Frau Kast auf den Zahn gefühlt - das "ELTERN"-Interview reloaded


Ich hatte schon in meiner letzten Besprechung des Eltern-Interviews mit Annette Kast-Zahn angedeutet, dass einige ihrer Aussagen mich an Erziehungsbücher älterer Generation erinnern. Das ist auch kein Wunder, denn der Mensch (und somit auch Frau Kast-Zahn) tendiert dazu, unbewusst selbst erfahrene Bindungsmuster und Erziehungsweisheiten zu übernehmen und seine eigenen Kinder danach zu erziehen. Sie werden - oft unreflektiert - von Generation zu Generation weitergegeben und sind Teil unseres kollektiven Bewusstseins. Alice Miller konstatiert dazu: "Da die Erziehung bei manchen Völkern schon im Säuglingsalter, in der Phase der symbiotischen Verbindung von Mutter und Kind begann, garantierte diese frühe Konditionierung, dass der wahre Sachverhalt vom Kind kaum entdeckt werden konnte. Die Abhängigkeit des Kindes von der Liebe seiner Eltern macht es ihm auch später unmöglich, die Traumatisierungen zu erkennen, die oft das ganze Leben lang hinter den Idealisierungen der Eltern der ersten Jahre verborgen blieb." (Miller, A., Am Anfang war Erziehung, 1983, S. 18)

Uns ist also oft nicht bewusst, dass wir mit unseren Kindern so umgehen, wie wir es selbst als Kind erlebt haben. Gleichzeitig ist uns nicht bewusst, dass wir möglicherweise seelischen oder körperlichen Grausamkeiten ausgesetzt waren, wenn diese innerhalb der ersten zwei Lebensjahre geschahen. Wir wundern uns nur, wenn das Schreien oder Trotzen unserer Kinder uns mal wieder so auf die Palme bringt, dass wir selbst vor Wut nicht mehr wissen, wohin mit uns. Wenn wir das Neugeborene, das noch nicht die Nacht vom Tag unterscheiden kann, am liebsten schütteln möchten, weil es nicht aufhört zu weinen und wir doch aber dringend schlafen wollen. Wenn wir wutentbrannt das zweijährige Kind ins Kinderzimmer zerren, weil es gerade seinen kleinen Bruder gebissen hat, der ihm das geliebte Spielzeug weggenommen hatte.... Wir werden in solchen Momenten "getriggert" und durchleben Wut und Angst aus eigenen Kindertagen - und wissen das jedoch oft nicht.



So werden also Erziehungsideale und -weisheiten bewusst und unbewusst von Großmutter zur Mutter zum Enkelkind weitergetragen, wenn niemand aktiv dagegen ankämpft, aus diesem Kreis auszubrechen. Dann finden wir es weiterhin normal, wenn uns erklärt wird, ein Kind müsse lernen, allein einzuschlafen, es müsse "Weil ich es gesagt habe!" als triftigen Grund anerkennen, das zu tun, was der Erwachsene von ihm möchte und es müsse lernen, seine Wut schon im Kleinkindalter zu kontrollieren - und erziehen unsere Kinder nach genau diesen Idealen.

Nun hat mich also interessiert, an wen mich die Aussagen Annette Kast-Zahns aus dem Eltern-Interview erinnern und ich begann zu recherchieren. Gelandet bin ich im 19. Jahrhundert - bei den Vertretern der "Schwarzen Pädagogik", welche von dem Menschenbild des "von Natur aus bösen Kindes" ausgingen, dem die "Schlechtigkeit" ausgetrieben werden musste mithilfe von Manipulation, Erpressung und (körperlicher) Machtausübung.

Selbstverständlich möchte ich an dieser Stelle nicht sagen, dass ich Frau Kast-Zahn zu den Vertretern der Schwarzen Pädagogik zähle. Wie ihr gleich selbst lesen könnt, sind ihre Aussagen und ihr Vorgehen weitaus seichter, ja im Vergleich geradezu freundlich, dem Kind gegenüber. Was ich lediglich aufzeigen möchte, ist, dass ihre Art von Schlafen-Lernen und ihre Sicht auf die Bedürfnisse eines Babys, die immer wieder im Interview anklingt, durchaus als ein (über die Jahre verweichlichter) Nachfolger der Ansichten und Methoden der Schwarzen Pädagogik gesehen werden könnten.

Es geht mir nicht darum, Frau Kast-Zahn zu diskreditieren oder sie in eine Schublade zu pressen, in die sie nicht gehört. Ich vergleiche ihre Methode, Kindern das Schlafen "beizubringen" ausdrücklich nicht mit den Schlägen und Demütigungen, die die Eltern des 19. Jahrhunderts angewandt haben. Ich möchte lediglich aufzeigen, dass mich ihre Aussagen im Elterninterview an eine Sicht auf die Bedürfnisse von Kindern erinnern, die nicht meine ist. Es sind meine persönlichen Assoziationen - nicht mehr und nicht weniger.

Ich möchte dafür exemplarisch einige Fragen und Antworten aus dem Eltern-Interview herausnehmen und im Anschluss an Frau Kast-Zahn die Vertreter der Schwarzen Pädagogik zu Wort kommen lassen. Es versteht sich von selbst, dass die Aussagen des 19. Jahrhunderts nicht 100% zu den Fragen des Elterninterviews passen. Ich finde aber durchaus, dass man inhaltlich eine Übereinstimmung erkennen kann. Ob dabei dem Leser ebenfalls ein Zusammenhang auffällt, muss jeder selbst entscheiden.
 
 

Das Eltern-Interview reloaded



Eltern: Babys haben aber kein Zeitgefühl: Für sie macht es keinen Unterschied, ob sie drei oder zehn Minuten allein weinen.

"[...] Für einen kurzen Zeitraum allein gelassen zu werden, schadet Babys nicht. Es gibt auch keine Studie, die einen negativen Effekt von Schlaftrainings auf die Entwicklung kleiner Kinder nachweisen würde." (Kast-Zahn, A., Eltern-Zeitschrift 02/14, 2014, S. 36)


Frau Kast Zahn ist sich also sicher, dass das kontrollierte Schreienlassen Säuglingen nicht schadet, sie zieht dafür im Interview auch immer wieder eine bestimmte Studie heran, die das (angeblich) beweist. Zur Validität dieser Studie hat sich übrigens Herbert Renz-Polster in seinem Blog ausführlich ausgelassen - ein sehr spannender Exkurs zu "Babyschlaf und Ferbern", der sich zu lesen lohnt. Auch die Vertreter der Schwarzen Pädagogik waren sich sicher, dass ihre Art der Erziehung nicht schadet, solange sie in den allerersten Lebensjahren geschieht. Ganz richtig bemerken sie, dass das Kind alle Demütigungen wieder vergisst, ihre Schlussfolgerung, dass sie deshalb nicht schaden, halte ich jedoch für grundlegend falsch, denn das Unterbewusstsein vergisst eben nicht: 
 
"[...] Diese ersten Jahre haben unter anderen auch den Vorteil, dass man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen benehmen, so erinnern sie sich hernach niemals mehr, dass sie einen Willen gehabt haben und die Schärfe, die man wird brauchen müssen, hat auch eben deswegen keine schlimmen Folgen. Man muss also gleich anfangs, sobald die Kinder etwas merken können, ihnen sowohl durch Worte als durch die Tat zeigen, dass sie sich dem Willen der Eltern unterwerfen müssen." (Aus: J. Sulzer, Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder, 1748, Zit. nach Katharina Rutschky [Hersg.), Schwarze Pädagogik, S. 173ff)

Eltern: Aber hat Ihnen beim Schlaftraining mit ihrer Tochter Andrea nicht das Herz geblutet?

"Natürlich tat es weh, vor der Tür zu stehen und Andrea drinnen weinen zu hören. Aber ich wusste auch, dass ich das Richtige tue."  (Kast-Zahn, A., Eltern-Zeitschrift 02/14, 2014, S. 36)

Die sicherlich ernst gemeinte Aussage von Annette Kast-Zahn, dass sie gegen ihr Bauchgefühl gehandelt habe, weil sie wusste, dass das für ihre Tochter das Beste gewesen sei, findet man auch eins-zu-eins in den Schriften des 19. Jahrhunderts wieder:

"Man bedenke, dass man dadurch dem Kinde selbst die größte Wohltat erzeigt, indem man ihm viele seinem Gedeihen hinderliche Stunden der Unruhe erspart und es von allen jenen inneren Quälgeistern befreit [...]" (Aus: Schreber, M., Kallipädie, 1858, Zit. nach Schatzmann,  Die Angst vor dem Vater, 1978, S. 32 f.) 

Eltern: Man könnte auch sagen: Sie hatte aufgegeben.

"[...] Einem Baby das zu geben, was es braucht, heißt schließlich nicht, ihm immer zu geben, was es will. [...] Ginge es dem Baby nur um Nähe, würde es nicht weinen, wenn die Mutter direkt neben seinem Bettchen steht. Das tut es aber - weil es nicht kriegt, was es in dem Moment will."  (Kast-Zahn, A., Eltern-Zeitschrift 02/14, 2014, S. 36)

Diese Aussage erschüttert mich bei jedem Lesen aufs Neue. Frau Kast-Zahn meint, ein sechs Monate altes Baby schreie tatsächlich aus Wut darüber, dass es nicht bekommt, was es will. Ich kann mit dieser Aussage mitgehen, wenn sie 2- oder 3-Jährige betrifft, aber ein Baby? Es hat doch noch gar kein Bewusstsein dafür, dass es ein eigenständiges Wesen mit eigenem Willen ist! Aber auch die Vertreter der Schwarzen Pädagogik bescheinigen dem Baby, dass es aus einer Laune heraus schreit, oder um seinen "Eigensinn" durchzusetzen. Dem sollten die Eltern im 19. Jahrhundert schnellstmöglich einen Riegel vorschieben:

"Als die ersten Proben, an denen sich die geistig-erzieherischen Grundsätze bewähren sollen, sind die durch grundloses Schreien und Weinen sich kundgebenden Launen der Kleinen zu betrachten. [...] Hat man sich überzeugt, dass kein richtiges Bedürfnis, kein lästiger oder schmerzhafter Zustand, kein Kranksein vorhanden ist, so kann man sicher sein, dass das Schreien eben nur der Ausdruck einer Laune, einer Grille, das erste Auftauchen des Eigensinns ist. Man darf sich jetzt nicht mehr wie anfangs ausschließlich abwartend verhalten, sondern muss schon in etwas positiverer Weise entgegentreten: durch schnelle Ablenkung der Aufmerksamkeit, ernste Worte, drohende Gebärden, Klopfen ans Bett [...], oder wenn dies alles nicht hilft - durch natürlich entsprechend milde, aber in kleinen Pausen bis zur Beruhigung oder zum Einschlafen des Kindes beharrlich wiederholte körperlich fühlbare Ermahnungen." (Aus: Schreber, M., Kallipädie, 1858, Zit. nach Schatzmann, Die Angst vor dem Vater, 1978, S. 32 f.)

Eltern: Aber warum muss es gleich so ein hartes Training sein? Ein Baby kann doch auch lernen, etwa ohne die Brust einzuschlafen, während Mama neben ihm liegt und es streichelt? 

"[...] was meinen Sie, wie viele Eltern das Gebrüll ihres Kindes regelrecht aggressiv macht? Für diese Eltern sind Schlaflernprogramme ein Segen, denn sie wirken schnell, und sie wirken effektiv."  (Kast-Zahn, A., Eltern-Zeitschrift 02/14, 2014, S. 36)

Warum das "Gebrüll" eines Kindes viele Eltern regelrecht aggressiv macht, darauf gehe ich am Ende dieses Artikels noch einmal gesondert ein. An dieser Stelle möchte ich aufzeigen, dass nicht nur Frau Kast-Zahn ihre Methode für schnell und effektiv hält, nein, auch die Erzieher der Schwarzen Pädagogik brüsteten sich mit diesem Fakt. Und sie haben natürlich Recht: Alle Methoden, die bedürfnis- und bindungsorientiert ablaufen, brauchen ihre Zeit, um zu wirken - deshalb ist es weitaus schwieriger, diesen Weg zu gehen.
 
"Eine solche Prozedur ist nur ein- oder höchstens zweimal nötig, und - man ist Herr des Kindes für immer. Von nun an genügt ein Blick, ein Wort, eine einzig drohende Gebärde, um das Kind zu regieren." (Aus: Schreber, M., Kallipädie, 1858, Zit. nach Schatzmann, Die Angst vor dem Vater, 1978, S. 32 f.)

Eltern: Dennoch wissen wir aus der Hirnforschung, dass während lang anhaltender Schreiphasen der Spiegel des Stresshormons Cortisol im Gehirn ansteigt und dass eine Überdosis dieses Hormons die empfindlichen Strukturen kleiner Kinder schädigen kann. Bedenklich wird der Stresshormonspiegel [...], wenn das Baby über einen längeren Zeitraum allein weint.

"Würde das stimmen, müssten wir uns um die heute 50- und 60- Jährigen große Sorgen machen. Man hat uns als Babys schließlich fast alle schreien lassen. [..] Umgekehrt müsste es dieser These zufolge heute so viele psychisch stabile Kinder geben wie noch nie, schließlich ist das Schreienlassen, wie es noch vor 50 Jahren betrieben wurde, heute gesellschaftlich verpönt. Tatsächlich erlebe ich heute in meiner Praxis immer häufiger Kinder, die überhaupt nicht damit umgehen können, wenn es mal nicht nach ihrem Kopf geht - weil sie das nie gelernt haben." (Kast-Zahn, A., Eltern-Zeitschrift 02/14, 2014, S. 37)

Hier muss ich ein wenig ausholen, weil der Zusammenhang zwischen den Zeilen von Frau Kast-Zahns Aussage steckt. Im Prinzip sagt sie, dass die heutige Generation von Kindern deshalb so auffällig in Kindergarten und Schule agieren, weil sie nie gelernt haben, sich ihren Eltern unterzuordnen bzw. es immer "nach ihrem Kopf" ging. Frau Kast-Zahn verbindet diese in Teilen richtige Aussage gewagter Weise mit dem Nicht-Schreienlassen in der Babyzeit, aber darauf will ich diesmal gar nicht hinaus. Mein Punkt ist, dass zwischen ihren Zeilen mitschwingt, dass die Eltern schon im Babyalter beginnen sollten, ihr Kind dahingehend zu erziehen, dass sie die elterliche Autorität anerkennen lernen und eben nicht dadurch zu "verwöhnen", dass man seine Signale und Bedürfnisse prompt beantwortet - sonst, so lese ich es jedenfalls heraus, drohen psychisch instabile Persönlichkeiten.
 
Auch den Pädagogen des 19. Jahrhunderts war dieser Punkt sehr wichtig. Die "Vertreibung des Eigensinns" solle die Hauptarbeit der Eltern darstellen, die einen "genauen Gehorsam allen Vorgesetzten und eine kindliche Zufriedenheit" und gleichzeitig das Heranwachsen "rechtschaffender und tugendhafter Menschen" nach sich ziehen würde:
 
"Ich rate also allen, die Kinder zu erziehen haben, dass sie die Vertreibung des Eigensinns und der Bosheit gleich ihre Hauptarbeit sein lassen und so lange daran arbeiten, bis sie zum Ziel gekommen sind. Man kann, wie ich oben bemerkt habe, unmündigen Kindern nicht mit Gründen beikommen; also muss der Eigensinn auf eine mechanische Weise vertrieben werden, und hierfür gibt es kein anderes Mittel, als dass man den Kindern den Ernst zeigt. Gibt man ihrem Eigensinn einmal nach, so ist er das zweite Mal schon stärker und schwerer zu vertreiben. Haben die Kinder einmal erfahren, dass sie durch Erbosen und Schreien ihren Willen durchsetzen, so werden sie nicht ermangeln, dieselben Mittel wieder anzuwenden. Endlich werden sie zu Meistern ihrer Eltern und Aufseher [...]. Unsere Hauptabsicht ist immer, die Kinder zu rechtschaffenden, tugendhaften Menschen zu machen, und an diese Hauptabsicht sollen die Eltern allemal denken, so oft sie ihre Eltern ansehen, damit sie keinen Anlass versäumen, an ihnen zu arbeiten."  (Aus: J. Sulzer, Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder, 1748, Zit. nach Katharina Rutschky [Hersg.), Schwarze Pädagogik, S. 173ff)
"Das zweite Hauptstück, worauf man sich bei der Erziehung gleich anfangs im zweiten und dritten Jahr befleißigen muss, ist ein genauer Gehorsam gegen Eltern und Vorgesetzte und eine kindliche Zufriedenheit mit allem, was sie tun. [...] Für die Erziehung sind [diese Eigenschaften] notwendig, weil sie dem Gemüt überhaupt Ordnung und Unterwürfigkeit gegen die Gesetze geben. Ein Kind, das gewohnt ist, seinen Eltern zu gehorchen, wird auch, wenn es frei und sein eigener Herr wird, sich den Gesetzen und Regeln der Vernunft gern unterwerfen, weil es einmal schon gewöhnt ist, nicht nach seinem Willen zu handeln. Dieser Gehorsam ist so wichtig, dass eigentlich die ganze Erziehung nichts anderes ist, als die Erlernung des Gehorsams." (Aus: J. Sulzer, Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder, 1748, Zit. nach Katharina Rutschky (Hersg.), Schwarze Pädagogik, S. 173ff)

Wie durchbrechen wir den Teufelskreis? 

 

Zum Abschluss möchte ich noch einmal genauer auf die obige Aussage von Frau Kast-Zahn, dass Schlaflern-Programme wichtig für Eltern sind, die das Weinen ihres Kindes regelrecht aggressiv machen, eingehen. Ich finde sie nämlich äußerst problematisch.

Denn natürlich werden diese Eltern deshalb so aggressiv, weil sie das Geschrei unbewusst triggert, d. h. an eigene Situationen aus der Kindheit erinnert, in denen sie ungetröstet weinen mussten und in denen das Notfallprogramm ihres Gehirns zum Tragen kam. In einem solchen Moment werden alle negativen Gefühle gleichsam abgespalten und so gut verdrängt, dass sie nicht mehr erinnert werden. Erst, wenn die Eltern in eine ähnliche Situation mit ihrem Kind kommen, überschwemmen die alten Gefühle den Erwachsenen und können große Wut, Scham oder Hilflosigkeit auslösen. Sie reagieren dann unverhältnismäßig heftig und für Außenstehende oft seltsam auf ihr Kind (vgl. Brisch, 2010, S. 37). 

Bevor sie dann ihrem Kind wirklich etwas antun, mag es sinnvoll sein, das eigene Kind durch ein Schlaflernprogramm so zu trainieren, dass es diese Gefühle bei den Eltern nicht mehr auslöst. Dann muss man sich dessen aber auch sehr bewusst sein, dass man so eine neue Generation an späteren Eltern heranzieht, die dann wiederum beim Schreien ihres Kindes (also dann unserer Enkelkinder) getriggert werden und keine andere Alternative sehen, als auch bei ihnen ein Schlaflernprogramm anzuwenden. So entsteht ein Teufelskreis, der zu durchbrechen unglaublich schwer ist. Wichtig ist, dass sich alle Eltern der Mechanismen bewusst werden. Wichtig ist auch, dass sie versuchen, ihre eigenen Kindheit (vielleicht mit professioneller Hilfe) aufzuarbeiten. Dann können sie es schaffen, sich dagegen zu stellen und zu sagen: "Mit meinem Kind nicht!"

Besser als die großartige Alice Miller, die sich in ihrem Buch "Am Anfang war Erziehung" sehr intensiv mit dem Thema "Schwarze Pädagogik" auseinander gesetzt hat, kann ich es nicht ausdrücken:

"Die Wahrheit [...] ist traurig und bedrückend, aber bringt mit sich die Chance einer Wende: Wer dieses Buch liest und sehen kann, dass die hier beschriebenen Kinder später selbst Erwachsene waren, der wird sich auch über die schlimmsten Gräueltaten unserer Geschichte nicht mehr wundern. Er wird die Stellen entdecken, an denen Grausamkeit gesät wurde und dank dieser Entdeckung Hoffnung schöpfen, dass die Menschheit diesen Grausamkeiten nicht für immer ausgeliefert bleiben muss, weil wir durch das Aufdecken der unbewussten Spielregeln der Macht und Methoden ihrer Legitimierung tatsächlich in der Lage sind, grundsätzlich etwas zu verändern."  (Miller, A., Am Anfang war Erziehung, 1983, S. 80f)

© Snowqueen

 

Literatur



Brisch, K.-H., SAFE - Sichere Ausbildung für Eltern, 2010

Eltern Magazin 02/2014, In den Schlaf gewiegt zu werden ist Gewohnheit, S. 34 - 37

Miller, A.: Am Anfang war Erziehung, 1983

Rutschky, K. (Hrsg.): Schwarze Pädagogik, 1977

Schatzmann, M.: Die Angst vor dem Vater, 1978

"In den Schlaf gewiegt zu werden ist Gewohnheit" sagt Annette Kast-Zahn - eine kritische Auseinandersetzung mit dem Interview in der Zeitschrift Eltern


Meine Kinder sind eigentlich dem "Eltern"-Alter entwachsen, trotzdem kaufe ich mir die Zeitschrift gern ab und zu, wenn ich längere Bahnfahrten vor mir habe. Bei der aktuellen Ausgabe 2/2014 vom 15.01.2014 bin ich allerdings fast vom Sitz gefallen, als ich las, dass Annette Kast-Zahn, die Autorin des umstrittenen Buches "Jedes Kind kann Schlafen lernen" zum Interview geladen worden war. Und auch nach dem Lesen ging es mir nicht viel besser.

Das Interview wurde von Nora Imlau geführt, die einigen vielleicht durch ihre Bücher "Das Geheimnis zufriedener Babys" und "Crashkurs Baby" bekannt ist. Es ist erkennbar, dass sich Frau Imlau gut auf das Gespräch vorbereitet hat und es scheint mir, als wäre ihre Intention eigentlich auch gewesen, Frau Kast-Zahn möglichst kritisch zu befragen. Leider traf sie meines Erachtens nach auf eine Frau, die eine Nummer zu groß für sie ist. Zumindest wirkt Frau Kast-Zahn weitaus routinierter und entspannter und schafft es mühelos, das Interview so zu drehen, dass sie am Ende trotz kritischer Nachfragen scheinbar als Siegerin hervorgeht.

Was nämlich hängen bleibt, sind Schlagworte, die Frau Kast-Zahn immer wieder einwebt, und welche am Ende im Gehirn des Lesers kleben wie Honig am Frühstücksmesser. Selbst ich, die ich den Text mit kritischem Auge und mit einer Menge Hintergrundwissen gelesen habe, hatte am Ende im Hinterkopf: "Schlaflernprogramme sind erwiesenermaßen nicht schädlich, dafür wirken sie schnell und effizient. Autsch!
 


Ich mag es nicht glauben, aber vor diesem Hintergrund stellt sich mir die Frage, ob die Elternzeitschrift wirklich und wahrhaftig ein kritisches Interview führen wollte oder ob es nicht vielleicht eine großangelegte Imagekampagne des GU-Verlages in einer der meistgelesenen Elternzeitschriften dieses Landes ist, welche nur so tut, als ob sie kritisch wäre, in Wirklichkeit jedoch Werbung für das im Moment ja eher verpönte Buch machen sollte. Ich bin kein Fan von Verschwörungstheorien - aber da Frau Kast-Zahn im Interview auch noch das letzte Wort behalten darf und die Gegendarstellung der Elternredaktion reichlich schwach wirkt, drängt sich mir dieser Gedanke irgendwie auf.

Doch kommen wir zum Inhalt des Interviews. Nach einem längeren Einführungsgeplänkel holt Frau Kast-Zahn sofort die "Dein-Kind-ist-nicht-normal,-wenn..."-Keule heraus, die wir Eltern alle so fürchten. Sie sagt:
 
"Wenn ein Baby auch im zweiten Lebenshalbjahr noch mindestens zweimal pro Nacht wach wird und irgendwas von den Eltern braucht, hat es nach Definition der Schlafforschung eine Schlafstörung."

Das klingt natürlich erst einmal alarmierend. Wirklich? - Wenn ein Kind mit 6 Monaten noch zweimal pro Nacht gestillt werden will oder nach den Eltern ruft, weil der Nuckel herausgefallen ist, gilt es "per Definition" als gestört? Dann sind wirklich beinahe alle Babys in meinem Freundes- und Bekanntenkreis schlafgestört. Nur zwei Mal gerufen zu werden, gilt bei uns eher als Luxusnacht ;-).

Wenn man einmal einen genaueren Blick auf "die Schlafforschung" wirft, dann stößt man auf interessante Zahlen. Die Zürcher Longitudinalstudien zeigen, dass 40 bis 60% aller Kinder im Alter zwischen einem und sechs Jahren nachts aufwachen. Pi mal Daumen wachen also die Hälfte aller Kinder regelmäßig auf, die andere Hälfte nicht. Welche Hälfte ist nun gestörter - oder vielleicht keine von beiden?

Nahaufnahme Auge eines Kindes
 
Warum wachen Kinder eigentlich  überhaupt so häufig auf? Der leichte, oft unterbrochene Schlaf ist eine Schutzfunktion der Natur. Zum einen gibt es die Theorie, dass der plötzliche Kindstod durch zu einen zu tiefen Schlaf begünstigt wird - Kinder vergessen möglicherweise einfach, weiter zu atmen. Durch Stillen wird ein häufigeres Aufwachen begünstigt, welches wiederum regulierend auf die Atmung wirkt. Ab dem 6. Monat verändert sich das Schlafverhalten der Kinder hin zu einem tieferen Schlaf inklusive längerer Schlafphasen. Im Prinzip wäre es ab diesem Zeitpunkt eher wichtiger, dass sie zum Stillen aufwachen - stattdessen wird propagiert, dass sie in diesem Alter gar keine Milch mehr brauchen, um so das Durchschlafen zu forcieren.

Zum anderen überprüft das Kind in regelmäßigen Abständen, ob seine Bezugspersonen noch anwesend sind oder ob es etwa schutzlos ausgeliefert allein irgendwo herum liegt. Diese Gefahr bestand die meiste Zeit in der Geschichte des Menschen tatsächlich. Tausende Jahre zogen sie als Nomaden durch die Welt. Babys überlebten nur, wenn sie dauerhaft sicher stellten, in der elterlichen Gesellschaft zu sein. Deswegen lassen sich Babys auch nur sehr ungern ablegen und bevorzugen es, ständig umher getragen zu werden. Der leichte Schlaf sorgt dafür, dass in kurzen Abständen geprüft werden kann, ob sich das Baby noch in Sicherheit befindet. Ist kein Erwachsener in der Nähe, ist es überlebenswichtig und evolutionär sinnvoll, sofort Alarm zu schlagen und erst wieder Ruhe zu geben, wenn man sich des Schutzes der Erwachsenen versichert hat. Unsere Kinder wissen nicht, dass sie in sicheren Kinderzimmern liegen - das ist auch erst seit ein paar Jahrhunderten so. Unsere Kinder haben noch immer die Überlebensinstinkte von vor Tausenden von Jahren - sie suchen also immer und immer wieder Nähe und Sicherheit. Wann dieses  Rückversicherungsbedürfnis verschwindet, ist von Kind zu Kind individuell, in aller Regel passiert es in den ersten drei Lebensjahren. Aus eigener Erfahrung können wir bestätigen, dass Kinder auch ohne Druck oder Beeinflussung irgendwann nicht mehr nach den Eltern rufen werden. Wäre das Aufwachen und Rufen eine "schlechte Angewohnheit", würde sie jedoch nicht ohne aktives Zutun verschwinden.

"Schlafgestört" sind also eigentlich eher die Eltern, die vermeintlich das Durchschlafen brauchen, um sich gut erholt zu fühlen. An diese richtet sich Frau Kast-Zahn auch vornehmlich. Nicht das Wohlergehen des Kindes steht im Mittelpunkt, sondern das der Eltern.  Frau Kast-Zahn betont noch einmal, dass aus wissenschaftlicher Sicht so ein Schlafmuster des Kindes unnormal  ist und trifft damit sicherlich den Angst-Nerv vieler Eltern. Denn was nach wie vor eine große Rolle spielt, ist der gesellschaftliche Druck. Dass ein Kind "gut" (nach wessen Definition auch immer) schläft, wird als elterliche Leistung betrachtet. Wessen Kind schlecht schläft, der hat vermeintlich versagt. Häufig stört Eltern gar nicht so sehr, dass ihr Kind oft aufwacht oder "noch" im Elternbett schlafen will, sondern dass ihr Kind nach der landläufigen Meinung nicht "normal" ist. Interessanterweise wird in anderen Ländern kindliches Schlafverhalten, das hierzulande als Schlafstörung betrachtet wird, als vollkommen normal angesehen.

Was mich am allermeisten an den Gedanken von Frau Kast-Zahn stört, ist das Bild des Babys, das sie bewusst und unbewusst zeichnet. Das Ferbern war ursprünglich dazu gedacht, Eltern im absoluten Notfall, also am Ende aller Kräfte und bevor dem Kind Gewalt angetan wird, eine Notlösung anzubieten. Frau Kast-Zahn vermarktet ihr Buch jedoch als Handlungsvorschlag für jedes Kind. Sie scheint davon auszugehen, dass Babys grundsätzlich irgendwie fehlerhafte Verhaltensweisen an den Tag legen, die von uns Eltern aktiv reguliert werden müssen. Mich irritiert dieser Gedanke, denn er unterstellt, dass durch das Erfüllen der grundlegenden Bedürfnisse Babys derart verwöhnt werden könnten, dass sie sich erdreisten, von den Eltern nicht erwünschte oder erwartete Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die ihnen dringend  ausgetrieben werden sollten. Mein Weltbild sieht Babys viel eher als von der Natur perfekt mit Mechanismen, Reflexen und Instinkten ausgestattete Wesen, die man liebe- und respektvoll behandeln sollte. Und einem schreienden Kind den Rücken zuzuwenden ist keins von beiden. Es gibt so viele sanfte Wege, das Schlafverhalten zu beeinflussen - der einfachste ist häufig die Erhöhung der eigenen Gelassenheit.

Doch zurück zum Interview. Nachdem die Interviewerin Frau Imlau sich vergeblich bemüht, Frau Kast-Zahn näher zu bringen, dass andere Experten meinen, Babys seien nicht dazu gemacht, ohne Hilfe einzuschlafen und sie dann das übliche Argument bringt, dass es für so kleine Kinder keinen Unterschied macht, ob sie drei oder zehn Minuten allein schreien, da sie kein Zeitgefühl haben und ihnen jeglicher Zeitabschnitt qualvoll lang erscheinen muss, entgegnet Frau Kast-Zahn:

"[...] ich bin überzeugt: Für einen kurzen Zeitraum allein gelassen zu werden, schadet Babys nicht. Es gibt auch keine Studie, die einen negativen Effekt von Schlaftrainings auf die Entwicklung kleiner Kinder nachweisen würde."
 
Da hat sie jedoch Unrecht - diese Studie belegt, dass der Stresslevel von Kindern erhöht ist, auch wenn sie das Schreien eingestellt haben. In Neuseeland wurde bei 25 Babys ein fünftägiges Schlaflernprogramm durchgeführt. Am ersten und dritten Tag wurde jeweils der Cortisollevel bei Mutter und Kind gemessen. Am ersten Tag (die Babys weinten sich in den Schlaf) war der Level bei Mutter und Kind gleichermassen erhöht. Am dritten Tag (die Babys weinten nicht mehr, zeigten also keine für die Mutter sichtbaren Zeichen von Stress) war der Cortisollevel der Mutter gesunken, nicht aber der der Babys. Obwohl sie nicht mehr weinten beim Einschlafen, war ihr Stress gleich hoch wie am ersten Tag. 

Was es nicht gibt, sind Studien, die psychische Störungen im Kindes- und Erwachsenenalter wissenschaftlich korrekt auf angewandte Schlaftrainings zurückführen könnte. Es ist aber auch schlicht unmöglich, im Nachhinein erwachsene Menschen zu untersuchen, die als Kinder einem Schlaftraining unterzogen wurden und daraus wissenschaftliche Ableitungen bezüglich ihrer psychischen Störungen zu machen. Nicht nur, dass einige Menschen so etwas einfach besser wegstecken, als andere, weil sie eine größere Resillienz gegenüber Stress haben, es ist auch Psychologen einfach unmöglich, monokausale Zusammenhänge herzustellen. Wäre das möglich, also könnte man beispielsweise beweisen, dass jemand eine Depression entwickelt, wenn seine Mutter ihn im Babyalter nicht in den Schlaf wiegt, könnten Störungen ja sehr einfach geheilt bzw. vermieden werden.

Menschen sind aber verzwickt komplexe Wesen und einer Vielzahl von äußeren Umständen im Laufe ihrer Kindheit ausgesetzt - kein Leben wird zweimal genauso gelebt, nicht einmal das von eineiigen Zwillingen. Es gibt jedoch tatsächlich eine US-amerikanische Studie, welche Kinder, die geferbert wurden mit solchen, die nicht geferbert wurden verglichen hat, mit dem Ergebnis, dass sich beide Gruppen weder im Bindungs- noch im Sozialverhalten, noch bei ihrem Stresslevel unterscheiden (zumindest im Kindesalter). Es ist also leicht für Frau Kast-Zahn, zu sagen, dass es keine Studien gibt, die beweisen, dass Schreienlassen schadet - es stimmt sogar. So kann sie sich getrost auf diesem Argument ausruhen und ihre Kritiker rudern lassen, um argumentativ herzuleiten, dass es eben doch schaden kann.

Auf die darauf folgende Frage der Eltern-Interviewerin, ob ihre Tochter Andrea als Baby, welche nach ein paar Tagen Schlaftraining zu schreien aufhörte,  nicht einfach "aufgegeben haben" könnte, antwortet Frau Kast-Zahn:

"Aber ich bitte Sie, das ist doch eine Frage des gesunden Menschenverstands: Was sollte sie aufgegeben haben? Sie hatte doch alles, was sie brauchte: genug Nahrung, genug Nähe, genug Schlaf. Einem Baby das zu geben, was es braucht, heißt schließlich nicht immer, ihm das zu geben, was es will."

Und bei dieser Argumentation sind wir direkt bei den Erziehungsidealen unserer Großeltern und Eltern gelandet. Wer genauer wissen möchte, was damals über die Bedürfnisse von Babys (insbesondere beim Schlafen) propagiert wurde, dem sei die Lektüre des Buches "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" empfohlen. Alternativ könnt ihr euch auch den Artikel über die Erziehung unserer Großeltern und Eltern  von uns dazu durchlesen. Zu Zeiten des Nazi-Deutschlands - und leider auch noch in den Generationen danach - ging man schlicht und ergreifend davon aus, dass Kinder nichts weiter brauchen, als Essen, Schlaf und saubere Windeln. Waren diese Bedingungen erfüllt, dann war das Schreien des Kindes nicht gerechtfertigt, sondern seinem manipulativen Charakter geschuldet und durfte unter keinen Umständen beachtet werden, um sich ja nicht einen kleinen Haustyrannen heranzuziehen.
 
Lese ich diese Aussage von Frau Kast-Zahn, fühle ich mich unweigerlich an Johanna Haarers Propaganda erinnert: "Einem Baby das zu geben, was es braucht, heißt schließlich nicht immer, ihm das zu geben, was es will." Dieser Satz geht von einem Menschenbild aus, bei dem das Kind von Natur aus habgierig ist und immer mehr verlangt, als es tatsächlich benötigt. Deshalb muss der Erwachsene dem schnellstmöglich einen Riegel vorschieben. Der Erwachsene entscheidet deshalb - zum Wohl des Kindes - wann und wie viel das Kind isst, wann und wie lange das Kind schläft und wieviel spielerische Stimulation es verträgt.

Dass das unsere Babys alles sehr gut selbst entscheiden können, dass sie mit einem natürlichen Gefühl dafür geboren werden, wann sie müde und satt sind, ist heutzutage hinlänglich bewiesen. Sie mögen unreif geboren werden und völlig abhängig von uns sein - doch ihre Instinkte, was das Essen und Schlafen angeht, sind so großartig in ihnen angelegt, dass jegliche Einmischung seitens der Erwachsenen nur stört und das Kind, im wahrsten Sinne des Wortes, verbiegt. Wenn man das "Erziehung" oder "Formung" nennen möchte, nur zu, aber nach dem neusten Wissensstand ist das eine völlig unnötige Einmischung in den Kompetenzbereich des Kindes.

Für ein größeres Kind im Alter der Autonomiephase mag es tatsächlich schädlich sein, ihm immer zu geben, was es möchte - dieses Kind kann komplex genug denken, um Schreien und Wüten zu seinem Vorteil einsetzen zu wollen. Einem Baby fehlen für ein solch manipulatives Verhalten schlicht und ergreifend die neuronalen Verbindungen im Gehirn - es kann Erwachsene noch nicht manipulieren wollen, sein Verstand ist noch nicht weit genug dafür entwickelt!

Im weiteren Verlauf des Interviews sagt Frau Kast-Zahn:
 
"Ein Baby mag es schön finden, jeden Abend in den Schlaf gestillt oder gewiegt zu werden - aber das ist doch kein Bedürfnis, sondern schlicht Gewohnheit!"

Ja, selbstverständlich sind das in den Schlaf Wiegen und das Saugen eine Gewohnheit! Aber doch eine, die das Baby bereits aus dem Mutterleib kennt? Natürlich beruhigt ein sanftes Wiegen das Kind besser, als alles andere auf der Welt, schließlich wurde es fast 10 Monate im Fruchtwasser hin- und hergewiegt und hat dieses Gefühl unbewusst im Gehirn abgespeichert als Etwas, das ihm Geborgenheit und Sicherheit vermittelt. Und auch das Saugen am Daumen und das Trinken des Fruchtwassers sind Dinge, die es, wenn man so will, von Beginn des Lebens an nutzt, um sich selbst zu beruhigen - natürlich greift es auch nach der Geburt am allerliebsten darauf zurück. Was maßen wir uns an, wenn wir entscheiden, dass dies keine elementaren Bedürfnisse sind, sondern  lästige Gewohnheiten, die es abzutrainieren gilt?
 
Es gibt sicherlich Einschlafrituale, die keine elementaren Bedürfnisse befriedigen und sich immer weiter zuspitzen, so dass ihre Beibehaltung irgendwann den Eltern nicht mehr möglich ist. Manche Babys pfrimeln gern an der freien Brustwarze, wenn sie stillen, andere kneifen zum Einschlafen ihren Eltern in die Hand, wieder andere drehen und ziehen an den Haaren der Mutter. Solche kleinen Rituale beginnen meist recht harmlos und nicht schmerzhaft, steigern sich aber mit der Zeit und werden für die Eltern unerträglich. Diese Art von Gewohnheit  kann und sollte dann tatsächlich (sanft) abgewöhnt werden. Dabei kann es durchaus auch zu Protestgeschrei kommen - doch sollten die Eltern das Kind in der Zeit nicht allein lassen.

Frau Imlau versucht weiterhin tapfer, Frau Kast-Zahn begreiflich zu machen, dass das Bedürfnis nach Nähe ein Grundbedürfnis ist, das man Kindern nicht abgewöhnen sollte. Frau Kast-Zahn bügelt aber auch diesen schüchternen Einwurf routiniert ab:

"Bei einem Schlaftraining geben Eltern ihrem Baby aber doch Nähe, indem sie immer wieder zu ihm hineingehen. Ich bin überzeugt: Dadurch ist sein Grundbedürfnis erfüllt. Außerdem: Ginge es dem Baby nur um Nähe, würde es nicht weinen, wenn die Mutter direkt neben seinem Bettchen steht. Das tut es aber - weil es nicht kriegt, was es in dem Moment will."

Es ist schön, dass sie davon überzeugt ist, dass mit dem Neben-dem-Bettchen-stehen der Eltern das Bedürfnis des Babys nach Nähe befriedigt wird - ich bin es nicht. Fängt ein Baby an zu weinen und die Eltern ignorieren (bewusst) diesen Hilferuf, wird es mit vermehrtem Weinen reagieren. Dieses endet normalerweise letztendlich in einem fast panischen Zustand, welcher das Regulationssystem des Säuglings überfordert - es kann sich nicht mehr allein beruhigen. Dadurch kommt es zu einer durch Stress ausgelösten Erregung des sympathischen Nervensystems, welches für Kampf und Flucht verantwortlich ist.

Leider hat ein Baby aufgrund seiner körperlichen Unreife noch keine Möglichkeit, aus der Situation zu flüchten, so dass das Gehirn in eine akute Krise gerät und ein Notfallprogramm einschaltet: Die Erregung im Nervensystem führt - wenn sie nicht durch die Hilfe der Bindungsperson durchbrochen wird (auf den Arm nehmen, beruhigen, an die Brust nehmen, schaukeln....) - zu einem Umschalten auf das parasympathische Nervensystem. Dieses verursacht (meist) eine schlaffe Erschöpfung des Kindes - es schläft ein (vgl. Brisch., 2010: 36f).  Beim langanhaltenden Alleine-Schreien schüttet das Gehirn außerdem Adrenalin und Cortisol aus und überflutet den Körper damit - diese Hormone können in größeren Mengen toxisch (=giftig) wirken und bestimmte Regionen im Gehirn dauerhaft schädigen. 

Papa kuschelt mit einem Baby
 
Erst das Beruhigen, das in den Arm Nehmen, das Streicheln und Trösten sorgen dafür, dass Oxytocin ausgeschüttet wird, welches den Körper beim Abbau der Stresshormone unterstützt. Wird das Kind also nicht mit ausgiebigem Körperkontakt (am besten sogar Hautkontakt) beruhigt, so ist der Cortisolspiegel oft und lange erhöht. Dies kann vielfältige und vor allem dauerhafte Auswirkungen haben - beispielsweise wird das Wachstum des Hippocampus stark eingeschränkt - er ist für die Angstregulation verantwortlich. Wer tiefergehend zu diesem Thema lesen möchte, kann das in den Artikeln zum Schreien lassen von Babys und zum Thema Bindung lesen.
 
Meines Erachtens - und die Bindungstheorie stärkt mir hier den Rücken - ist es eben nicht genug, neben dem Bettchen zu stehen und liebevoll auf das Kind einzureden. Auch Streicheln reicht ab einem bestimmten Erregungsgrad nicht mehr aus. Das Kind braucht den intensiven Körperkontakt, damit der Körper das wohltuende Oxytocin ausschüttet - das sind physiologisch nachgewiesene Fakten, die Frau Kast-Zahn wohlweißlich ignoriert.

Leider ist Frau Kast-Zahn durch die Erkenntnisse der Bindungstheorie und auch durch fundierte Argumentationen namhafter Experten nicht von ihrer Sicht abzubringen. Reichlich herablassend erklärt sie den Eltern-Lesern:
 
"Das ist doch aber nichts anderes als eine Behauptung, eine persönliche Meinung, eine Überzeugung! Seit Jahren bitte ich die Kritiker meines Buches, mir doch einmal wissenschaftliche Quellen für ihre Unterstellungen zukommen zu lassen. Und was schicken sie mir dann? Aufsätze aus der Bindungstheorie oder ein Interview mit einer Stillberaterin, die fürs Co-Sleeping plädiert. Das ist doch aber keine wissenschaftliche Quelle!"

An dieser Stelle des Interviews musste ich dann tatsächlich lachen - nichts weiter als eine persönliche Meinung, eine Überzeugung, so so. Sagt die Frau, die im Interview immer wieder ihre Argumente mit dem Satz "Ich bin überzeugt..." beginnt. Herrje, Frau Kast-Zahn.

Auf die Erkenntnisse der Hirnforschung, dass lang anhaltende Schreiphasen den Spiegel des Stresshormons Cortisol im Gehirn ansteigen lässt, angesprochen, antwortet sie:

"Aber ich bitte Sie: Kleine Kinder schreien nun mal. Alle Babys schreien, überall auf der Welt. Überlegen Sie sich mal, was die Mutter eines Schreibabys fühlt, die hört, dass bei jedem Weinen irgendwelche Gehirnzellen absterben!"

Von allen Aussagen des Interviews, die mich aufregen, ist diese hier diejenige, die mich am wütendsten macht, einfach deshalb, weil sie Eltern mit Schreikindern tatsächlich verunsichern kann. Meine Freundin S. hatte ein Schreibaby und stellte mir nun direkt nach dem Lesen des Interviews konsterniert die Frage: "Mein Kind hat nie allein und aus Absicht schreien müssen. Dennoch hat es stundenlang gebrüllt am Tag. Wenn also der Cortisolspiegel schädlich für ein Kind ist, habe ich ihm dann mit dem Nicht-Schreien-lassen nicht eher geschadet als geholfen? Wäre es vielleicht richtiger gewesen, es schreien zu lassen, um ihm diesen Stressfaktor auf lange Sicht zu nehmen?"

Nun bin ich keine Expertin für Bindung und Hirnstrukturen, deshalb werde ich versuchen, diese sehr kluge Frage noch einmal Karl-Heinz Brisch sowie Gerald Hüther zu stellen. Dennoch möchte ich hier auf diese Frage eingehen, bis ich die Antworten der beiden Experten erhalten habe. Sollte es Anmerkungen von Euch geben, könnt ihr diese gern in den Kommentaren schreiben.

Nach meinem Verständnis läuft der Prozess wie folgt ab: Babys können starken Stress noch nicht selbst regulieren (Selbstregulation), sondern bedürfen immer der Unterstützung ihrer Bindungspersonen (Fremdregulation). Sie fangen also wegen eines unangenehmen Reizes an, zu weinen und im Hirn wird das Stresshormon  Cortisol ausgeschüttet, welches das Gehirn auf lange Sicht schädigen kann. Nimmt die Mutter das Kind auf den Arm, redet beruhigend auf es ein, streichelt es etc. werden im Körper Prozesse ausgelöst, die das Gegenhormon Oxytocin (also das guten, hilfreiche Beruhigungshormon) ausschütten lassen. Im Normalfall beruhigt sich das Kind durch diese Fremdregulation - bei Schreikindern dauert es allerdings unendlich länger. Trotzdem werden auch beim Schreikind die "guten" Hormone ausgeschüttet. Gut und Böse halten sich in dem Moment, wenn man so will, die Balance. Das Gehirn wird nicht geschädigt, obwohl das Kind stundenlang schreit.
 
Hat sich das Kind mithilfe der Mutter irgendwann doch beruhigt, ist es einen Schritt weiter auf dem Weg zur Selbstregulation. Der Körper hat nämlich abgespeichert: "Es gibt Möglichkeiten, mit Stress fertig zu werden. Ich habe es schon einmal geschafft, ich werde es wieder schaffen." Beim Schreikind dauert der Weg zur Selbstregulation wiederum unendlich viel länger, als bei anderen Kindern, aber durch feinfühlige Bindungspersonen kommt es nichtsdestotrotz dort an.

Das Tragen und Aushalten des Schreiens seitens der Mutter oder des Vaters hat aber noch einen weiteren Vorteil: Mit jeder Situation, die Kind und Mutter/Vater gemeinsam gemeistert haben, wächst das Vertrauen des Kindes in sich selbst und in seine Eltern als sicherer Hafen. Da ist es erst einmal unerheblich, ob das Kind vor Erschöpfung eingeschlafen ist und deshalb das Weinen aufhörte, oder ob das Beruhigen im wachen Zustand funktionierte - wichtig ist, dass die Eltern Körperkontakt (am besten Hautkontakt) zum Kind hatten. Das Kind merkt "Ich bin nicht allein, mir wird geholfen, wenn es mir schlecht geht".

Hand eines Baby umschließt einen kleinen Finger

Fängt ein Baby nun wegen eines Stressreizes an zu weinen, welcher wiederum seine Selbstregulation überfordert und niemand kommt, um es auf den Arm zu nehmen, gerät das Gehirn in eine akute Krise und das schon oben erwähnte Notfallprogramm tritt in Kraft. Das Kind wird ruhig und schläft ein. Eine solche Lösung für eine stressvolle Situation ist zwar überlebenstechnisch wichtig, für eine gesunde emotionale Entwicklung jedoch problematisch, denn innerhalb dieses Notfallprogrammes wird das Gefühl der Angst vom Gehirn abgeschaltet. Noch viele Jahre später kann dies in Stresssituationen zu aufkeimender Panik oder Wut führen, welche nicht durch die äußeren Umstände zu erklären sind. Das Gehirn wird sozusagen durch kleinste Auslöser "erinnert" und reagiert unter Umständen über. Oft geschieht das zum Beispiel innerhalb der eigenen Mutter- oder Vaterrolle (mehr dazu im Artikel Wenn Eltern wütend werden) (vgl. Brisch, 2010: 37).

Der Cortisolspiegel im Inneren bleibt bei dieser Lösung des Stressproblems erhöht und baut sich nur langsam ab, da das Oxytocin eben nicht ausgeschüttet wird, und verändert, wenn das öfter vorkommt, auf krankhafte Weise den Körper (Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, psychosomatische Beschwerden). Der Körper lernt nach so einer Lektion leider nicht, dass er in der Lage ist, mit Stress adäquat umzugehen. Alles, was der Körper schafft, ist, das Notfallprogramm zu aktivieren und er wird vermutlich in anderen stressigen Situationen immer wieder darauf zurückgreifen (statt eben gesündere Selbstregulationsmethoden zu finden). Das Nervensystem wird nachhaltig beeinflusst - die Stressschaltkreise werden auf "überempfindlich" programmiert. In späteren Jahren reagiert das Gehirn dann auf Stresssituationen entweder mit einer Überproduktion an Hormonen (Depressionen, Angststörungen) oder mit einer Unterversorgung (Gefühlskälte, Aggression). 

Gleichzeitig registriert das Kind unbewusst, dass es keinen sicheren Hafen gibt. Es muss sich auf sich selbst verlassen und eigenständig lernen, mit Stress umzugehen. Ich denke, wir alle kennen die Bilder rumänischer Waisenkinder, die sich selbst in den Schlaf schaukeln und summen. Das wäre so eine Selbstregulation, die ja die Fremdregulation des Babyalters durchaus imitiert - leider ohne den wohltuenden Körperkontakt zu einem anderen Menschen. In der Fachsprache heißt dieses Schaukeln Jaktation - ich selbst habe das zum Einschlafen bis ins Schulalter gemacht.

Das bedeutet auch, dass in dem Moment, in dem die Eltern eines Kindes das Kind allein über längere Zeit weinen lassen (ich rede nicht vom Toilettengang oder von der Zwillingsproblematik!) die Bindung nicht gestärkt wird - Krisen werden nicht gemeinsam bewältigt. Ob das jetzt für das weitere Leben ein nachhaltiges Problem darstellt, darüber kann man streiten. Ich persönlich denke schon, da ich die Bindungstheorie schlüssig finde. Es gibt ja aber auch Kritiker derselben. 

Mein Fazit, liebe S., ist dieses: Ja, dein Kind hätte vermutlich weniger geschrien, hättest du es konsequent allein weinen lassen. Nein, es wäre nicht besser für es gewesen. Der Weg war für euch alle steiniger und länger und härter, aber dein Kind ist da gestärkt rausgegangen. Für euch Eltern war es die Hölle. Für euer Kind war es gut so.

Zurück zu dem Eltern-Interview mit Frau Kast-Zahn. Sie stellt abschließend sehr selbstbewusst eine zunächst schlüssig wirkende These auf, warum es nicht schädigend sein kann, wenn ein Baby über längere Zeit allein weint:
 
"Würde das stimmen, müssten wir uns um die heutigen 50- und 60-Jährigen große Sorgen machen. Man hat uns als Babys schließlich fast alle schreien lassen. Trotzdem scheinen wir eine ganz lebenstüchtige Generation geworden zu sein. Umgekehrt müsste es dieser These zufolge heute so viele psychisch stabile Kinder geben, wie noch nie, schließlich ist das Schreienlassen, wie es noch vor 50 Jahren betrieben wurde, heute gesellschaftlich verpönt. Tatsächlich erlebe ich heute in meiner Praxis immer häufiger Kinder, die überhaupt nicht damit umgehen können, wenn es mal nicht nach ihrem Kopf geht - weil sie das nie gelernt haben."

Das ist natürlich eine alarmierende Aussage, die sie da macht - trotzdem stimmt sie schlicht und ergreifend nicht, zumindest nicht in dem Sinne, dass sie hier zwei Fakten miteinander verquickt, die miteinander nichts zu tun haben. Zunächst einmal bezweifle ich, dass die heutige Generation der 50 und 60-Jährigen psychisch gesund aus ihrer Kindheit gekommen sind, doch mir fehlt die Zeit, das hier zu beweisen. Lassen wir diese Aussage also  so stehen. Schlimmer finde ich, dass Frau Kast-Zahn ein tatsächliches Phänomen unserer Zeit, nämlich, dass immer weniger Kinder aushalten können, wenn es nicht nach ihrem Kopf geht, direkt mit dem Nicht-Schreien-lassen verbindet.
 
Da ich tagtäglich mit verhaltensauffälligen Kindern arbeite, kann ich durchaus bestätigen, dass es immer mehr Kinder mit einer sehr fragilen Frustrationstoleranz gibt. Das jedoch mit der Anwendung von Schlaftrainings bzw. Nichtanwendung von Schlaftrainings zu erklären, halte ich für sehr gewagt. Ich muss ihr aber für den psychologisch sehr cleveren Schachzug gratulieren - Eltern, die sich vielleicht nicht ganz so intensiv mit der Materie auseinandersetzen, schenken dem möglicherweise sogar Glauben und schon ist ein neuer Mythos geboren.
 
Nein, die Frustrationstoleranz der heutigen Generation von Kindern (und ich schreibe bewusst nicht Babys, denn es ist hoffentlich jedem klar, dass es bei Babys immer um sofortige Bedürfnisbefriedigung gehen sollte) liegt meines Erachtens an der zunehmenden Verunsicherung der Eltern bei der Erziehung. Man möchte nicht mehr den autoritären Stil der eigenen Eltern übernehmen, ist sich aber gleichzeitig nicht sicher, wieviel Grenzen man einem Kind in welchem Alter zumuten kann. Ich sage nicht - bitte versteht mich an dieser Stelle nicht falsch - dass eine Erziehung mit wenigen Grenzen falsch ist. Ich praktiziere sie selbst.
 
Ich sehe jedoch in meiner Arbeit, dass es Tendenzen gibt, dass Eltern oft unbedacht "Nein" sagen oder eine Grenze setzen, dann aber nicht dem Ningeln, Nörgeln und dem Wutanfall des eigenen Nachwuchses gewachsen sind. So kommt es dazu, dass jene Eltern irgendwann eben doch nachgeben und das Kind sein Ziel mithilfe von Schreien erreicht - einfach, weil die Erwachsenen ihre Ruhe haben wollen. Das ist natürlich - wir sind uns doch einig? - schädlich. Es hilft keinem Kind, wenn es permanent alle noch so abstrusen Wünsche erfüllt bekommt, nur, weil die Eltern Angst vor einem öffentlichen Wutanfall haben, oder auch Angst, die kindliche Liebe zu verlieren.

Insofern hat Frau Kast-Zahn Recht: Ja, es gibt das Phänomen, dass die heutigen Kinder es immer weniger aushalten können, wenn ihre Wünsche nicht erfüllt werden. Doch an dieser Stelle kommt mein großes Aber: Das hat nichts, aber auch gar nichts mit dem Babyalter zu tun. Im Babyalter geht es vornehmlich darum, in der Welt anzukommen und die Sicherheit zu entwickeln, dass das Leben schön ist und man auch als hilfloses Wesen selbstwirksam ist. Wenn das Baby vor Hunger weint, müssen die Eltern das Signal erhören und es stillen. Weint es, weil es sich allein fühlt, müssen die Eltern ihm Nähe und Geborgenheit schenken. So einfach ist das. Erziehung beginnt erst nach dem ersten Jahr und auch dann nur Schritt für Schritt dem Entwicklungsalter des Kindes angepasst.
 
Frau Imlau unternimmt nach diesem Punkt noch einmal den Versuch, sich Frau Kast-Zahn entgegenzustellen und sagt: 
 
"Wir von der Eltern-Redaktion haben unsere Meinung zu Schlaflernprogrammen in den vergangenen Jahren geändert: Wir haben sie früher durchaus als Rettungsanker für übermüdete Eltern empfohlen, heute raten wir, einen Kompromiss zwischen den Schlafbedürfnissen aller Familienmitglieder zu finden - ohne den Babys den Stress eines Schlaflernprogramms zuzumuten."

Es ist ein löblicher, wenn auch eher kläglicher Versuch einer Gegendarstellung, leider wird danach Frau Kast-Zahn das letzte Wort überlassen, welches sie auch grandios nutzt. Ich muss schon sagen, sie ist eine hervorragende Werbefachfrau, die es versteht, ihr Produkt anzupreisen und als "das Beste fürs Kind" zu verkaufen. Hut ab!

In meinem Blog möchte ich jedoch einem anderen das letzte Wort zum Thema Einschlafen und Schreien lassen erteilen, Dr. William Sears:

"Wenn Sie [auf das Weinen] nicht reagieren, wenden Sie das Prinzip der Entmutigung an: Wenn sie ein Verhalten nicht unterstützen, so wird es bald aufhören. Diese Methode beunruhigt mich aus zweierlei Gründen: Erstens geht man davon aus, dass es sich beim Weinen des Kindes um ein negatives Verhalten handelt, das eliminiert werden sollte: eine falsche Annahme also. Zweitens kann es schädliche Wirkung auf das entstehende Selbstwertgefühl des Babys haben. Wenn ein Baby weint und niemand hört zu, so sinkt die innere Motivierung des Babys zum Weinen. [...] Das Weinen des Babys ist aber doch seine Sprache! Wenn es auch primitiv erscheinen mag, so ist das Weinen eines kleinen Babys doch sein einziges Kommunikationsmittel zur Außenwelt. Nimmt man ihm diese Form der Kommunikation, kann dies sehr wohl einen Übertragungseffekt auf sein Verlangen haben, überhaupt mit seiner Kontaktperson zu kommunizieren. [...] Der Rat, das Baby weinen zu lassen, hat somit vielleicht einen kurzfristigen Erfolg, bringt langfristig jedoch Verlust. Meiner Meinung nach ist die Entscheidung zugunsten eines kurzfristigen Gewinns keine weise Entscheidung. [...] Wenn Sie nicht auf das Weinen des Babys eingehen, lehren Sie es nicht wirklich, zu schlafen, Sie lehren es nur, dass Weinen keinen Kommunikationswert hat. [...] Indem Sie nicht nachgeben, lehren Sie Ihr Baby aufzugeben. Ich habe große Mühe mit dem Sinn dieser Methode. Das ist nächtliche Dressur, nicht nächtliche Kinderbetreuung."

© Snowqueen


Literatur

 
Sears, William, Schlafen und Wachen, 2008

Renz-Polster, Herbert: Kinder verstehen, 2010

Papousek, M., Schieche, M., Wurmser, H: Regulationsstörungen der frühen Kindheit

Bildnachweis

Papa kuschelt mit Baby: Bernd Kasper  / pixelio.de
Hand hält Handf Dieter Hopf  / pixelio.de
Babyauge: sabrina gonstalla  / pixelio.de

                                       

Pseudo-Krupp, Fieberkrampf, Affektkrampf, Nachtschreck

Anfälle, die man als Eltern kennen sollte, bevor sie beim eigenen Kind auftreten 


Als ich noch keine Kinder hatte, hörte ich einmal eine Freundin vage davon erzählen, wie schlimm ihr Kind in dieser Nacht einen Pseudo-Krupp-Anfall gehabt hätte und wie sehr sie das jedes Mal in Panik versetzt. Da ich damals wirklich null Ahnung hatte, dachte ich mir, was sich wohl alle Unwissenden denken: "Hab dich nicht so". Immerhin blieb das Wort "Pseudo-Krupp" in meinem Hinterkopf hängen, und auch, dass sie sich mit ihrem Sohn an ein offenes Fenster gestellt hatte.

So lief das, was die wohl schlimmste Nacht meines Lebens hätte werden können, relativ glimpflich ab: Meine erstgeborene Tochter fing eines nachts urplötzlich an zu röcheln, bellend zu husten und panisch zu weinen. Sie bekam keine Luft mehr! Ich reagierte ganz automatisch, nahm das Kind auf meinen Arm, redete beruhigend auf sie ein, stellte mich ans offene Fenster mit ihr und zählte Autos, die in der eiskalten Winternacht an unserem Haus vorbeifuhren. Es half. Sie atmete ruhiger und befreiter, nach einer Stunde konnten wir wieder ins Bett, wobei ich in dieser Nacht kein Auge zutat, sondern immer besorgt zu ihr rüber schielte und gleichzeitig mit dem Smartphone versuchte, Fakten über "dieses Pseudo-Krupp" herauszusuchen.  
 

 

Pseudo-Krupp 


Pseudo-Krupp ist eine Erkrankung der Atemwege zwischen Kehlkopf und Stimmritze, die von ganz normalen Erkältungsviren, selten durch Bakterien, Grippeviren oder starke Luftverschmutzung und passives Rauchen ausgelöst wird. Sie tritt vorwiegend bei Kindern im Alter von 6 Monaten bis 6 Jahren auf, wobei die Hoch-Zeit der Anfälle eher bis zum 3. Lebensjahr angegeben wird. Das ist leicht verständlich, denn die Erreger verursachen eine Entzündung in der Schleimhaut, wodurch diese anschwillt. Da bei kleinen Kindern die Atemwege an sich noch sehr, sehr eng sind (geradezu winzig), wirkt sich die Schwellung natürlich stärker aus, als bei älteren Kindern oder Erwachsenen. 

Der Atemwegswiderstand erhöht sich bei Babys und Kleinkindern um das 16-fache, bei Erwachsenen nur um das 3-fache! Das Ergebnis ist schlicht und ergreifend Atemnot und daraus resultierend, Panik. Die Anfälle treten zwischen Oktober und März hauptsächlich nachts zwischen 22 Uhr und 4 Uhr auf, da zu dieser Zeit ist die körpereigene Cortisolproduktion heruntergefahren. Ein normal hoher Cortisolspiegel sorgt dafür, dass das Immunsystem auf Krankheitserreger nicht überreagiert - es dämpft also die körpereigene Abwehr. Sinkt der Spiegel in der Nacht, arbeitet das Immunsystem stärker und reagiert entsprechend heftiger auf Krankheitserreger, als tagsüber. Deswegen kommt es dann verstärkt zu Pseudo-Krupp-Anfällen.

Leider kann man als Elternteil nicht vorher erkennen, wann ein Kruppanfall bevorsteht, denn die Kinder gehen erst einmal mit einem guten Allgemeinzustand ins Bett. Ganz selten ist ein leichtes Fieber zu messen, meist kommen die Krankheitsanzeichen aber erst nach dem Anfall. Typischerweise wachen die Kinder nach einer Pseudo-Krupp-Nacht dann mit einer klassischen Erkältung auf. Ein kleiner Hinweis ist vielleicht Nebel - ist draußen nebliges Wetter, kann ich mit 80%iger Sicherheit davon ausgehen, dass meine Tochter einen Anfall bekommt. Aber vielleicht ist das auch nur bei uns so spezifisch.

Wie erkenne ich Krupp-Husten? 


Hat man einmal sein Kind so einatmen und husten gehört, weiß man für den Rest seines Lebens, wie das klingt. Das Einatmen klingt irgendwie verengt, sehr oft kommt es dabei zu einem pfeifenden Geräusch. Dieses Video zeigt ein schlafendes Kind mit Kruppatmung:


Das Ausatmen klingt dagegen eher normal. Meine Tochter wird schon in diesem Stadium unruhig im Schlaf, meckert heiser und wälzt sich von links nach rechts. Mittlerweile reagiere ich schon zu diesem Zeitpunkt, da ich weiß, dass sich der Zustand ohne mein Zutun einfach nur verschlechtert. Bei unserem ersten Anfall, als ich noch keine Medikamente zuhause hatte, verstärkte sich das pfeifende Einatmen aber zu einem bellenden, blechernen Husten und zu Heiserkeit, welche auch am gesamten nächsten Tag noch blieb.

Wie behandele ich Pseudo-Krupp? 


Das Aller-aller-aller-wichtigste ist, dass die Eltern eines Kindes mit Krupp-Anfall selbst ruhig bleiben und dem Kind Sicherheit vermitteln. Das Kind wird wegen der akuten Atemnot immer panischer, leider verbraucht es dadurch auch mehr Sauerstoff, was die Symptomatik verschlimmert!

Nehmt eure Kinder auf den Arm, geht ans offene Fenster, auf den Balkon oder in den Garten (wenn es heiß draußen sein sollte, stellt euch vor den Kühlschrank) und redet beruhigend auf sie ein. Zählt die Sterne oder vorbeifahrende Autos oder erzählt ihnen eine ruhige Geschichte etc., damit sie gleichmäßiger atmen und sich auf etwas anderes als die beklemmende Atemnot konzentrieren. Zu Zeiten unserer Eltern und Großeltern wurde oft geraten, feucht-heißen Dampf einzuatmen, d. h. die heiße Dusche weit aufzudrehen, doch davon wird mittlerweile abgeraten, da Wärme das Gewebe eher noch anschwellen lässt. 

Zusätzlich könnt ihr aber dem Kind, wenn es das möchte, sehr kalte Getränke anbieten.
Da der Anfall vornehmlich dadurch ausgelöst wird, dass die körpereigene Cortisolproduktion heruntergefahren ist und das Immunsystem deshalb so stark mit der Schwellung der Atemwege auf die eindringenden Erreger reagiert, ist die beste Hilfe, die ihr eurem Kind geben könnt, Cortison. In Deutschland ist es üblich, Cortisonzäpfchen zu verabreichen. 

Leider ist das bei einem Kind, das schon in Panik geraten ist, sehr, sehr schwer. Hinzu kommt, dass die Wirkung erst nach 30-60 Minuten einsetzt (und auch nur bei schwankender Resorption), so dass die Besserung manchmal gefühlt unglaublich lange auf sich warten lässt. In Absprache mit meiner Kinderärztin gebe ich das Zäpfchen daher schon bei den ersten Anzeichen (pfeifendes Einatmen, Unruhe im Schlaf plus Heiserkeit), so dass es bei uns - toi, toi, toi - zu keinem weiteren großen Anfall gekommen ist. 

schlafendes Kind

Nach der Gabe des Zäpfchens lege ich meine Tochter wieder ins Familienbett, öffne aber das direkt am Kopfende befindliche große Fenster, so dass sie und ich (der Rest der familiären Frostbeulen zieht für die Nacht ins Kinderzimmer) in wohltuender Eiseskälte schlafen. Vorteil des Zäpfchens ist übrigens die lange Wirkungsdauer von 12-36 Stunden. So könnt ihr, wenn es denn endlich wirkt, beruhigt neben eurem Kind einschlafen. (Wobei ich euch versichern kann, dass ihr das bei den ersten 2-3 Anfällen nicht schaffen werdet. Ein Auge und ein Ohr waren bei mir immer offen irgendwie....)  
Seit dem ersten Anfall habe ich übrigens zu jeder Zeit zwei Zäpfchen im Haus, denn die Erfahrung zeigt mir, dass bei uns die Anfälle immer am Wochenende auftreten, wenn man nicht zum normalen Kinderarzt gehen kann, sondern in die Notsprechstunde muss. Es ist eigentlich unüblich, dass ein Krupp-Anfall in zwei aufeinanderfolgenden Nächsten auftritt, leider ist das bei meiner Tochter eher die Regel...   

Habt ihr noch keine Zäpfchen zu Hause und der Anfall verschlimmert sich zusehens, braucht ihr euch nicht scheuen, den Notarzt (zur Erinnerung: 112) zu rufen! Der Mensch am anderen Ende der Leitung wird euch fragen, wie alt das Kind ist, wie eure Adresse lautet und euch dann Schritt für Schritt erklären, wie ihr bis zum Eintreffen des Wagens vorzugehen habt. Im Krankenhaus (oder vielleicht sogar schon im Rettungswagen) werden sie eurem Kind Adrenalin zum Inhalieren geben. Dieses wirkt wunderbar schnell nach 10 Minuten, hält aber nur 2 Stunden an. Zur Sicherheit werden euch die Ärzte im Krankenhaus behalten. Wichtig ist noch, dass ihr wisst, ob euer Kind gegen HiB (also gegen das Bakterium Haemophilus influenzae Typ b, häufig Bestandteil der 6fach-Impfungen) und Diphtherie geimpft ist, denn wenn nicht, könnte euer Kind nicht an Pseudo-Krupp, sondern an einer gefährlichen Kehldeckelentzündung (Epiglottitis), welche sehr schnell zum Ersticken führen kann oder dem "echten" Krupp leiden.

Nach dem ersten Pseudo-Krupp-Anfall, egal ob mit schwerem oder leichtem Verlauf, ist es angezeigt, beim Kinderarzt vorstellig zu werden. Zwar kann dieser im Nachhinein nichts mehr tun und selbst die Diagnostik kann dann nur noch per Fragen ("Wie klang der Husten genau? Wann trat er auf?") geschehen. Aber der Kinderarzt sollte wissen, dass euer Kind ein Krupp-Kind ist, er wird euch die Zäpfchen verschreiben und ein Merkblatt zur Krankheit in die Hand drücken.

Weiterführende Informationen 


In der Nacht des ersten Krupp-Anfalls fand ich diese Internetseite einer betroffenen Mutter, die ich sehr informativ fand. Besonders spannend waren für mich die Erfahrungsberichte und auch die Aufstellung der Medikamente, die bei Pseudo-Krupp verschrieben werden.

Fieberkrampf 


Auch ein Fieberkrampf ist ein Ereignis, von dem man  - ohne Kinder zu haben - vermutlich noch nie etwas gehört hat. Verliert das Baby aber urplötzlich das Bewusstsein und zuckt minutenlang in den Armen der Mutter (manchmal wird es auch blau dabei), ist es wichtig, Ruhe zu bewahren und zu wissen, warum das so sein könnte.

Ein Fieberkrampf ist ein zerebraler Anfall, der durch einen plötzlichen Temperaturanstieg (wie er bei Fieber vorkommt), ausgelöst wird. Wichtig ist dabei nicht die Höhe des Fiebers, sondern der schnelle Anstieg. Es kann also durchaus vorkommen, dass das Kind schon bei 38,3° einen Krampfanfall bekommt, z. B. dann, wenn es gerade erst einen fieberhaften Infekt entwickelt. Im Prinzip entdeckt man dann mit dem Krampf erstmalig, dass das Kind überhaupt Fieber bekommen hat...

Fieberkrämpfe kommen bei Kindern ab 6 Monaten und bis 5 Jahre vor und stehen im Zusammenhang mit der Anfallsanfälligkeit des kindlichen Gehirns. Die Hoch-Zeit liegt zwischen dem 14. und 18. Lebensmonat. Normalerweise bleibt ein Fieberkrampf ein einmaliges Ereignis, sehr oft wird er durch das Drei-Tage-Fieber (welches ja auch nur einmalig auftritt) ausgelöst. Selten neigen Kinder zu gehäuften Fieberkrämpfen, meist haben sie dann eine familiäre Disposition, die bekannt ist.

Wie erkenne ich einen Fieberkrampf? 


Ein Fieberkrampf beginnt mit einem plötzlichen Bewusstseinsverlust und einer kompletten Versteifung des Körpers. Nach 10-30 Sekunden beginnt das Kind unkontrolliert zu zucken. Begleitend kann es sein, dass das Kind Gurgel- und Schmatzlaute von sich gibt, unkontrolliert Grimassen schneidet, die Augen wild verdreht bzw. ganz starr hält und vielleicht sogar blau anläuft. 

In seltenen Fällen sackt das Kind (ohne zu zucken) in sich zusammen und ist schlapp und leblos. Das Ganze sieht wirklich lebensgefährlich aus und schockt die Eltern zutiefst. Gerade das kurze Luftanhalten, welches möglicherweise durch die Verkrampfung auftritt, lässt Eltern verständlicherweise schnell in Panik geraten. 
Glücklicherweise ist unser Körper von der Natur aus so genial ausgestattet, dass selbst starke Verkrampfungen des Körpers vom Atemreiz, der vom Atemzentrum des Gehirns ausgeht, gleichwohl überschrieben wird, d. h. das Kind beginnt sehr schnell von allein wieder zu atmen.

Der Krampf dauert normalerweise nur wenige Minuten, durchschnittlich zwei bis drei, wobei sich diese Zeit für die Eltern endlos anfühlt. Es gibt einen atypischen Verlauf des Krampfes, bei dem dieser bis zu 15 Minuten dauern kann, deshalb ist es sinnvoll, die Zeit im Auge zu behalten, um hinterher dem Kinderarzt möglichst genau Auskunft geben zu können. Nach dem Anfall folgt meist eine kurze Phase der Benommenheit beim Kind. Dieses Video zeigt einen Fieberkrampf:


Da eine Abgrenzung von anderen krampfartigen Anfällen wie Epilepsie, Ohnmacht, Hirnhautentzündung oder Schüttelfrost für den Laien nicht einfach ist, sollte in jedem Fall der Kinderarzt, wenn nicht sogar der Notarzt, zu Rate gezogen werden. Normalerweise ist der Anfall bereits vorbei, wenn der Notarzt eintrifft, trotzdem ist es ratsam, abklären zu lassen, ob es wirklich ein Fieberkrampf oder etwas anderes war. Ihr werdet trotz Wissen um die Harmlosigkeit des Fieberkrampfes sowieso so in Panik sein, dass ihr den Notarzt anruft. Macht das! Das Krankenhaus wird euch über Nacht dabehalten und euer Kind beobachten, so dass ihr euch ein bisschen von dem Schrecken erholen könnt.

Was kann ich während eines Fieberkrampfes tun? 


Wenig.

Am besten, ihr legt euer Kind dorthin, wo es sich während des Krampfes nicht weh tun kann. Spitze Kanten, Ecken, und andere gefährliche Gegenstände sollten aus der Reichweite des Kindes entfernt werden - genau wie bei einem epileptischen Anfall. Sollte das Kind stark speicheln oder erbrechen, könnt ihr es in die stabile Seitenlage legen, damit alles abfließen kann.

Es hilft absolut nicht, dem Kind kalte Lappen auf die Stirn zu legen oder zu versuchen, einen Fiebersaft oder ein Fieberzäpfchen in das Kind zu zwingen. Ebenso sollte man vermeiden, die krampfenden Arme und Beine des Kindes festzuhalten, oder zu versuchen, etwas in den Mund zu schieben, damit sich das Kind nicht auf die Zunge beißt. Es ist schwer, aber ihr müsst einfach Ruhe bewahren und abwarten. Ein Fieberkrampf sieht schrecklich aus, ist aber eigentlich harmlos - nicht, dass dieses Wissen euch in der Situation helfen wird. Ihr werdet trotzdem Todesangst um euer Kind haben und euch vom dem Schreck nur sehr, sehr langsam erholen.

Was kann ich tun, um einem Fieberkrampf vorzubeugen? 


Nichts.

Da nicht klar bewiesen ist, warum einige Kinder einen Fieberkrampf erleiden und andere nicht und auch nicht vorhersehbar, ab welcher Temperatur der Fieberkrampf auftreten wird, ist z. B. eine prophylaktische Gabe von fiebersenkenden Mitteln unangebracht. Fieber ist nicht des Kindes Feind.

Weiterführende Informationen 


Interessant fand ich diese Internetseite und hier kann man den sehr informativen Flyer der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin herunterladen.

Affektkrampf 


Ein (respiratorischer) Affektkrampf ist ein durch einen unangenehmen Reiz ausgelöstes Anhalten des Atems (durch das krampfartige Verschließen der Stimmritze), welches in Bewusstlosigkeit enden kann. Die auslösenden Reize sind dabei so vielfältig und individuell, dass eigentlich keine allgemeine Aussage gemacht werden kann. Oft ist es ein simples "Nein!" der Eltern, das das Kind so aufregt, dass es einen Anfall bekommt. Weitere Reize können Erschrecken, Schmerzen oder Unwohlsein sein.

Eine Mutter berichtete mir vom ersten Anfall ihres Kindes: Es hatte einen Löffel mit Brei in der Hand. Als dieser den Mund berührte, sackte es ganz plötzlich ohne einen Laut in sich zusammen. Die Mutter dachte in der ersten Zehntelsekunde, das Kind mache Quatsch, als es aber blaue Lippen bekam und sie es, schlaff wie es war, nicht mehr aus dem Kindersitz heben konnte, war sie sich sicher, ihr Kind sei tot. Gott sei Dank erwachte es nach einer Minute wieder - Auslöser dieses Affektkrampfes war das Erschrecken über den zu heißen Brei auf der Zunge! So schnell kann es also gehen bei besonders empfindsamen Kindern.

Affektkrämpfe kommen bei Kindern zwischen 6 Monaten und 5 Jahren vor, selten begleiten sie das Kind bis ins Schulalter. Hoch-Zeit ist - wie könnte es anders sein - um den 18. Monat herum, nämlich dann, wenn die Kinder ihren eigenen Willen entdecken, es aber noch nicht aushalten können, wenn etwas nicht nach ihrem Wunsch läuft. Etwa 5% aller Kinder sind betroffen. Bei einigen treten mehrere Affektkrämpfe am Tag auf, andere erleben diesen nur ein einziges Mal im Leben. Es konnte beobachtet werden, dass bei Kindern, deren Eltern auch schon an Affektkrämpfen litten, diese ebenfalls gehäuft auftraten.

Woran erkenne ich einen Affektkrampf? 


Ein Affektkrampf beginnt nicht selten mit dem wütenden Gesichtsausdruck des Kindes. Das Kind beginnt vor Wut zu schreien - soweit kennt das wohl jede Mutter. Bei einem klassischen Affektkrampf bricht das Schreien nach einigen Minuten aber abrupt ab und das Kind hält nach dem Ausatmen die Luft an (deshalb heißt es auch: Breath-Holding Spells), bekommt blaue Lippen, wird bewusstlos und fällt hin. Es gibt auch "blasse Anfälle", bei denen es nicht zu einem Schrei kommt, sondern das Kind gleich blass und bewusstlos zusammensackt. 

Bei einer weiteren Erscheinungsform versteifen sich die Kinder und überstrecken sich. Das Gesicht zeigt Panik bzw. wird zu einer Grimasse verzogen und das Kind versucht zu atmen - dabei wird häufig geröchelt. Die krampflösende Ohnmacht tritt bei diesen Krämpfen erst nach (gefühlt endlosen etwa 10 bis 20 Sekunden ein). Anders, als es den Eltern vielleicht vorkommt, ist das Anhalten der Luft nicht bewusst, sondern geschieht unbewusst aufgrund eines Reflexes. Die Kinder können also nichts für ihren Anfall und führen diesen nicht bewusst herbei - sie sind einfach sensibler als andere auf diesem Gebiet. 

Es ist wirklich wichtig, dem Kind keine Absicht zu unterstellen oder ihm die Schuld für die Anfälle zu geben - das wäre unfair und vermittelt dem Kind ein falsches Selbstbild.  Nach einigen Sekunden bis wenigen Minuten kommt das Kind wieder zu sich, da der Atemreflex sofort mit der Ohnmacht wieder einsetzt. Die Kinder sind nach einem Anfall meist schlapp und gelegentlich auch so müde, dass sie sofort schlafen möchten. Es kann dann auch vorkommen, dass das Kind dann minutenlang weiter krampft - das sieht etwa so aus, wie im Fieberkrampf-Film. Die Anfälle sehen dramatisch und lebensgefährlich aus, sind es aber nicht. Es sind auch keine negativen Langzeitwirkungen bekannt.

Was kann ich während eines Affektkrampfes tun? 


Wenn möglich, das Kind auffangen, wenn es zusammensackt, so dass es sich beim Fall en nicht wehtut. Das Kind in die stabile Seitenlage legen, damit die Zunge nicht nach hinten rutscht und das Atmen nicht behindert wird. Man kann versuchen, dem Kind ins Gesicht zu pusten, um das Einsetzen des Atmens zu beschleunigen oder auch das Gesicht mit kaltem Wasser zu benetzen und/oder die Wangen zu tätscheln. Im Prinzip ist dies aber unnötig, da die Anfälle sehr kurz sind und die Kinder auch ohne Stimuli wieder zu sich kommen. 

Andererseits tut es den Eltern aber gut, wenigstens ein wenig Kontrolle in der Situation zu behalten, deshalb sind solche Maßnahmen durchaus angebracht und nicht schädlich.
Das einzige, das Eltern bitte nicht tun sollten, ist das Kind zu beatmen, jedenfalls nicht sofort. Mund-zu-Mund-Beatmung bei einem Kind erfordert viel Fingerspitzengefühl, da die Lunge noch sehr klein ist und wir Erwachsenen in unserer Panik oft viel zu viel Luft hineinblasen. Auch wenn es sehr schwer fällt und der Anfall euch in Todesangst versetzt: Wartet kurz ab, ob der Atemreflex wieder einsetzt. Das passiert schon nach kurzer Zeit - euch wird es wie Stunden vorkommen.

Nach dem ersten Anfall ist es angebracht, mit dem Kind zum Kinderarzt oder ins Krankenhaus zu gehen, um abzuklären, ob es wirklich "nur" ein Affektkrampf war oder es andere Ursachen gab.

Kind schläft nach Fieberkrampf


Was kann ich tun, um einem Affektkrampf vorzubeugen? 


Es ist fast unmöglich, Affektkrämpfen vorzubeugen. Man kann ja ein Kind, welches z. B. durch Schmerzreize zum Krampfen neigt, deshalb nicht in Watte packen. Es soll doch weiterhin ein erfülltes Leben haben und sich ausprobieren - eine ängstliche Einschränkung der körperlichen Aktivitäten durch die Eltern schadet dabei viel mehr, als die Affektkrämpfe!

Das Gleiche gilt für die weit verbreiteten Wutkrämpfe (also Affektkrämpfe, die durch einen Wutanfall ausgelöst werden): Fangen die Eltern an, aus Angst vor einem Anfall dem Kind alles zu erlauben, nur, um nicht "Nein!" sagen zu müssen, ist dem Kind nicht geholfen. Die psychologischen Auswirkungen einer Erziehung, in der die Eltern Angst haben, dem Kind jegliche Grenzen zu setzen, sind viel, viel gravierender als die Langzeitwirkungen der Affektkrämpfe. Natürlich kann man versuchen, als Elternteil nur so wenig Grenzen wie nötig zu setzen und diese liebevoll und einfühlsam durchzusetzen, aber das tun wir doch sowieso schon.

Wichtig ist, während eines Anfalls ruhig zu bleiben und abzuwarten. Tatsächlich lernt man, damit zu leben. Der erste Anfall ist schrecklich und sehr, sehr beängstigend, doch je öfter man sein Kind schlapp in den Armen hält, desto besonnener kann man reagieren. Man weiß ja, dass das Kind bald wieder "da" ist - auch wenn es schwer ist: Das Kind muss trotz der Anfälle ein normales Leben führen dürfen.

Weiterführende Informationen 


Eine interessante Seite auf Englisch ist diese hier, auf Deutsch sind einige allgemeine Artikel in Zeitungen erschienen, z. B. in der Apothekenzeitschrift "Baby und Familie", in der Welt und bei Elternwissen.

Nachtschreck 


Der Nachtschreck (lat. Pavor nocturnus) ist eine Form der Schlafstörung, die die Eltern zwar sehr erschreckt, jedoch immerhin nicht solche Todesängste hervorruft, wie z. B. der Fieberkrampf oder auch der Affektkrampf. Das Kind schreckt plötzlich innerhalb der ersten Tiefschlafphase (ca. 15 - 60 Minuten nach dem Einschlafen) aus dem Schlaf hoch und fängt an, angstvoll zu schreien. Es ist dabei nicht wirklich wach, sondern "gefangen" in der Übergangsphase zwischen Schlafen und Wachen.

Die Angst des Kindes ist dabei echt - man kann sie messen und sie zeigt sich auch durch einen erhöhten Puls, Angstschweiß und eine beschleunigte Atmung. Nach 2 bis 40 Minuten ist der Anfall vorbei und das Kind schläft meist ruhig weiter (oder erwacht richtig). Am nächsten Morgen kann es sich nicht an das Schreckenserlebnis der Nacht erinnern - die Eltern sind meist verstörter, als das Kind selbst. Bis zu 6% aller Kinder sind vom Nachtschreck betroffen, die Hoch-Zeit liegt zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr. Es gibt eine familiäre Disposition dafür.

Wie erkenne ich einen Nachtschreck? 


Im Gegensatz zum Albtraum findet der Nachtschreck in der Tiefschlafphase statt, während Albträume erst später in der Nacht, nämlich in der REM-Phase auftreten. Während des Anfalls ist das Kind nicht ansprechbar und reagiert nicht auf seine Eltern. Es weint und stöhnt, oft schreit es laut und die Augen sind weit aufgerissen, ohne wirklich zu sehen, manchmal schlägt es wild um sich oder springt sogar aus dem Bett heraus. 

Bei einem normalen Albtraum reagiert es irgendwann auf die Eltern, d. h. es lässt sich wecken und kann dann erzählen, was es geträumt hat. Kinder mit Nachtschreck lassen sich normalerweise nicht wecken - sollten es die Eltern doch schaffen, ist das Kind orientierungslos und verwirrt und weiß nicht, was los ist bzw. kann nicht erklären, was es gerade so geängstigt hat. Hier ein Video eines Kindes, das gerade einen Nachtschreck erlebt - das Ganze dauerte 20 Minuten und das Kind konnte sich am Morgen an nichts erinnern!
 
 

 

Was kann ich tun, während mein Kind einen Nachtschreck hat?


Da das Kind nicht wirklich wach wird, kann man es leider auch in keiner Weise beruhigen. Man kann versuchen, leise mit dem Kind zu sprechen und Sicherheit zu vermitteln, dass alles gut ist. Es ist jedoch unangebracht, zu versuchen, das Kind festzuhalten, um es zu beruhigen - normalerweise wird es dadurch nur noch wilder. Aufgabe der Eltern ist einfach, das Kind vor Gefahren zu schützen, im Prinzip wie bei einem Schlafwandler. 

Sichert spitze Ecken oder scharfe Kanten, legt ein dickes Kissen an das Bettende, damit das Kind nicht mit dem Kopf darauf knallt. Guckt, ob alle Treppen gesichert sind. Kinder mit Nachtschreck laufen gern auch mal in der Wohnung herum und fallen dann über herumliegende Kuscheltiere oder rutschen auf Autos aus. Räumt also den Boden frei. Auch Fenster und Türen sollten abgeschlossen werden. Wir haben (unabhängig vom Nachtschreck) abschließbare Fenstergriffe und eine Kette für die Wohnungstür. Ist der Nachtschreck vorbei, könnt ihr wieder ins Bett gehen - einen zweiten Anfall wird es in dieser Nacht nicht mehr geben.

Was kann ich tun, um einen Nachtschreck zu verhindern? 


Im Prinzip nichts. 

Es ist unklar, wann und warum der Nachtschreck ausgelöst wird. Es wird vermutet, dass manche Kinder so schwierige Erlebnisse des Tages verarbeiten, daher könnt ihr euch vielleicht zur Routine machen, mit dem Kind ein "Bettgeflüster" abzuhalten, d. h. vor dem Einschlafen noch einmal alle schönen Erlebnisse des Tages Revue passieren zu lassen. Ob das wirklich hilft, sei dahingestellt, aber es ist trotzdem ein kuscheliges Abendritual.
Nach dem ersten Nachtschreck solltet ihr bei eurem Kinderarzt abchecken lassen, ob dieser durch das (seltene) Schlaf-Apnoe-Syndrom hervorgerufen wurde. Dieses ist etwas ernsterer Natur, lässt sich aber gut behandeln.

Weiterführende Informationen 


Ich finde den Überblick auf der Internetseite "Das Anfallskind" sehr gelungen, ansonsten rate ich euch, in Foren wie bei Urbia.de, Wunschkinder.net oder Eltern.de zu stöbern, da es dort viele aufschlussreiche Berichte von Betroffenen gibt.  

© Snowqueen