieluhren. 

Ein Baby braucht kein komplett eingerichtetes Kinderzimmer - wahrscheinlich wird es außer zum Wickeln und ggf. zum Schlafen dort in den ersten Jahren ohnehin sehr wenig Zeit verbringen. Daher ist es im Grunde nicht wichtig, das Zimmer komplett einzurichten. Viel schöner ist es ohnehin, wenn das Kind schon alt genug ist, seine eigenen Wünsche und Vorstellungen zu äußern.

Was aber braucht man auf jeden Fall? 

Erstausstattung Kleidung 


Jedes Baby braucht Kleidung - daher kann man durchaus beherzt zugreifen. Man wird auch einiges geschenkt bekommen - die Leute lieben es einfach, Babybekleidung zu kaufen, weil sie soooo süß ist! Bei Gelegenheit solltet ihr unterbringen, dass Kleidung ab Größe 86 vieeeeeel sinnvoller ist, als der zwölfte Minibabystrampler - schließlich kann das Kind die Kleidung viel länger als nur einen Monat tragen. Lange Shirts und bequeme Hosen kann man zu jeder Jahreszeit gut gebrauchen.
Es lohnt sich, während der Schwangerschaft die Augen offen zu halten. Jetzt hat man schließlich noch Zeit und Muße, ausgiebig shoppen zu gehen. Da lässt sich der eine oder andere Euro sparen. Aber muss es immer neue Kleidung sein? 

Neu oder gebraucht? 


Es gibt mehrere Gründe, warum gebrauchte Kleidung wesentlich sinnvoller ist, als neue. Zunächst einmal kann man sie sehr, sehr günstig kaufen. Da Babys in den ersten Monaten rasant wachsen, schaffen sie es nicht mal ansatzweise, etwas wirklich abzutragen. Da die meisten gerne neue Sachen für ihr Baby kaufen, gibt es einen gigantischen Gebrauchtsachenmarkt mit sehr niedrigen Preisen in meist ausgezeichneter Qualität.

Es lohnt sich wirklich, auf Babyflohmärkte zu gehen - Ihr werdet staunen, was für schöne Sachen es dort für wirklich kleines Geld gibt. Eine Kleidungs-Erstausstattung für die ersten Monate kann man dort für unter 50 EUR erwerben. Im Internet kann man sich bei Second-Hand-Plattformen umsehen. Dort kann man recht günstige Pakete kaufen, auch wenn immer ein gewisses Restrisiko besteht, da man die Sachen vorher nicht sieht.

Der größte Vorteil an gebrauchten Sachen ist, dass etwaige Schadstoffe (und davon sind ja leider fast alle Hersteller betroffen) schon durch mehrere Wäschen ausgewaschen sind. So hat man relativ unbelastete Kleidung - gerade für die ganz Kleinen ist das ja nicht ganz unerheblich. Hinzu kommt auch der soziale Aspekt - auch Kinderkleidung wird vielfach in Fernost unter unwürdigen Bedingungen produziert. Gebrauchte Kleidung zu erwerben ist nachhaltiger und man bekommt fair produzierte Sachen für wenig Geld. 

Welche Kleidungsstücke braucht man und wie viele davon? 


Um diese Frage zu beantworten, kommt es auf ein paar verschiedene Umstände an, daher möchte ich etwas ausführlicher auf das Thema eingehen. 
 
Babys können ihre Körperwärme zunächst nur schlecht halten, daher ist es wichtig, dass sie warm angezogen sind. Natürlich nicht zu warm, sonst droht eine Überhitzung. Als Unterwäsche werden Bodys genutzt, diese gibt es in den Varianten mit langen Ärmeln, mit kurzen Ärmeln und ohne Ärmel. Ich finde für Neugeborene Langarmbodys am besten - im Winter sind sie schön warm, im Sommer schützen sie ideal vor Sonne, wenn sie als einzige Oberbekleidung getragen werden.

Für Neugeborene sind meiner Meinung nach Wickelbodys ideal. Diese müssen nicht über den Kopf gezogen werden - was viele Kinder auch überhaupt nicht mögen. Es gibt sehr schöne von H&M - aber auch diese sind empfehlenswert und sehen einfach süß aus. Allerdings ist es schon ein ziemliches Gefummel, bis man alle Knöpfe zu hat, so dass man vermutlich recht bald auf normale Bodys umsteigen wird.
Die Oberbekleidung ist vom Geschmack abhängig - manche bevorzugen Strampler, andere Hose und Shirt. Bei Hosen ist ein elastischer Bund sehr wichtig, damit nichts drückt. Sehr praktisch ist es, wenn die Hosen Füße haben - diese waren sehr süß und sehr bequem. Gerade am Anfang, wo man als Erstmutter noch etwas Berührungsängste hat, eignen sich auch Shirts zum Wickeln sehr gut.
 
Hier eine kurze Übersicht wann die Kleidergrößen durchschnittlich passen - da wird recht schnell klar, dass es sich nicht lohnt, zu viele Teile vorrätig zu haben:
 
Gr. 50 0-1 Monate
Gr. 56 1-2 Monate
Gr. 62 2-4 Monate
Gr. 68 4-6 Monate
Gr. 74 6-9 Monate
Gr. 80 9-12 Monate.

 
Im ersten Lebensjahr wächst das Baby also durch sechs oder mehr (!) Kleidergrößen. Und es ist in der Regel nicht so, dass sie eine Größe dabei auslassen. Zwischen den Größen liegen immer 6 cm - da ist eine Hose oder ein Ärmel schnell zu kurz. 
 
Leider kann man auch nicht vorhersagen, ob das Kind ein Spuckbaby wird - denn dann ist der Kleidungsbedarf stark erhöht (oder aber die Waschfrequenz). Wenn Dein Baby die Milch jedoch meist im Magen lässt, dann braucht man im Grunde nicht viel Kleidung, da sich das Kind kaum schmutzig machen kann, da es ja doch ausschließlich im sauberen Bett, im Tragetuch oder auf Mamas oder Papas Arm liegt. Daher kann es im Grunde sogar zwei bis drei Tage lang die selbe Kleidung tragen.

Was also braucht man ungefähr an Kleidung im Schrank, wenn man sich eher minimalistisch ausstatten will und etwa einmal die Woche die Babykleidung wäscht?
  • 4 - 6 Wickelbodys in den Größen 56 und 62
  • 4 - 7 Strampler oder 5 Hosen/Strumpfhosen und etwa 4 - 7 Oberteile
  • 3 Schlafanzüge (am besten einteilig mit Knöpfen im Schritt)
  • 3 - 5 Paar Erstlingssocken
  • je nach Jahreszeit:
  • eine Jacken/ein Overall (je nach Jahreszeit)
  • eine warme Mütze für Draußen
  • ggf. eine dünne Mütze für Drinnen
  • ggf. Handschuhe.

Kleiner Tipp für Socken, die nicht an den Füßen bleiben sollen: Sock-Ons Sockenhalter. Je nach Temperaturfühligkeit des Babys entfallen Socken, wenn man Strampler bevorzugt - die meisten mögen aber durchaus auch darunter ein Paar.

Zwei Jacken sind in der Regel völlig ausreichend. Sie werden selten schmutzig, so dass eine Wechseljacke reicht. Sie passen ohnehin nur wenige Monate, so dass man selten in Jahreszeitenübergänge kommt. Da würde ich auch nicht auf Vorrat kaufen, da Babys sehr unterschiedlich wachsen. Manche tragen mit einem Jahr noch Größe 74, andere sind da schon bei Größe 92. Jacken sollte man wirklich immer erst dann kaufen, wenn ein Wechsel der Größe ansteht (oder das Wetter extrem umschlägt). 

Transport des Kindes 


Kinder kann man tragen oder im Kinderwagen durch die Gegend schieben. Grundsätzlich ist ein Leben ohne Kinderwagen möglich, aber die meisten Eltern entscheiden sich für ein solches Gefährt. Beim Kauf spielen persönlicher Geschmack, der Geldbeutel und die Ansprüche eine Rolle - wichtig ist, dass die Liegefläche nicht zu klein ist. Bewährt haben sich Kombikinderwagen - ich persönlich habe einen Hartan Racer S gehabt und kann den nur wärmstens empfehlen - eine wirklich tolle Qualität Made in Germany. 

Der Kinderwagen ist allerdings der kostenintensivste Faktor bei der Erstausstattung - wenn man muss oder möchte, lässt sich durch einen gebrauchten Wagen einiges sparen. Auch Kinderwagen sind mit Schadstoffen belastet, so dass ein gebrauchter für das Kind gesünder ist.

Für den Kinderwagen benötigt man - vor allem im Winter - meist noch zusätzlich einen Kinderwagensack oder ein spezielles Kinderwagenkissen. Es kann sinnvoll sein, in die Liegewanne ein entsprechend zugeschnittenes Stück Isomatte zu legen - so kühlt das Kind nicht so schnell aus.

Für absolut unverzichtbar halte ich eine geeignete Tragehilfe bzw. ein Tragetuch. Babys haben in den ersten Wochen und Monaten das Bedürfnis, ständig nah bei Mama und Papa zu sein, so dass man sich das Leben sehr viel leichter macht, wenn man dieses Bedürfnis so oft wie möglich erfüllt. Sinnvoll ist es in jedem Falle, vor der Geburt eine Trageberatung zu machen, um verschiedene Tragen und Bindeweisen für Tragetücher kennenzulernen, so dass man sich auf diesem Gebiet nach der Geburt halbwegs sicher fühlt.

Für das Tragen braucht man eine geeignete Jacke - ideal ist, wenn man die Umstandsjacke weiter tragen kann. Wenn man in der Schwangerschaft seine Umstandsjacke kauft, sind üblicherweise die Modelle aus der vorherigen Jahreszeit im Sale - man kann im Winter also günstig Sommerjacken kaufen und umgekehrt. Alternativ kann man eine spezielle Tragejacke, eine Jackenerweiterung (Kumja) oder ein Tragecover nutzen. Babys Beinchen bleiben mit speziellen Tragestiefeln (z. B. von Saling) schön warm.

Wenn man ein Auto hat, ist eine Babyschale notwendig. Ich habe mich übrigens ewig geärgert, dass ich keine mit Isofix-Station genommen habe - das ist so viel praktischer und sicher! Diese Gurtfummelei macht einen wirklich wahnsinnig. Wir hatten sowohl einen Maxi Cosi Cabriofix also auch einen Römer Babysafe - beide Marken schneiden bei Tests regelmäßig sehr gut ab. Für die Schale empfiehlt sich eine Einschlagdecke - die kann man recht teuer kaufen (z. B. von Hoppediz oder Kaiser) oder einfach selber basteln - eine günstige Fleecedecke und ein paar Schlitze an den richtigen Stellen tut es auch. 

Erstausstattung fürs Stillen 


Wer sein Baby stillen will, braucht dazu nicht wirklich viel. In den ersten Wochen sind auf jeden Fall Stilleinlagen empfehlenswert. Anfangs produziert die Brust nach dem Überflussprinzip, so dass es bei den meisten Frauen kräftig fließt und tröpfelt. Man kann zu Einmal-Einlagen greifen (empfehlenswert sind die von Lanisoh oder NUK) oder waschbare kaufen - diese haben üblicherweise eine Seite aus Wolle und eine Seite aus Seide (hier kann ich die von ImseVimse empfehlen). 

Wenn man weiß, dass man gelegentlich Milch abpumpen will, der kann schon eine Milchpumpe kaufen. Hier gilt: elektrische sind grundsätzlich effektiver, aber auch deutlich teurer. Ganz ohne Bedenken kann man zu den Modellen von Medela (elektrisch oder manuell) oder Avent (elektrisch oder manuell) greifen.

Die abgepumpte Milch kann entweder mit Fläschchen gefüttert werden (ich habe mir dafür das Starterset von Avent gekauft) oder wegen der Gefahr einer Saugverwirrung mit einem speziellen Fütterbecher.

Für die allermeisten Mütter ist ein Stillkissen unverzichtbar. Schon in der Schwangerschaft kann es als Seitenschläferkissen genutzt werden. Am wichtigsten ist die Füllung - preiswerte Kissen sind leider häufig mit minderwertigen Materialien gefüllt, auf denen das Baby hin und her rutscht und die recht bald zum Ausleiern führen. Ich empfehle daher, an dieser Stelle nicht unbedingt zu sparen, sondern ein hochwertiges Modell zu kaufen. Am häufigsten empfohlen werden Stillkissen von Theraline, Boppy und Flexofill.

Beim Stillen auch wichtig: Ein guter Still-BH. Die einfachen und günstigen von Rossmann und DM sind dabei vollkommen ausreichend. Wer es etwas schicker mag, der wird sicher bei Anita fündig. Benötigt werden etwa 3 bis 5 BHs. Leider weiß man nicht genau, wie groß die Brüste sein werden - außerdem müssen ggf. noch Einlagen rein. Es kann gut sein, dass die Brüste so groß sein werden, wie zum Ende der Schwangerschaft, es kann sein, dass die Brüste noch zwei Nummern größer sein werden. Wenn der Milcheinschuss kommt, erreichen sie definitiv die Maximalgröße - das gibt sich nach kurzer Zeit auch wieder. Daher empfehle ich, kurz vor Ende der Schwangerschaft erst mal zwei günstige BHs zu kaufen - einen in der aktuellen Größe und einen eine Größe größer. 

Für wunde Brustwarzen sind die Multi-Mam-Kompressen und eine Lanolin-Brustwarzensalbe unentbehrlich - aber auch hier gilt: Muss einem ja nicht unbedingt passieren und kann immer noch kurzfristig beschafft werden (erhältlich in jeder Apotheke/Drogerie). 

Erstausstattung für die Flaschenfütterung  


Wenn man nicht stillen kann oder will, braucht man Flaschen. Die Auswahl ist riesig - letztendlich gibt es keine gravierenden Unterschiede bei den namhaften Herstellern. Es gibt verschiedene Saugerformen - die meisten Babys kommen mit allen Formen gut zurecht. Da es jedoch sein kann, dass das Baby mit der gewählten Form nicht zurecht kommen, sollte man anfangs eher nur wenige Flaschen und Sauger haben - mit etwa drei bis vier Stück kommt man recht gut hin. Wichtig ist eine Flaschenbürste (idealerweise gleich im Set mit einer Saugerbürste), nice to have ein Flaschenständer auf dem die gewaschenen Flaschen gut trocknen können.

Bezüglich des Materials unterscheidet man Latex und Silikon. Silikon ist durchsichtig und glatter. Es ist jedoch auch empfindlicher und kann von kleinen Zähnchen (zumindest theoretisch) durchgebissen werden. Das ist bei Latex nicht möglich. Dieses wird jedoch mit der Zeit unansehnlicher und beginnt leicht klebrig zu werden - daher bevorzuge ich persönlich Silikon.

Bei der Form unterscheidet man symmetrische und asymmetrische Sauger. Auch hier sind Babys sehr selten wählerisch. Wichtig ist die Saugergröße - es gibt Tee-Sauger (sehr kleines Loch, damit der Tee oder das Wasser nicht so schnell fließen), Milch-Sauger und Breisauger. Letztere sind vollkommen unnötig - Brei gehört immer auf den Löffel, niemals in eine Flasche. Die Flaschen und Sauger sollten BPA-frei sein.

Ein absolutes Must-have für die Flaschenfütterung ist der Cool Twister von NIP. Dieser kühlt kochendes Wasser in wenigen Sekunden auf Trinktemperatur ab. Es gibt nichts nervigeres, als mit einem vor Hunger kreischenden Baby auf dem Arm hektisch eine Flasche unter kaltes Wasser zu halten.

Einen Flaschenwärmer braucht man nicht - man sollte ihn nicht mal verwenden. Milchpulver ist zwar keimarm, aber nicht steril - es enthält fast immer einige Keime in geringen Mengen. Wird die Milch zu lange warm gehalten, kann es dann zu einer Vermehrung von Keimen.

Das Sterilisieren von Silikonsaugern und -nuckeln ist nicht erforderlich. Eine gründliche Reinigung genügt vollkommen. Verwendet man ausschließlich Silikon, ist ein Sterilisiergerät nicht notwendig. Etwas anderes gilt für Produkte aus Latex - da diese im Laufe der Zeit eine poröse Oberfläche bekommen, sollten sie gelegentlich sterilisiert und grundsätzlich schneller ausgetauscht werden. Wenn man sich ein Sterilisiergerät zulegen möchte, dann ist für den schmalen Geldbeutel ein Mikrowellen-Dampf-Sterilisator (ca. 9 EUR z. B. von reer) geeignet. Wer lieber Luxus haben möchte, greift zu dem Gerät von Avent (ca. 70 EUR). Ein wirtschaftlich sinnvoller Mittelweg ist der Sterilisator von H+H (ca. 25 EUR).

Für die Flaschenfütterung braucht man ausreichend Milchpulver - bei der Entscheidung, welche Milchnahrung man füttern will, hilft dieser Artikel zur besten Anfangsnahrung weiter. 

Erstausstattung Babypflege


Schnuller/Nuckel 


Schnuller sind ein zweischneidiges Schwert. Einerseits sind sie ein großartiger Brustersatz für Babys, die ein hohes Saugbedürfnis haben. Manche Babys wollen ununterbrochen saugen und das halten die wenigsten Brustwarzen aus. Da überstrapazierte Brustwarzen das Stillen gefährden können, sollte darauf geachtet werden, dass ihnen nicht zu viel zugemutet wird. 

Schnuller können bei Stillkindern jedoch zu einer Saugverwirrung führen, die das Stillen schwierig macht. Daher sollte man abwägen, ob man wirklich einen Schnuller gibt. Idealerweise wartet man etwa 6 Wochen, bis sich das Stillen richtig eingespielt hat. Oft ist das Kind jedoch so unruhig, dass man deutlich schneller zum Schnuller greift. Es gibt aber auch Babys, die Schnuller hassen - mein Sohn hat erst mit 1,5 Jahren einen akzeptiert (und gibt ihn nun nicht mehr her).

Auch bei Schnullern sind Modelle in Silikon oder Latex und mit symmetrischen oder asymmetrischen Saugern erhältlich. Stillbabys haben gelegentlich die Eigenart, dass sie ausschließlich Schnuller in Kirschform (wie z. B. von Nip) akzeptieren.  Ich persönlich finde die nachtleuchtenden Schnuller von MAM ganz toll - die muss man im Bett nicht suchen und wenn man viel Glück hat, sucht sich das Baby ihn sogar irgendwann selber. Selbstleuchtende Schnuller hat aber mittlerweile fast jeder Hersteller im Angebot. 

Allroundtalent Mullwindeln 


Mullwindeln kann man definitiv gebrauchen - nichts in vielseitiger einsetzbar. Ob als Pucktuch, als leichte Decke, als Spucktuch, als Schnuffeltuch, als Spielzeugtransportmittel - es gibt unzählige Nutzungsvarianten. Zum Glück muss man heutzutage nicht mehr einheitlich schon grau gewaschene Tücher verwenden - es gibt tolle farbenfrohe und schön gemusterte Varianten.
Ein Grundstock an etwa zehn Windeln sollte ausreichen. 

Pflegeprodukte 


Für die Babypflege kann man halbe Drogeriemärkte leer kaufen - muss man aber nicht. Was man wirklich braucht, habe ich hier zusammen gefasst:
  • zwei weiche (!) Handtücher - wenn man mag, gerne ein Badehandtuch mit Kapuze
  • ein Schwamm für die Reinigung (spezielle Kinderschwämme sind sehr angenehm)
  • Feuchttücher (alternativ Waschlappen)
  • Wundcreme für roten Po
  • Nagelschere speziell für Babys
  • weiche Haarbürste (ggf. durch mangelnde Haarpracht entbehrlich.

Was wirklich, wirklich empfehlenswert ist (man aber nicht unbedingt braucht), ist ein N
asensauger wie AngelVac oder NoseFrida habe ich zu spät entdeckt - sie wären schon in den ersten Monaten unverzichtbar gewesen. Man glaubt nicht, wie viel Schnodder in einem so kleinen Wesen stecken kann! Nasensauger werden an einen Staubsauger angeschlossen oder mit dem Mund betrieben und befreien die Schnupfnase vom lästigen Schleim. Von mir eine unbedingte Kaufempfehlung!


Irgendwann ist es so weit - Babys erstes Fieber ist da. Zwar liest man immer wieder, dass nur das gute alte analoge Fieberthermometer exakt misst, aber das ist längst überholt. Mittlerweile messen Ohrthermometer so genau, dass sie da (bei richtiger Anwendung) ohne weiteres mithalten können. Für Kinder ist es natürlich auch deutlich angenehmer, als die rektale Messung. Anfangs empfiehlt sich eine Parallelmessung, um zu schauen, ob das Thermometer exakt misst (ist etwas von der Ohrenanatomie abhängig). Sehr gut getestet wurde übrigens das Braun Thermoscan, das auch bei uns Einzug hielt und seitdem unverzichtbar ist, weil man Kinder zum Fiebermessen nicht mehr wecken oder ausziehen muss.

Apropos krank - wenn man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein will, sollte man seine Hausapotheke aufrüsten - welche Ausstattung für Kinder sinnvoll ist, darüber habe ich bereits  ausführlich geschrieben.


Was man nicht unbedingt braucht


Verzichten kann man auf das bunte Allerlei an Pflegeprodukten, das man so kaufen kann. Stillende Mütter haben das beste Pflegeprodukt immer bei sich - Muttermilch ist der perfekte Badezusatz und die ideale Hautpflege. Die meisten Babys benötigen keine Pflegeprodukte, so dass es vollkommen ausreichend ist, eine Wundcreme, ggf. eine Sonnencreme und eine Wind-und-Wetter-Creme (im Winter) vorrätig zu haben.

Überflüssig sind außerdem spezielle Babywannen oder Badethermometer - die Temperatur kann man gut mit dem Handgelenk abschätzen - wenn man nichts spürt, hat das Wasser quasi Hauttemperatur und ist damit ideal. Auch Sitzhilfen für die Badewanne sind nicht erforderlich, am schönsten für die Kinder ist es ohnehin, wenn Mama oder Papa mit baden. Ganz am Anfang reicht auch das Waschbecken. 

Erstausstattung Wickeln 


Eine Wickelkommode ist bequem, aber es geht im Notfall auch ohne. Genau genommen ist es sogar sicherer, auf dem Boden zu wickeln - jedes Jahr verletzen sich zahlreiche Babys bei Stürzen von Wickeltischen. Entscheidet man sich für einen Wickeltisch, benötigt man eine Wickelunterlage. Auf die Plastik-Auflage gehören entweder Handtücher, Einmalunterlagen (kann man auch in vier Teile schneiden - so reichen sie länger) oder Molton-/Flanelltücher.

Wer sich für Stoffwindeln interessiert, dem seien die entsprechenden Artikel bei uns im Blog empfohlen. Wer lieber mit Wegwerfwindeln wickeln möchte, sollte vor allem am Anfang zu Pampers New Born Windeln greifen - vor allem, wenn man stillt. Keine Windel hält Muttermilchstuhl besser. Später kann man den Wechsel zu günstigeren Varianten erwägen - ich habe ganz ausgezeichnete Erfahrungen mit den Aldi Nord-Windeln gesammelt (und bin relativ sicher, dass die auch von Pampers produziert werden).

Kauft nicht zu viele Windeln in der Gr. 1 - die meisten Babys wachsen blitzschnell aus dieser Größe raus - mein 4-kg-Sohn passte von Anfang an in die 2-er-Windeln. Und auch diese passen deutlich weniger lange, als man es vermutet. Wenn ihr Euch bevorraten wollt (weil es bspw. günstige Angebote gibt), dann lieber mit Windeln in der Größe 3 - davon braucht ihr ein paar Monate welche.

In Bezug auf Windeleimer scheiden sich die Geister. Beim ersten Kind hatte ich noch einen Angelcare-Windeleimer und fand den auch ganz gut. Der Eimer als solches ist sehr günstig - teuer sind die Nachfüllkassetten. Man kann (theoretisch) auch normale Müllbeutel nehmen, aber die sind deutlich weniger geruchshemmend. Dann tut es auch ein Eimer mit Deckel. Am Ende habe ich die Windeln einfach aus dem Fenster vor die Mülltonne geworfen - die Methode hat sich bewährt, ist aber natürlich nich überall möglich.

Beim zweiten Kind bin ich dazu übergegangen, die Windeln sofort zu entsorgen - bei uns steht ein Eimer auf der Terrasse, in dem die Windeln dann zwischengelagert werden und einmal am Tag in die Mülltonne entsorgt werden. Für Hausbesitzer halte ich einen speziellen Windeleimer für entbehrlich - in einer Wohnung würde ich einen nutzen. Gute Erfahrungen gibt es auch mit dem Diaper Champ und dem Windeltwister.

Die Frage, ob man einen Heizstrahler braucht oder nicht, ist ebenso heiß diskutiert. Ich persönlich finde, dass man unbedingt einen haben sollte. Gerade am Anfang kühlen die Neugeborenen sehr schnell aus und so richtig hat man noch keine Übung, so dass das Wickeln und Umziehen schon mal dauern kann. Die meisten Kinder lieben es außerdem, eine Weile lang nackt herumzustrampeln - allein dafür lohnt sich so ein Heizstrahler definitiv. Wir haben unseren bis weit ins zweite Lebensjahr und teilweise auch im Sommer genutzt. Ich möchte Euch ans Herz legen, dass ihr Euch für ein Modell entscheidet, das sich automatisch abschaltet (z. B. von Reer).

Eine Wickeltasche ist sinnvoll - aber auch nicht zwingend erforderlich. Entscheidet man sich dafür, hat man die Qual der Wahl - für jeden Geldbeutel und Geschmack ist etwas dabei. Von witzig und günstig (LCP) bis elegant und teuer (Lässig). In der Wickeltasche hatte ich immer eine Tasche von Generic - das sind ganz dünne Wetbags, in die man prima feuchte Wäsche oder benutzte Stoffwindeln packen kann - sie sind nämlich wasserdicht. Für gerade mal um die 2 bis 3 Euro hat man ein unverzichtbares Utensil, das in vielen witzigen Designs erhältlich ist. 

 

Erstausstattung Schlafen


Schlafsack und Pucksack


Zum Schutz vor dem Ersticken durch überdecken und zur Prävention in Bezug auf den plötzlichen Kindstod soll unbedingt ein Schlafsack verwendet werden (auch wenn es Kinder gibt, die sich standhaft weigern, in einem zu schlafen).

Wie warm der Schlafsack hält, ist mit der Einheit "Tog" angegeben. Ein Schlafsack mit 0,5 Tog besteht aus zweilagigem Stoff und wärmt kaum - er ist ideal für heiße Sommer. Schlafsäcke, die leicht wattiert und ärmellos sind, haben 1,0 Tog - sie sind für Zimmer geeignet, die etwa 18 bis 24 Grad haben. Ist es kälter, sollte man zu einem Schlafsack greifen, der 2,5 Tog hat - dieser hält in Räumen mit 15 bis 21 Grad warm. Am wärmsten sind Schlafsäcke mit 3,5 Tog, diese halten auch unter 18 Grad warm.

Babys können ein sehr unterschiedliches Wärmeempfinden haben - wo das eine Kind fröstelt, ist es dem anderen schon viel zu warm. Ich habe mich daher für Prima-Klima-Schlafsäcke von Odenwälder entschieden - die decken eine sehr große Temperaturspanne ab. Auch von den Mäxchen-Schlafsäcken von Alvi habe ich durchgehend nur positive Erfahrungen gelesen - allerdings gibt es da so viele Größen, dass man ständig neue kaufen müsste - daher hatte ich mich dagegen entschieden.

Übrigens - Pucksäcke waren für uns absolut unverzichtbar! Man braucht sie zwar nicht unbedingt von Anfang an, da man nur unruhige Kinder pucken "muss" - aber meisten Kinder schlafen sehr viel besser und beruhigen sich viel schneller, wenn sie fest eingewickelt werden. Spezielle Pucksäcke- und -tücher (wie der SwaddleMe) vereinfachen das durch eine raffinierte Kletttechnik. Für den Winter eignen sich Modelle aus Mikrofleece - wenn es dann noch zu kalt ist, kann man das gepuckte Kind noch in einen Strampelsack stecken.

Man benötigt mindestens zwei Schlafsäcke oder Pucksäcke (oder einen Trockner und etwas Geduld). 

Babyphone 


Ein Babyphone ist zwar nicht unbedingt erforderlich, wenn man bspw. in einer nicht ganz so großen Wohnung lebt, aber die meisten Eltern fühlen sich besser, wenn das Kind überwacht wird. Wir hatten - nach langen Recherchen - das Avent SCD 520, über das ich in den letzten Jahren nur zufriedene Erfahrungsberichte gelesen habe. Die negativen Bewertungen bei Amazon kommen dadurch zustande, dass ein Großteil der Nutzer nicht in der Lage war, die Bedienungsanleitung zu lesen. Heute würde ich mich für ein neueres Modell entscheiden - z. B. das SCD 560.

Mittlerweile sind auch Video-Babyphone in einer bezahlbaren Qualität erhältlich - braucht man nicht unbedingt, sind aber ein schönes Spielzeug. Hier gibt es gute Erfahrungen mit den Modellen von Audioline, Tomy und Nuk. 

Liste für eine Erstausstattung zum Download


Das ist ein wirklich langer Artikel geworden - daher habe ich alles kompakt auf einer Liste zusammengefasst, die ihr hier downloaden könnt.

Was ist so schlimm an Winterhoff?

Eine kritische Analyse des Buches "Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden"

 
Vor etwa eineinhalb Jahren fragte eine Userin in meinem Lieblingsforum: "Was ist eigentlich so schlimm an Winterhoff?", nachdem es eine Menge Autor-Bashing in mehreren Threads gegeben hatte. Sie hatte seine Bücher noch nicht gelesen und fragte sich, womit er eine solche Behandlung verdient hatte. Da ich bis dahin bis auf ein paar kurze Zeitungsartikel auch noch nichts von ihm gelesen hatte, enthielt ich mich damals einer Antwort. Stattdessen borgte ich mir sein erstes Buch und begann zu lesen. Schnell hatte ich es durch. Es zu "verdauen" dauerte wesentlich länger. Liebe X., hier ist nun meine Antwort auf deine Frage. Dieser Artikel ist für dich.
 

1. Das Buch positioniert sich nicht stark genug gegen den "erzieherischen Klapps"

 
"Vielfach ist derzeit eine radikale Umkehr zu beobachten. Erziehungsratgeber empfehlen zunehmend mehr Strenge und Konsequenz in der Erziehung, der berühmte "Klapps auf den Hintern" ist wieder diskussionsfähig geworden, wobei die derzeitige Tendenz häufig genug dahin geht, dass eben jener "noch niemandem geschadet habe". Eine derzeit durchaus salonfähige Feststellung, die, unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch ist, noch vor nicht allzu langer Zeit für Empörung gesorgt hätte." [vgl. Winterhoff, M., 2009: 16f]
Dazu brauche ich gar nicht viel schreiben - der Autor positioniert sich hier nicht eindeutig gegen den Klapps als Erziehungsmittel. Über seine Gründe möchte ich nicht munkeln. Fest steht für mich: Jemand, der nicht ganz klar schreibt, dass physische (und psychische) Gewalt und elterliche Liebe einander ausschließen und daher der Klapps und andere antiquierte Methoden der schwarzen Pädagogik in der Eltern-Kind-Beziehung absolut nichts zu suchen haben, disqualifiziert sich in meinen Augen sofort selbst als Rat-Geber.
 

 

2. Das Buch unterstützt Standesdünkel unter Eltern und schürt die so genannten Mommy Wars


"Arndt, 8 Jahre, berichtet mir lehrbuchartig seine Tricksereien, die er benutzt, weil er nicht aufräumen möchte. Zunächst fordert ihn die Mutter auf, im Wohnzimmer aufzuräumen, daraufhin geht er hoch ins Kinderzimmer. Wenn die Mutter ihm ins Kinderzimmer folgt, geht er runter in den Keller. Wenn die Mutter ihm in den Keller folgt, geht er wieder zurück ins Wohnzimmer. Ich frage grundsätzlich immer wieder nach: "Und dann räumst du deine Sachen auf?" Antwort: "Nein, nein, dann gehe ich erst noch in den Garten." Ende vom Lied ist: Arndt räumt gar nicht auf, sondern seine Mutter macht es. Der Grund für die Vorstellung in der Praxis ist, dass die Mutter sich große Sorgen wegen der hohen Ängstlichkeit ihres Sohnes macht. Er traue sich bedauerlicherweise auch nicht, in der Schule (2. Klasse) den Vormittag ohne seine Mutter im Klassenraum zu verbringen. Also sitzt die Mutter den gesamten Schulvormittag neben ihm." [Winterhoff, M., 2009: 66f]
Dieses Beispiel habe ich willkürlich aus dem Buch herausgefischt - es hätte auch ein völlig anderes sein können. Sie gleichen sich insofern, als dass sie alle Verhaltensweisen von Kindern aufzeigen, die wirklich alle Menschen schon einmal erlebt haben (z. B. dass das eigene Kind nicht aufräumen will), diese dann aber so überspitzt beschreiben, dass sich wiederum niemand wirklich angesprochen fühlen muss, da es so schlimm bei einem selbst ja dann doch nicht ist (im Klassenraum dabei sein müssen). Das ist ein cleverer Schachzug vom Autor, da er es so schafft, die Leser zu ihm ins Boot zu bringen - zumindest vom Hörensagen kennt doch jeder ein Kind, das so wie von ihm beschrieben von der Norm abweicht, nicht wahr? Gemeinsam können nun Leser und Autor ob des psychischen Verfalls der heutigen Kinder traurig den Kopf schütteln und der guten alten Zeit nachtrauern, in der es "so etwas" noch nicht gab. Die lesenden Mütter und Väter können sich gleichzeitig noch selbst stolz auf die Schulter klopfen, weil ihnen das Buch die Bestätigung gibt, es selbst nicht so falsch wie andere Eltern zu machen.

Und da kommen die Mommy-Wars ins Spiel. In denen geht es ja immer darum, dass die eine Seite denkt, sie mache es viel besser, als die andere Seite und das Resultat würde sich spätestens dann zeigen, wenn die fremden Kinder als depressive, obdachlose Penner auf der Straße leben, weil sie als Kind nicht im Tuch gebunden an elterlicher Brust schlummern durften oder wahlweise zu egozentrischen Muttersöhnchen heranwachsen, die sich bis in die späten Dreißiger von ihren Eltern als faule Studenten aushalten lassen, weil sie damals langzeitgestillt und familiengebettet wurden. Das Buch bestätigt diese albernen Klischees und weitet die Kluft zwischen den Eltern da draußen.

Saurierskelett
Nachdem ich das Buch gelesen hatte, fielen mir auf den Spielplätzen plötzlich unglaublich viele "ungezogene" Kinder auf, solche, die prima ins Winterhoff'sche Schema passten. Mein Blick war nun defizitorientiert und ich schüttelte innerlich den Kopf über die vielen unfähigen Eltern, die ich sah. Ich war plötzlich nicht mehr offen genug, zu erkennen, dass diese Situationen auf den Spielplätzen oder im Supermarkt nur Momentaufnahmen vom Leben dieser Mütter und Väter waren. Ich kannte weder den Tag, den diese Eltern davor hatten, ich wusste nicht, ob sie in der Nacht geschlafen hatten und schon gar kannte ich sie gut genug, um zu wissen, ob sie nicht vielleicht sonst die geduldigsten Eltern aller Zeiten waren, aber nun an Migräne litten und einfach nur nach Hause wollten.

Dass ich in der Winterhoff'schen Sichtweise gefangen war merkte ich erst, als mich beim Babyturnen eine Mutter ganz nett darauf ansprach, sie hätte mich am Samstag mit meinen Kindern im Museum gesehen - ich hätte ziemlich angespannt gewirkt. Mein erster Gedanke war: "Mist, ausgerechnet da hat mich jemand erkannt!", aber dann konnte ich doch lächeln und erzählen, was für ein Höllentrip dieser Museumsbesuch für alle gewesen war: Mir war heiß gewesen, weil das schlafende Baby im Schneeanzug in der Trage an mir hing, meine Töchter waren müde, weil wir gerade in dieser doofen Mittagsschlaf-Abschaff-Phase sind. Es waren Ferien und dementsprechend war es brechend voll - niemand konnte sich in Ruhe etwas angucken, weil immer gleich andere Familien drängelten. Außerdem hatte ich das Museum ungünstig ausgewählt - meine Töchter mochten zwar das Dinosaurierskelett im ersten Raum, waren aber angesichts von ausgestopften Vögeln, Eisbären und Tigern nicht beeindruckt, sondern gelangweilt. Ich hatte Angst, dass das Baby überhitzt und ärgerte mich, ihn nicht ausgezogen zu haben, aber ich hatte ihn nicht wecken wollen. Eine Tochter musste pullern, aber die Toiletten waren zu voll, die andere Tochter hatte Hunger, durfte aber im Museum nichts essen.

Ich war vollgepackt wie ein Esel, weil ich alle Klamotten trug, da ich nicht bei der Garderobe hatte anstehen wollen. Zu sehen war also eine schwitzende Frau mit zur Faust geballtem Gesicht, Baby vorm Bauch, Rucksack auf dem Rücken, an jeder Hand eine nölende und eine weinerliche Vierjährige, welche sich vor lauter Müdigkeit durch die Säle zerren ließen. Ich wollte nur noch raus, raus, raus! Nein, in diesem Moment war ich keine souveräne Mutter... Als ich diese Szene beim Babyturnen Revue passieren ließ, merkte ich plötzlich, dass ich mir, hätte ich mich selbst im Museum gesehen, bestimmt das Label "schlechte Mutter" gegeben hätte. Ich erschrak darüber, weil ich eigentlich die meiste Zeit eine ganz gute, freundliche und zugewandte Mutter bin - ich verstand, dass ich mir einen zu kritischen Blick angewöhnt hatte, was andere Mütter anging. Wir alle haben stressige Situationen, in denen wir nicht optimal reagieren. Manchmal reagieren wir sogar regelrecht blöd, und wissen es, und können es in dem Moment trotzdem nicht ändern. Aber das macht uns nicht zu schlechten Müttern, nur zu echten.

Liest man Winterhoff, wird dieser kritische Blick auf andere bestätigt und bestärkt. Ich weiß nicht, ob der Autor das absichtlich macht, aber er müsste als Psychiater eigentlich wissen, dass er mit seinen Beispielen eine psychologische Kettenreaktion auslöst, die alte Kindheitstraumata triggert und als Abwehrreaktion das Schlechtmachen anderer Eltern hervorruft.
"Kein Mensch hätte Interesse, andere zu verfolgen und schlecht zu machen, wenn er nicht auf narzisstischer Kränkungswut wie auf einem Pulverfass sitzen würde. Die Verleumdung gelingt am besten, wenn man den Sündenbock gar nicht persönlich kennt. Wenn jemand so andauernd abwertend über andere spricht, dann dient das zur Abwehr der eigenen narzisstischen Verletzung. Wenn andere "etwas schlecht machen", ist man automatisch relativ besser, weil man es anders macht - das gehört zur notwendigen Regulation des Selbstwertes, ermöglicht jedoch keine Befreiung. Die in der frühen Kindheit selbst erlittende Kränkung wird lediglich destruktiv ausagiert und weitergegeben." [Maaz, H.J., 2012, 49].
Baby wird im Arm gehaltenDas bedeutet, dass Eltern, die selbst als Kinder in den ersten drei Lebensjahren keine echte qualitative innere Zuwendung von ihren Eltern erfahren haben, einen entwicklungspsychologischen Mangel erlitten haben - ihre primäre narzisstische Sättigung ist ungenügend. Nach außen hin kann das Kind bestens versorgt gewesen und in einer "heilen" Familie aufgewachsen sein, ja, der Erwachsene erinnert sich sogar meist an eine glückliche Kindheit. Wenn sich jedoch seine primären Bezugspersonen nicht die Mühe gemacht haben, empathisch auf  ihn als verzweifelt schreiendes Baby, als unglücklich tobendendes Kleinkind einzugehen; wenn seine Signale nach Hunger, Durst, Kuscheln, Schlafen etc. überhört wurden und stattdessen nach von anderen festgelegten Strukturen befriedigt wurden - dann musste sich das Kind, das heute ein Erwachsener ist, emotional anpassen um zu überleben. Die Kinder erspüren ganz genau, was ihre Eltern von ihnen wollen und passen ihr originales Selbst an diese Wünsche an. Ich hatte das in diesem Artikel schon einmal ausführlicher erklärt.

Ab diesem Zeitpunkt beginnt ein lebenslang anhaltender Prozess der Entfremdung zu sich selbst. Die von den eigenen Eltern nicht positiv gespiegelten Verhaltensweisen des originalen Selbst werden tief im Inneren weggeschlossen. Sie sind aber nicht weg - sie bleiben im Menschen bestehen. Kratzt nun ein Fremder - eine andere Mutter im Pekip Kurs oder auf dem Spielplatz beispielsweise - mit Worten oder Taten an diesem originalen Selbst, das nicht sein durfte, weil die eigenen Eltern es nicht liebten, dann löst das einen so unerträglichen und bedrohlichen Mangelschmerz aus, dass "zurückgeschlagen" werden muss. Das erklärt, warum die Mommy-Wars  oft so extrem ausarten. Statt zuzulassen, dass andere Mütter andere Wege haben, wird sich aus (frühkindlicher) narzisstischer Kränkung heraus im eigenen Tun als einzig wahre Wahrheit verbissen. Es tut einfach zu sehr weh, zu erkennen, dass das, was einem das eigene Bauchgefühl als richtig suggeriert, vielleicht gar nicht richtig ist und man unwissentlich seinem eigenen Kind so geschadet hat, wie man selbst beschädigt wurde. Aus gleichem Grunde reagieren unsere Eltern und Schwiegereltern oft so pikiert auf unseren abweichenden Erziehungsweg.
 
Das "Zurückschlagen" aus eigener Betroffenheit geschieht oft mit einem scheinbar starken Selbstbewusstsein: da wird verhöhnt, klein geredet und ins Lächerliche gezogen. Es ist schwer, sich als friedliebender Mensch davon nicht beeindrucken zu lassen. Doch je vehementer sich die Mutter oder der Vater dir gegenüber in Rage redet, je mehr Hass in Online-Diskussionen versprüht wird, je sarkastischer jemand deinen Weg kommentiert, desto stärker kannst du davon ausgehen, dass bei diesem Menschen im Inneren ein kleines fremdgewordenes Kind ungehört weint, welches sich genau das von seinen Eltern gewünscht hätte, was du deinen Kindern gerade gibst.

Doch sich das einzugestehen lässt die narzisstische Abwehr auf keinen Fall zu. So schwer es mir manchmal fällt: Ich begegne diesen verletzten und verletzenden Menschen mit aller Empathie, die ich aufbringen kann. Ich versuche, zu verstehen, was den Hass treibt, und das hilft mir, nicht ebenso verbohrt zurückzuhassen, sondern Nachsicht walten zu lassen. Ich weiß, dass die narzisstische Kränkung so tief geht, dass ich mit meiner Empathie nichts ausrichten kann - oft verschlimmert echtes Mitgefühl die Situation sogar noch. Aber immerhin schützt es mich davor, selbst wütend zu werden. Ich kann es nicht oft genug schreiben: Jedes Verhalten hat einen Grund! - Auch bei Erwachsenen.

Welchen persönlichen Grund Winterhoff hatte, sich diese psychologische Wirkungsweise des frühkindlichen Liebes- und Bestätigungsdefizits in seinem Buch zu Nutze zu machen, wird mir allerdings ein ewiges Rätsel bleiben, wenn ich ihm nicht Böses unterstellen will. Im Prinzip agiert er mit seinen Zeilen haargenau so wie ein Eltern-Troll in einem Online-Forum: Er macht andere Eltern schlecht, um sich selbst zu erhöhen. In einer endlosen Zurschaustellung von Beispielen schlechter Eltern hebt er mahnend den verbalen Finger und kreischt "Das Ende ist nah!"; er, der er als einziger erkannt hat, an welcher Störung die heutige Gesellschaft erkrankt ist. Wenn wir doch nur alle auf ihn hören würden, wären die gestörten Psychen unserer Kinder vielleicht doch noch zu retten.
 
Er schreibt:
"Wer in seinem Bekanntenkreis Lehrer, Kindergarten-Erzieher oder anderweitig pädagogisch tätige Menschen hat, kennt zur Genüge die Klagelieder über die scheinbar hoffnungslose Lage bei Kindern und Jugendlichen. Diese erscheinen zu einem großen Teil als respektlos und ohne jede Orientierung an allgemein verbindlichen Werten und Normen. Dabei handelt es sich in vielen Fällen um Kinder aus intakten Familien, bei denen die üblichen Erklärungsmuster wie "schwierige Kindheit", "kaputte Familie" oder "ungünstiges soziales Umfeld" nicht greifen. Schwierigkeiten bereiten zunehmend Kinder und Jugendliche, deren Eltern vom ersten tag an liebevoll mit ihnen umgehen, für jeden gut gemeinten Erziehungsratschlag dankbar sind und innovative pädagogische Konzepte in die Tat umzusetzen versuchen. [...] Die Reaktion, die innerhalb der Gesellschaft in der vergangenen Zeit auf dieses Phänomen zu beobachten ist, setzt in der Hauptsache auf eine Pädagogikdebatte. [...] Ich verfolge demgegenüber einen grundlegend anderen, und vor allem neuen Gedanken, um in der Sackgasse der aktuellen Debatte kehrt zu machen und nach neuen Wegen zu suchen, die schließlich auch zu sinnvollen pädagogischen Bemühungen führen können." [vgl. Winterhoff, M., 2009: 15ff]
So richtig neu ist seine Lösung dann aber gar nicht, auch, wenn er diese mit einer Menge für Laienohren wissenschaftlich klingender Termini zu untermalen versucht. Letzten Endes ist seine These auf ein kurzes Zitat komprimierbar:
"Worum es geht, ist, zu verstehen, dass sich die unterschiedlichen Symptome scheinbar erziehungsresistenter Kinder und Jugendlicher auf eine gemeinsame Sache zurückführen lassen, nämlich fehlende psychische Reife. [...] Das bedeutet: Kinder müssen wieder als Kinder gesehen werden. Heute sind wir dazu übergegangen, sie uns als kleine Erwachsene ebenbürtig zu machen und damit restlos zu überfordern." [vgl. Winterhoff, M., 2009: 18f]
Weil wir also unseren Kindern einen gewissen Entscheidungsfreiraum geben und nicht, wie frühere Generationen einfach über die Köpfe unserer Kinder hinweg entscheiden, gibt es laut Winterhoff so viele "gestörte Kinder." Dieses Argument  wiederholt er eifrig, damit es auch ja beim Leser ankommt. Und da wären wir schon bei meinem dritten Kritikpunkt an das Buch: 

 

3. Das Buch weckt tiefverwurzelte Ängste bei den Eltern, aus lauter Fürsorge das eigene Kind doch zu verwöhnen


"Claudia ist fünf  Jahre alt, sie wird in der Regel morgens in den Städtischen Kindergarten gebracht und mittags wieder abgeholt. [...] Die Tür öffnet sich, Claudia kommt als eins der ersten Kinder aus dem Gruppenraum gestürzt und entdeckt sofort zu ihrer erkennbaren Freude, dass ihre Mutter bereits eingetroffen ist. Sofort entspinnt sich ein Spiel: Claudia läuft auf die Mutter zu und hält ihr den ausgestreckten Arm entgegen, um ihr damit einen imaginären Muffin zu servieren, den sie nach stolzem Bekunden extra für die Mama gebacken hat. Die Mutter geht auf das Spiel der Tochter ein, bückt sich zu ihr nach unten, bedankt sich für den schönen, leckeren Muffin und ... beißt rein. Diese Handlung hat dramatische Auswirkungen: Claudia ist einem Schock nahe, denn der Biss in den Muffin gehörte nicht zu ihrem Plan von Ablauf des Spiels, sie hatte vielmehr ihrer Mutter das Gebäck geben wollen, damit diese es gemütlich daheim vertilgt. Die Reaktion des Kindes hat es in sich: Claudia beginnt nicht nur zu weinen, sie wirft sich gleichzeitig auf den Boden und ruft immer wieder laut, die Mutter habe doch den Muffin auf keinen Fall bereits jetzt anbeißen dürfen. Das Kind ist etwa 15 Minuten lang nicht ansprechbar, übertönt Beschwichtigungsversuche mit lautem Schluchzen und wehrt sich gegen körperliche Annäherung durch Strampeln und Schlagen. dann hat die Mutter die rettende Idee: Sie kann Claudia glaubhaft machen, dass sie ja nur einmal in das Gebäckstück gebissen habe und folglich den Rest noch in den Händen halte. Also könne man diesen ja mit nach Hause nehmen, und zu einem von Claudia festzulegenden Zeitpunkt werde der Muffin dann gegessen. Das Kind akzeptiert zwar diesen Vorschlag, nicht jedoch, ohne die Mutter darauf hinzuweisen, dass so etwas aber keinesfalls noch einmal vorkommen dürfe. Als Mutter und Tochter den Kindergarten schließlich verlassen, trägt die Mama sowohl den Rucksack als auch die Jacke ihrer Tochter. Und natürlich auch den imaginären Muffin!" [vgl. Winterhoff, M., 2009: 40f]
abgebissener KuchenSicher ist dir als kritischem Leser gerade aufgefallen, dass Winterhoff auch bei diesem überspitzen Beispiel sehr schlau Situationen miteinander verquickt, die wir als Eltern alle durchaus kennen (Wutanfall, weil wir in den Augen unserer Kinder etwas "falsch" gemacht haben), aber in solcher Dramatik Gott sei Dank noch nicht erlebt haben (Mutter sucht untertänig nach Lösungen, bis Mädchen gnädig eine akzeptiert). Wirklich perfide agiert er jedoch mit dem scheinbar harmlosen Ende der Geschichte, in dem die Mutter Jacke, Rucksack und imaginären Muffin trägt. Da Claudias Beispiel so herausragend krass ist, bemerkt man als Leser zunächst diesen Abschluss nicht wirklich. Man überliest ihn als relativ unwichtig - er hakt sich jedoch auf gemeine Art und Weise ins Unterbewusstsein fest und wirkt lange nach. Was übrig bleibt, ist die Angst, sein Kind mit solchen kleinen Liebesdiensten so zu verwöhnen, dass es doch noch zu einem Tyrannen wie Claudia wird.
 
Du findest meine Schlussfolgerung vielleicht zu weit hergeholt, doch sieh dich einmal in den Garderoben der Kindergärten um: Wie oft siehst du dort weinende Kinder, die gerne Hilfe beim Anziehen von Jacke, Schneeanzug oder Schuhen haben wollen und Eltern, die stur daneben stehen und immer wieder verärgert wiederholen: "Du kannst das doch allein! Beeil dich jetzt mal und mach nicht so ein Theater!" Ich werde wirklich häufig von verunsicherten Eltern gefragt, was sie machen sollen, wenn sich das Kind nach dem Kindergarten weigere, sich allein anzuziehen. Eigentlich würde es das ganz prima allein können und auch im Kindergartenalltag machen, aber sobald man es abhole, zerfalle es quasi vor den Augen der Eltern und würde nur unter Mühen dazu gezwungen werden können, sich selbst anzuziehen. Das wäre jedes mal ein riesen Drama, das allen Beteiligten den Schweiß auf die Stirn treibe und den Eltern die Freude am Abholen des Kindes gründlich verderbe.
 
Meine Antwort darauf ist immer die Gleiche: Was hält dich denn davon ab, deinem Kind in diesem Moment zu helfen? Warum ist es so immens wichtig, dass es sich allein anzieht, wenn du doch weißt, dass es das ganz selbstverständlich schon allein kann? Der Wunsch deines Kindes ist keine Forderung eines Tyrannen, sondern Ausdruck dessen, dass es nach einem anstrengenden Arbeitstag gern ein bisschen von dir umsorgt werden möchte. Es hat x Stunden im Kindergarten "funktioniert", hat sich in die Gruppe eingeordnet, Regeln eingehalten, sich beim Mittagschlaf allein aus- und wieder angezogen. Jetzt bist du endlich da, sein sicherer Hafen, seine große Liebe. Es möchte mit dir Kuscheln, der Körperkontakt beim Anziehen-helfen hilft ihm beim Entspannen, da dabei das Kuschel-Hormon Oxytocin ausgeschüttet wird. Du "verwöhnst" dein Kind nicht, wenn du ihm in dieser Situation hilfst, es wird dadurch kein Tyrann. Du wirst ihm deswegen auch nicht für immer beim Anziehen helfen müssen, mach ich von diesen Ängsten frei! Das, was du ihm mit deiner Anzieh-Hilfe beibringst, ist, dass es keine Schande ist, um Hilfe zu bitten. Du zeigst ihm auch, dass es gut und schön ist, jemandem anderen zu helfen, der einen langen, stressigen Tag hatte und dass diese Hilfe demjenigen ein wohliges Gefühl von Liebe macht. Bestenfalls ziehst du so eine/n empathiefähigen Ehefrau oder -oder mann heran, die/der seiner besseren Hälfte später ungefragt ein heißes Bad einlaufen lässt oder die Füße massiert, weil sie/er erkennt, dass ihr das gut tun würde.
 
Winterhoff freilich sieht das ein bisschen anders. Seine Analyse der Situation mit Claudia fällt vernichtend für die Mutter aus. Er schreibt:
"Die Handlungsweise der Mutter zeigt gleich mehrere Auffälligkeiten, die die Psyche ihrer Tochter  in die falsche Richtung beeinflussen. [...] Claudia lernt aus dieser ganzen, 15 Minuten dauernden Szene, dass sie die Mutter in ihrer Handlungsweise bestimmen kann. Sie nimmt ihr das Heft des Handelns aus der Hand und lässt sie nach dem Prinzip von "trial and error" an der langen Leine zappeln, bis sie den Vorschlag, den "Muffin" mit nach Hause zu nehmen, für gut genug befindet, um sich abzuregen. Höhepunkte ihrer Ich-bezogenen Handlungsweise sind dann nochmal die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich von ihrer Mutter aufhelfen lässt, obwohl sie sich selbst auf den Boden geschmissen hat, und die Zurechtweisung, dass eine solche Situation nicht noch einmal passieren dürfe." [vgl. Winterhoff, M., 2009: 44]
Lies das Zitat genau - denn auch hier impft er uns einen Zweifel ein, der vom Leser auf den ersten Blick als unwichtig übersehen werden könnte: Während ich mit ihm konform gehe, dass die Zurechtweisung der Mutter durch die Tochter nicht akzeptabel ist, und von der Mutter freundlich, aber deutlich abgeblockt werden sollte, finde ich es bedenklich, dass Winterhoff uns einzureden versucht, wir würden die Psyche unserer Kinder in eine gefährliche Richtung beeinflussen, wenn wir ihnen nach einem Wutanfall helfen, vom Boden aufzustehen! Mann, Mann, Mann. Was für eine Art von Beziehung propagiert er denn da? Ja, Mensch, wo kämen wir denn hin, wenn wir einen geliebten Menschen, der einen Fehler macht, hinterher trotzdem mit offenen Armen empfangen würden? Wenn wir ihn, statt ihn beleidigt auf Distanz zu halten ("Die Suppe, die du dir eingebrockt hast, löffle mal schön allein aus!"), trotz des begangenen Fehlers ohne Wenn und Aber, bedingungslos also, lieben und ihn mit all seinen gefühlsbedingten Facetten annehmen würden?
 
Geradezu absurd wird es, wenn man Winterhoffs Ratschläge an die Eltern aus dem Beispiel Claudia mit seinen Ausführungen vergleicht, die er nur ein paar Seiten weiter macht: 
"Kinder können sich nur über den emotionalen Bezug und eine entsprechende Bindung an ihre Eltern optimal entwickeln. Beziehungsfähige Kinder entwickeln sich somit zunächst einmal für ihre Eltern. Das bedeutet ganz konkret etwa, dass ein Fünfjähriger, der beim Tischdecken hilft, dies nicht funktional tut, also nicht, um die Voraussetzungen zu schaffen, damit anschließend gegessen werden kann, sondern er tut das ausschließlich für seine Eltern. Genauso lernt das Kind in der Schule für den Lehrer und - noch - nicht für das Leben." [vgl. Winterhoff, M., 2008: 72]
Wenn ich nun beide Textpassagen vergleiche, ergibt sich für mich folgende Winerhoff'sche Leitlinie, was die Beziehung zu meinen Kindern angeht: Meine Kinder sind gut an mich gebunden, deshalb helfen sie mir, weil sie wissen, dass mir das Freude bereitet. Sie helfen gern im Haushalt oder bringen mir meine Mütze, wenn ich sei vergessen habe. Sie tragen auch mal einen Teil des Einkaufs, wenn mir alle Beutel zu schwer sind. Ich als Mutter bin ebenso gut an meine Kinder gebunden. Allerdings muss ich gut aufpassen, ihnen nicht zu helfen, wenn sie sich in irgend einer Weise daneben benehmen. Sobald sie etwas "falsch" machen, muss ich ihnen meine Hilfe verweigern, auch, wenn sie das als Liebesverlust interpretieren, damit ich sicherstelle, ihre psychische Entwicklung nicht in die falsche Richtung zu lenken...
 
Eine Frage bleibt allerdings offen nach Lektüre des Buches. Es wäre schön, wenn ein Experte mir das noch beantworten könnte: Wenn ich als Mutter mal einen "Fehler" mache, wenn ich morgens grumpelig mit meinen Kindern rede, weil ich noch müde bin, wenn ich sie ungerechterweise beschuldige, meine Schokolade gegessen zu haben, obwohl das meine bessere Hälfte war, wenn ich wegen PMS schneller meine Geduld verliere, obwohl sich meine Kinder altersangemessen laut verhalten - sollten dann meine Kinder mir ihre Liebe und ihre Hilfe auch verweigern? Ist das Winterhoff'sche Verständnis von Beziehung so ein "Zuckerbrot und Peitsche"-Ding? Mir scheint es so. Das Ganze nennt sich "operante Konditionierung" und entspricht dem Stand der Lernpsychologie der 30er (!) Jahre: Gutes Verhalten wird mit Zuneigung und positiven Reizen belohnt. Negatives Verhalten wird durch die kalte Schulter zeigen und Konsequenzen geahndet. Mit bedingungsloser Liebe hat das leider rein gar nichts zu tun und echte Empathie kann so auch nicht entwickelt werden. 
 

4. Das Buch gibt vor, keine Lösungen auszuformulieren, tut es aber insgeheim doch


"Ich möchte hier keine en détail ausformulierten Lösungen für die Probleme präsentieren, und das aus gutem Grund. Niemandem ist damit gedient, sich einer vermeintlich simplen Lösungsstrategie für ein Problem zu bedienen, wenn er die Hintergründe für dieses Problem nicht verstanden hat. Genau das bezwecke ich: Sie, der Leser, der nichts lieber möchte, als (seinen) Kindern zu helfen, soll sich drüber klar werden, welche Mechanismen die psychische Reifung der Kinder in der gegenwärtigen Situation außer Kraft gesetzt haben. Mit diesem Wissen im Hinterkopf gilt es dann, neue Strategien zu entwickeln, um aus der Sackgasse zu entkommen. das ist jedoch ein Prozess, an dem jeder einzelne Betroffene sich aktiv beteiligen muss." [vgl. Winterhoff, M.; 2009: 190f]
Frau liest in einem Buch
Wie du aus dem Zitat entnehmen kannst, ist das Buch "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" vom Autor dezidiert nicht als Ratgeber angelegt. Er betont an zwei Stellen, dass er keine einfachen Lösungsansätze geben möchte, sondern mit seinen Ausführungen nur aufrütteln möchte - er legt den Finger quasi auf den Missstand der heutigen Gesellschaft. Das mit dem Aufrütteln schafft er tatsächlich. Niemand, der dieses Buch liest, wird hinterher nicht in irgend einer Weise berührt sein. Liest man das Buch als Elternteil, passiert es oft genug, dass die Beispiele doch unangenehm nah an das heranreichen, was man tagtäglich mit den eigenen Kindern erlebt. Natürlich erleben wir nicht die Extreme, die er da beschreibt, doch er flicht ja immer, wie ich schon schrieb, auch ein paar harmlosere Begebenheiten mit ein, in denen wir uns eben doch wiedererkennen.
 
Richtig ernst wird es für uns dann aber im letzten Drittel des Buches:  Er unterscheidet drei krankhafte Beziehungsstörungen zwischen Eltern und Kindern: Partnerschaftlichkeit, Projektion und Symbiose. Letztere ist für ihn die fatalste Stufe der Beziehungsstörung, in der es laut Winterhoff zu einer Verschmelzung der elterlichen Psyche mit der kindlichen kommt und damit zu einer Fixierung des Kindes in einer sehr frühen psychischen Entwicklungsphase [vgl. Winterhoff, M., 2009: 134]. In diesem symbiotischen Verhältnis können Kinder dann, so sagt er, Menschen nicht mehr als Menschen wahrnehmen, sondern behandeln diese wie Gegenstände, da die Eltern ihnen keinen Widerstand entgegensetzen, wenn es sich in seinem kindlichen Narzissmus durchzusetzen versucht. Er beschreibt eine Situation aus seiner Praxis: 
"Das Kind klettert während der Zeit, in der ich mich mit den Eltern unterhalte, auf ihnen herum, mal rauf, mal runter, zerrt an ihnen und zieht ihnen dabei manchmal fast die Kleidung vom Leibe. Darauf angesprochen, reagieren die meisten Eltern mit Erstaunen und der klaren Ansage, es störe sie nicht, wenn das Kind das mache. [...] Eine weitere symptomatische Situation ist beispielsweise, dass Kleinkinder der Mutter während eines Gespräches die neben dem Stuhl liegende Handtasche ausräumen. Diese reagiert darauf erst nach einem deutlichen Hinweis meinerseits, allerdings nicht in der zu erwartenden Art und Weise. Statt die Tasche hochzustellen, damit sie für ihr Kind unerreichbar wird, räumt sie ihre Sachen wieder ein und stellt die Tasche dann wieder auf den Boden, so dass das Kind von vorne beginnen kann. Auf dem Boden der Symbiose kann die Mutter nicht mehr erkennen, dass ihr Kind etwas Falsches tut." [vgl. Winterhoff, M., 2009: 143]
Dieses Verhalten ist laut Winterhoff die schlimmste Stufe der Beziehungsstörung! Nicht die kreischende Claudia, die ihre Mutter mit dem Muffin herumkommandiert, nicht der maulige Manuel, der ungefragt die Post seiner Mutter liest, nicht der ängstliche Arndt, dessen Mutter neben ihm in der Schule sitzen muss, nicht der seltsame Sven, der mit seinem Chemiebaukasten den Abendbrottisch belegt und seine Mutter dumm nennt - nein, das Kleinkind, das während eines Erwachsenengespräches auf seinen Eltern herumturnen und der Mutter die Handtasche ausräumen darf!
 
Mit diesem Beispiel nimmt der Autor uns Lesern ganz plötzlich den Atmen und lässt unser Herz vor Angst verkrampfen. Denn selbstverständlich haben alle unsere Kinder schon auf uns herumgeturnt, während wir mit einer Freundin getratscht haben. Selbstverständlich haben wir es in unserer Tasche kramen lassen - immerhin ist es dann eine Weile ruhig beschäftigt, so dass wir schnell mal einen Kaffee trinken oder die erste Seite der Zeitung überfliegen können. Während wir also noch in den ersten zwei Dritteln des Buches erleichtert aufatmen konnten, dass wir scheinbar bessere Eltern als die anderen sind, zeigt uns Winterhoff nun, dass eher das Gegenteil der Fall ist: Wir sind das extremste Extrembeispiel! Unsere Kinder sind auf dem falschen Weg, nicht die der anderen!

Mit diesem Stachel des Zweifels an uns und unseren Kindern lesen wir das Buch weiter. Eigentlich würden wir jetzt gern erfahren, was wir konkret anders machen könnten, damit unsere Kinder doch noch zu psychisch gesunden Menschen heranwachsen können, aber ach, das Buch ist ja kein Ratgeber...
 
Doch ist es das wirklich nicht? Immer wieder lässt Winterhoff bewusst suggestiv wirkende Sätze in seinen Text einfließen, die harmlos daherkommen, aber althergebrachte, gesellschaftlich tief verankerte "Weisheiten" in unserem Gehirn aktivieren: 
"Es ist noch gar nicht so lange her, dass Kinder sich in Deutschland sehr positiv entwickelt haben, psychische Reifeprozesse ordentlich durchlaufen werden konnten und vollwertige Mitglieder der Gesellschaft entstanden." [vgl. Winterhoff, M., 2009: 190]
"Die normale Reaktion der Eltern würde folglich darin bestehen, sich dieser provokativ wirkenden Verweigerungshaltung von Seiten des Kindes nicht zur Verfügung zu stellen, sich also abgegrenzt zu zeigen [...] und dem Kind damit zu bedeuten, dass es die Eltern mit seinem frechen Verhalten nicht steuern kann. Es ist sehr wohl denkbar, das Kind wegen seiner Kindheit aufs Zimmer zu schicken. Sinn dieser Handlung wäre die räumliche Trennung, um auf diese Weise zu einem natürlichen Aggressionsabbau beim Kind zu kommen." [vgl. ebd.:149]
"Auf Seiten des Lehrers bestand zur Durchsetzung der Verhaltensregeln und des Lernerfolgs ein ganz bestimmtes pädagogisches Rüstzeug, beginnend mit dem zentralen Instrument der Notenvergabe, aber auch mit Sanktionen wie Nachsitzen, Zusatzaufgaben oder Klassenbucheintragungen mit den entsprechenden Konsequenzen." [vgl. ebd.:107] 
Ich könnte noch einige weitere Beispiele aus dem Buch heraussuchen. Wenn man genau hinschaut, strotzt es an allen Ecken und Enden nur so vor Ratschlägen. Diese sind jedoch so geschickt in den Kontext eingewoben, dass man sie durchaus überlesen kann. Sie wirken aber nach - sie lassen eine Saite in unserem Gehirn anklingen, die uns bekannt und erfolgsversprechend vorkommt, da sie direkt aus unseren eigenen Kindheitserinnerungen gespeist wird.

Der vom Lesen aufgewühlte Mensch greift in einem solchen Zustand automatisch auf althergebrachte Mittel zurück, also das so genannte Bauchgefühl, so dass eine Lösung der von Winterhoff aufgezeigten Probleme nie dem neusten wissenschaftlichen Stand der Neurologie entsprechen werden, sondern immer auf den Strategien der letzten Generationen Fußen werden. Sein Weg ist der Weg zurück. Zurück zu mehr Disziplin, zu mehr Gehorsam, einem vermeintlich einfacheren Leben. Das muss nicht schlecht sein - es gibt junge Eltern, die darauf vertrauen, dass die Erziehung der Generationen vor uns zu stabilen Menschen führt und deshalb so falsch nicht sein kann.  Wer aber das Gefühl hat, die Methoden der eigenen Kindheit hätten zum Teil eben doch geschadet und wer es dementsprechend bei seinen eigenen Kindern anders machen möchte, der sollte lieber die Finger von seinem Buch lassen. 
 
honig
Denn seine Worte sind klebrig wie Honig und bleiben in uns noch lange, nachdem wir sein Buch beiseite gelegt haben. Ich habe fast ein ganzes Jahr benötigt, um mich von der Lektüre so weit zu erholen, dass ich meinen Weg des Attachment Parenting  wieder gefunden hatte. Meine Töchter mussten mir wieder und wieder rückmelden, dass sie das Gefühl haben, meine Wertschätzung für sie und ihre kleinen Eigenheiten sei abhanden gekommen, bis ich endlich den Winterhoff'schen Blick abschütteln konnte.
 
Ich bin natürlich nicht die Einzige, die Winterhoffs Buch kritisiert. Vor mir haben das schon etliche schlauere Köpfe als ich getan. Einer davon ist der Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann. In einem Radiointerview mit Joachim Scholl (Deutschlandradio Kultur) im Jahr 2009 positioniert er sich eindeutig:
"Zunächst einmal kann ich solche Sätze nicht unkommentiert stehen lassen. Wir haben hier keine Fachdiskussion, ich will das auch nicht eingehen, aber wie Herr Winterhoff das Wort Symbiose und Psychenverschmelzung benutzt, da kann man sich wer weiß was drunter vorstellen. Ich kann mir nichts drunter vorstellen. Wie er diese Begriffe verwendet ist rein fachlich falsch. Das ist erst einmal festzuhalten und für die Eltern als Warnung aufzufassen: Seid vorsichtig mit solchen Leuten, sie wissen teilweise nicht, was sie sagen. [...] Was er da beobachtet hat, ist, dass Eltern das Kind ins Zentrum ihres Lebens stellen. Das Kind muss ein ganz tolles Kind sein. [...] Eltern behaften die Kinder mit ihrem elterlichen Narzissmus. Das Kind muss zeigen, was für eine tolle Familie das ist. [...] Das ist eine richtige Beobachtung, aber die Analyse von Herrn Winterhoff streift sozusagen die Lächerlichkeit. [...] Ich könnte jetzt noch lange Zeit fortführen, tue ich aber nicht, weil ich höflich bin." [vgl. Bergmann, W., 2009, Radiointerview] 
Mit diesem wunderbar eindeutigen Zitat könnte ich diesen Artikel eigentlich beenden, doch es ist mir ein Bedürfnis, dir als Leser noch einmal an einem Beispiel die drei unterschiedlichen Reaktionsweisen von Eltern auf ein typisches Verhalten von Kindergartenkindern aufzuzeigen:

Wie reagieren Eltern bei einem kindlichen Wutanfall wegen Quengelware?


Um den Unterschied noch einmal ganz deutlich zu machen, möchte ich eins der Winterhoff'schen Beispiele aus dem Buch aufgreifen und die verschiedenen Erziehungsansätze miteinander vergleichen.
"Supermarktbesuche mit Kindern von etwa fünf Jahren verlangen von den Eltern bisweilen eine annähernd masochistische Grundhaltung. Der Supermarkt ist die ideale Spielwiese für das in der Allmachtsphase befindliche Kind, seine Macht auszutesten, die Eltern unter Druck zu setzen und sich als kleiner Diktator aufzuspielen. Nicht ohne Grund befinden sich die Spielwarenabteilungen dieser Märkte häufig in unmittelbarer Kassennähe oder zumindest auf dem Hauptlaufweg innerhalb des Marktes. Kein Kind ist in der Lage, den bunten Verlockungen in den Regalen zu widerstehen. Der Versuch, die Eltern dazu zu bewegen, irgendetwas davon käuflich zu erwerben, ist quasi unausweichlicher Bestandteil jedes Ganges in den Markt. [...] Das Kind quengelt und bestürmt die Eltern, ihm ein bestimmtes Spielzeug zu kaufen, nichts großes, vielleicht ein Spielzeugauto. Die Eltern reagieren ablehnend, wissen um den gefüllten Autokorb daheim im Kinderzimmer, und sagen dem Kind, dass es dieses Auto nicht bekommen werde. Ein normaler Vorgang, der mit der Absage an das Kind beendet sein müsste." [vgl. Winterhoff, M., 2009: 124]
Gang im Supermarkt
  • Winterhoff meint, dass die Eltern der heutigen Generation dem Quengeln der Kinder dann doch noch nachgeben werden. Sei es, weil sie auf der partnerschaftlichen Ebene mit ihnen ausdiskutieren, warum es dieses Auto nun doch sein muss, sei es, weil sie sich in der Projektion befinden und als Kind selbst gern so ein Auto gehabt hätten und sich nun dieses Glück über ihre Kinder selbst verschaffen oder sei es eben, weil die Eltern so mit ihren Kindern verschmolzen sind, dass sie gar nicht mehr auf die Idee kommen, ihn diesen Wunsch abzuschlagen, da es ihnen wie ihr eigener Wunsch vorkommt.
 
Ich bestreite nicht, dass es heutzutage Eltern gibt, die ihren Kindern, warum auch immer, kein Nein entgegensetzen und ich schließe mich Winterhoff durchaus in der Schlussfolgerung an, dass dies für die gesunde psychische Entwicklung gefährlich ist. Anders als er sehe ich das jedoch nur bei einem minimalen Anteil aller Eltern, die ich tagtäglich beobachte. Der Großteil der Eltern reagiert doch in etwa so:
 
  • Die Eltern geben dem Quengeln des Kindes nicht nach, woraufhin dieses sich wütend auf den Boden wirft und seinem Frust lautstark Ausdruck verleiht. Die Eltern hocken sich neben das Kind und versuchen ein paar Minuten lang, es zu trösten und zu erklären, warum sie das Auto nicht kaufen. Das Kind hört nicht zu und wütet weiter. Nach ein paar weiteren Minuten werden die Eltern ungeduldig und sagen: "Nun ist aber gut! Ich möchte jetzt weitergehen!" Da das Kind sich immer noch nicht beruhigt, wird es entweder von den Eltern hochgehoben und weggetragen - oft wird dadurch der Einkauf komplett abgebrochen - oder die Eltern lassen das wütende Kind auf dem Boden liegen und gehen mit den Worten: "Ich gehe jetzt los, du kannst ja nachkommen, wenn du dich beruhigt hast!" Daraufhin steht das Kind doch auf und läuft den Eltern weinend hinterher, beruhigt sich aber nach einer Weile letzten Endes doch noch von allein.
 
Ich denke, dieses Vorgehen ist im Winerhoff'schen Sinne. Die Eltern haben eine Grenze gezogen und bleiben bei dieser. Sie gehen kurz auf die Gefühle des Kindes ein, lassen sich dann aber nicht weiter "manipulieren". Das Kind steht selbst auf und beruhigt sich selbst. Ich finde dieses Vorgehen nicht verwerflich, aber auch nicht besonders freundlich. Meines Erachtens lernt das Kind auch nicht besonders viel aus dieser Situation, außer, dass sein Gefühlsausbruch nicht erwünscht ist und seine Eltern notfalls ohne es losgehen würden. Für die psychische Entwicklung ist dieses Vorgehen vermutlich jedoch nicht schädlich. Ich finde aber, dass es einen achtsameren, beziehungsorientierteren Weg auch in dieser Supermarktszene gibt:
 
  • Die Eltern geben dem Quengeln des Kindes nicht nach, woraufhin sich das Kind wütend auf den Boden wirft und seinem Frust lautstark Ausdruck verleiht. Die Eltern hocken sich neben das Kind und spiegeln seine Gefühle ("Du bist echt wütend! Du willst dieses Auto! Du bist sauer mit mir, weil ich es dir nicht kaufe!"), das Kind hört aber nicht zu und schreit weiter. Die Eltern bleiben neben dem Kind und warten ab, bis sie in irgend einer Weise einen Zugang zu ihm finden. Das kann durchaus eine Weile dauern, die Eltern warten jedoch so lange geduldig ab, bis das Kind soweit durch ist mit seinem Gefühlsausbruch, dass es dem Trösten oder den Worten seiner Bindungspersonen zugänglich ist. Danach kann der Einkauf gemeinsam fortgesetzt werden.

Nun wird mir häufig das Argument entgegengebracht, dass man als Eltern eben nicht immer warten kann und dass man ja manchmal auch Geschwisterkinder dabei hat, die ebenfalls nicht auf den Wüterich warten müssen sollen. Das stimmt - manchmal hat man als Eltern einen Termin und muss dringend los. Doch wie oft ist das? Normalerweise geht man doch mit dem Kind nach der Kita noch schnell einlaufen, oder auch an einem Samstag. Wie viele Termine hat man denn da noch? Normalerweise ist es doch eher so, dass wir genervt sind und nicht warten wollen. Wir sind müde und geschafft und möchten nach Hause, wir wollen nicht mit einem brüllenden Kind im Supermarkt stehen. Und ja - oft hat man noch ein zweites und drittes Kind im Schlepptau, die dann unschlüssig neben ihrem tobenden Geschwisterkind stehen. Ich frage mich, warum wir eine solche Situation nicht als Chance sehen für unsere Kinder, die sich in diesem Moment gerade nicht in der emotionalen Krise befinden?

Die Kritiker unserer Erziehung sagen, ein Kind muss lernen, auf Erwachsene zu hören und Rücksicht auf andere zu nehmen. Gern wird auch die Zukunft dabei in Aussicht gestellt: In der Schule, in der Arbeitswelt muss es sich ja auch einordnen. Ja, sage ich! Das stimmt. Aber warum muss denn ausgerechnet das Kind in der emotionalen Notlage das in dieser Situation lernen? Warum nicht das Geschwisterkind? Es kann doch in diesem Moment viel, viel besser lernen, Rücksicht zu nehmen, abzuwarten, und auch "einfach mal zu machen, was der Erwachsene sagt", da sein Gehirn gerade nicht von Gefühlen übermannt wird. So kann man als Familie dem wütenden Kind Empathie entgegen bringen und schult beim zweiten Kind empathisches Verhalten: sich zurückzunehmen, weil es dem anderen schlecht geht und Lösungen finden, die dem anderen vielleicht aus der Krise helfen.

Das zweite Kind kann sich so auch wunderbar von den Eltern abschauen, wie es später mit den eigenen Kindern in einer solchen Situation umgehen kann. Oder die Mutter schickt es los, den Rest der Einkaufsliste abzuarbeiten - dann würde in dem Moment seine Selbständigkeit geübt, es würde Selbstbewusstsein aufbauen, weil es in einer stressigen Situation zum Wohl der Gemeinschaft beiträgt. Die Mutter oder der Vater könnte dann beim wütenden Kind bleiben und mit ihrer ruhigen Gegenwart signalisieren, dass es okay ist, von Gefühlen übermannt zu werden und das sie da ist, es zu empfangen, wenn es dazu bereit ist.

Starke Gefühle, da sind sich die Neurobiologen mittlerweile einig, können nur "integriert" werden, also wirklich beherrscht, wenn sie in der Kindheit durchlebt werden, wenn diese Gefühle durch Erwachsene benannt werden und alternative Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Das passiert nicht hinreichend, wenn dem Kind signalisiert wird, dass Gefühlsausbrüche nicht okay sind - die Gefühle werden dann eher unterdrückt, aber nicht beherrscht. Letzteres muss nicht per se schlecht sein - es gibt ja heutzutage viele, viele Erwachsene mit eher unterdrückten als integrierten Gefühlen, die alle ein redliches, gutes Leben führen.

Problematisch wird es nur, wenn diese Gefühle hervorbrechen, z.B. wenn die eigenen Kinder einen vermeintlich provozieren, und der Mensch dann so wütend wird, dass er kaum noch weiß, was er tut (Stichwort Schütteltrauma oder Klapps auf den Po). Das würde einem Menschen, der in der Kindheit Gelegenheit hatte, seine Gefühle auszuleben und sie dadurch zu beherrschen gelernt hat, nicht passieren. Ich halte es also für vorteilhaft, wenn möglichst viele Kinder heute ihre Gefühle in allen Facetten kennenlernen dürften. Mit dem Buch "Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden" als Leitlinie wird das nicht gelingen. Das finde ich so schlimm an Winterhoff.

© Snowqueen 


 

 

Literatur