Beikost und ordentliches Essen bei Tisch

Die Erziehung unserer Großeltern und Eltern - Teil 3


In diesem Artikel soll es um die Frage gehen, warum unsere Großeltern und Eltern uns ständig dazu drängen, unseren Babys endlich mal "was Richtiges" zu essen zu geben und uns oft schon wenige Monate nach der Geburt ans Herz legen, Gemüsesäfte in die Milch zu geben oder diese gar mit Haferschleim anzudicken. Bekommen unsere Kinder mit vier bis sechs Monaten gar immer noch nur Milch, werden auch die entspanntesten Großeltern nervös - das Kind braucht doch Nährstoffe! 

Großeltern 


Liest man bei Johanna Haarer nach, wird zunächst nicht gleich klar, warum unsere Großeltern uns so hetzen, denn eigentlich steht dort sehr eindeutig:
"Deutsche Mutter, stille so lange du kannst! [...] Du aber versuche mit allen Mitteln, die Brusternährung wenigstens im ersten Lebenshalbjahr durchzuführen. Stille auch dann noch weiter, wenn du kannst, bis gegen Ende des ersten Jahres. Nie wieder bist du in der Lage, deinem Kinde einen solchen Schatz an Lebenskraft und Gesundheit für später mitzugeben wie in dieser Zeit. Beraube dich nicht selbst des beglückenden Gefühls, deine Pflicht ihm gegenüber erfüllt zu haben. [...] Während der ersten 6 Monate sollte dem Kinde die mütterliche Brust keinesfalls entzogen werden. Jede andere Nahrung während dieser Zeit ist und bleibt "Ersatz". [...] Nach dem 6. Lebensmonat braucht der Säugling mehr, als ihm die mütterliche Milch bieten kann. Es sind dies in erster Linie mineralische Stoffe, vor allem Eisen und Kalk, die der Säugling zur Blut- und Knochenbildung braucht. Dies ist aber beileibe kein Grund zum Abstillen! Die Hauptnahrung des Kindes bleibt nach wie vor die Muttermilch. Die fehlenden Stoffe werden dem Kind durch eine geeignet ausgewählte Beikost (Gemüse) zugeführt [...]. Allmählich nimmt die Beikost immer breiteren Raum ein und eine Brustmahlzeit nach der anderen wird durch sie ersetzt. Wann dann schließlich die letzte Brustmahlzeit ganz weggelassen und das Kind endgültig abgestillt wird, kann nicht ein für allemal festgelegt werden. Als ungefähre Grenze kann der 9. - 12. Lebensmonat angegeben werden" (vgl. Haarer, 1939: 134ff). 

Bild einer Familie
Erst beim Stöbern im Kapitel für "künstlich" ernährte Kinder wurde ich fündig. Da die Herstellung industriell hergestellter Kindermilch noch in den Anfängen steckte, stellten die meisten Mütter im Dritten Reich die Ersatznahrung für ihre Babys selbst her - aus Kuhmilch, Wasser, Mehl und Zucker. Die Herstellung selbst ist eine Wissenschaft für sich. Ich musste das Kapitel mehrmals intensiv lesen, um überhaupt hinter den Rechenvorgang zu steigen, der nötig war, um anhand des Gewichtes des Kindes seinen Bedarf zu bestimmen. 

Hinzu kam, dass es damals noch keine Kühlschränke gab und selbst Eischränke (ein Loch mit Tür in der Wand unterm Küchenfenster, in welches täglich ein großer Eisblock gelegt wurde) eher selten waren. Die Kuhmilch wurde aufgekocht, um Keime abzutöten, und dann meist im kühlen Keller aufbewahrt. Dann wurde die "Verdünnungsflüssigkeit" (der Schleim bestehend aus Mehl, Wasser und Zucker) hergestellt. Aus diesem Vorrat an Milch und Schleim wurden dann die einzelnen Milchfläschchen abgemessen. Es ist nicht verwunderlich, dass Haarer den Müttern, die diese Ersatzmilch füttern, rät, die Löcher des Saugers etwas dicker zu stechen, weil sonst das Gemisch nicht herausgesaugt werden kann: 
"Für dickflüssigere Gemische wie bei Gries oder Zwiebackmehlzusatz halten wir uns einen [...] Sauger, den wir mit einer dickeren Stopfnadel oder Stricknadel durchbohrt haben" (vgl. Haarer, 1939: 191).
Auch nicht verwunderlich ist, dass die Säuglingssterblichkeit bei "künstlich ernährten" Babys stark erhöht war und den Müttern dringend geraten wurde, als Ergänzung zur Flaschennahrung ab dem 4. Monat rohe Obst- und Gemüsesäfte sowie rohe Obstbreie zu geben. 
"Diese rohe Beikost enthält in hohem Maße Ergänzungsstoffe (Vitamine), die besonders für die gesunde Entwicklung des Flaschenkindes hochbedeutsam sind. Ihre Anwendung ist bei künstlicher Ernährung während des ganzen Jahres geboten, auch im Winter, wenn sie vielleicht schwieriger zu beschaffen sind" (vgl. ebd., 1339: 192f).
Interessant ist auch der Umgang mit Zucker, den die heutige Müttergeneration meist versucht so gut wie möglich zu vermeiden, der zu Großmutters Zeiten jedoch sogar als wichtig beschrieben wird. Er erhöht, laut Haarer, den Nährwert der Obstsäfte (vgl. ebd., 1939: 193):
"Der so gewonnene Saft wird mit etwas Zucker schwach gesüßt, unter Umständen mit etwas Wasser verdünnt und dem Kind aus der Flasche gegeben. Die Säfte beruhigen und stillen den Durst. Man kann sie zu beliebiger Tageszeit reichen, besonders dann, wenn das Kind schreit und unruhig ist" (vgl. ebd., 1939: 193).
Wir erinnern uns: Laut der Stillregeln im dritten Reich durften Babys niemals außerhalb des vierstündigen Essensrhythmus gestillt werden, um sie nicht zu verwöhnen. Nun aber gibt die Autorin den Müttern die Absolution, ihre Kinder, wenn sie schreien, zumindest mit Obst- und Gemüsesaft zu füttern, da der Nährwert dieser laut Haarer  verhältnismäßig gering sei und daher keine "Mahlzeit" darstelle (vgl. ebd., 1939: 193). Dass unsere Großmütter gern darauf zurückgriffen - auch die, die eigentlich stillten - ist gut nachvollziehbar. Wer würde sein schreiendes Kind nicht gern mit etwas beruhigen, das ihm zusätzlich noch wertvolle Vitamine beschert?
"Außer diesen Frucht- und Gemüsesäften bekommt das Kind höchstens noch im Bedarfsfalle etwas Tee, der gleichfalls keinen Nährwert hat. Wir haben bereits bei der Besprechung des Schreiens gesehen, dass die Darreichung von Tee schon beim ganz jungen Säugling notwendig werden kann, um ihn zu beruhigen und ihm über die Nahrungspause besonders während der Nacht hinwegzuhelfen. Auch der ältere Säugling schreit namentlich während der heißen Jahreszeit häufig, weil er Durst hat. Man vergesse nicht, an diese Möglichkeit zu denken. [...] Das Kind nimmt den Tee am liebsten, wenn er gesüßt ist" (vgl. ebd., 1939: 194f).
Mit Vollendung des 6. Lebensmonats sollten dann laut Haarer neben den rohen Obst-und Gemüsesäften, auch die Zukost eingeführt werden. Wie im ersten Zitat schon anklang, bedeutet die Einführung von Beikost zu Zeiten unserer Großmütter nicht, dass das Kind sofort schnell abgestillt werden soll. Im Gegenteil: das zusätzliche Stillen wird immer wieder propagiert als das Beste fürs Kind. Mit welchem Gemüse die Beikosteinführung beginnt, schreibt damals die jeweilige Jahreszeit vor: 
"Die Reihe der Gemüse beginnt im Frühjahr mit Spinat, der dann besonders zart und von mildem Geschmack ist. Bald taucht der erste Kopfsalat auf, der ebenso wie Spinat zubereitet und verabreicht werden kann. Im Frühsommer erscheinen dann die zarten Karotten, etwas später die jungen grünen Erbsen. Dann folgen nacheinander Mangold, weiße Rüben und Teltower Rübchen, gelbe Rübchen und Blumenkohl. Im späten Herbst erscheint der Rosenkohl. Er und die gelben Rüben pflegen den ganzen Winter zur Verfügung zu stehen. Auch taucht oft noch tief im Winter auf dem Markt der Winterspinat auf, den allerdings wegen seiner derberen Beschaffenheit und seines herberen Geschmacks nicht alle Kinder gern nehmen. Auch Schwarzwurzeln kann man versuchen zu geben. - Jeder Gemüsesorte kann man einige feine Scheiben geschälte, rohe Kartoffeln zusetzen und sie mitdämpfen. Kartoffeln sind reich an Mineral- und Ergänzungsstoffen, sie sättigen das Kind durch ihren Gehalt an Nährstoffen und sie haben die angenehme Eigenschaft, den herben Geschmack mancher Gemüse, z. B. des Spinats, zu mildern" (vgl. Haarer, 1939: 209f).
Schwarzwurzeln und Kartoffeln
Die deutsche Kind erhält seine Beikost eigentlich mit dem Löffel. Gibt es dabei jedoch Widerstand, erlaubt Haarer, den Brei zunächst dünnflüssiger aus der Flasche mit großem Saugloch zu reichen (vgl. ebd., 1939: 214f). Kein Erbarmen gibt es jedoch bei "unsauberem" Essen oder Essensverweigerung.
"Es ist für die Tischsitten des Kindes ausschlaggebend, dass man ihm niemals gestattet, mit den Händchen ins Essen oder in den Mund zu fahren. Nur allzu leicht ist die Mutter geneigt, irgendwelche Unarten während des Essens als drollige Belustigung anzusehen. Sie sollte aber nicht vergessen, dass mit dem Kinde auch die Ungezogenheiten wachsen. Also unterlasse man nie, das Kind richtig in den Arm zu nehmen, Hals und Brust mit einem sauberen Tuch abzudecken und seine Ärmchen festzuhalten. Auf diese Weise kommt das Kind später gar nicht auf den Einfall, mit seinen Händchen in Mund oder Essen zu greifen und Schmierereien anzurichten. Ist das Kind so erzogen, dann ist auch die Fütterung von Brot mit Aufstrich und Gebäck sehr leicht. Es wartet geduldig, bis ihm Stückchen auf Stückchen in den Mund gesteckt wird" (vgl. ebd., 1939: 214).
Auch "Essensverweigerung" wird hart geahndet, wenn es nach Dr. Haarer geht. Zwar rät sie immerhin davon ab, dem Kind den Löffel gewaltsam aufzuzwingen, geht dann aber einen nicht minder perfiden Weg, um doch noch das verschmähte Gemüse ins Kind zu bekommen:
"Beharrt das Kind trotz allen geduldigen Versuchen in seiner Ablehnung, so bleibt, wenigstens was das Gemüse nach dem 6. Monat betrifft, gar nichts übrig, als es einmal hungern zu lassen. Das abgelehnte Gemüse wird zur nächsten Essenszeit wieder gereicht und muss unter dem Zwang des Hungers schließlich gegessen werden. Diese Maßnahme mag grausam erscheinen, ist aber das einzige Mittel, um das Kind vor Ernährungsstörung und Krankheit zu bewahren, die als Folge einer einseitigen Ernährung zu erwarten sind" (vgl. ebd., 1939: 215). 
Diese Taktik kennen wir schon vom Stillen, auch dort wird der "ältere Säugling" (also ab dem 6. Monat) rigoros hungern gelassen, wenn er irgendwelche Faxen beim Trinken macht. Oft wurde diese Methode auch später genutzt, wenn größere Kinder bestimmtes Essen verweigerten:
"Sollte man dem Kinde das verschmähte Essen zur nächsten Mahlzeit wieder auftischen? Bei hartnäckigen Sündern, die z.B. gar kein Gemüse essen wollen, muss man das tun und sie so zur richtigen Kost doch einfach zwingen" (vgl. Haarer, 1941: 171).
Zeitzeugen nach interpretierten nicht wenige Eltern diesen Abschnitt in solcher Weise, dass die Kinder nicht nur das verschmähte Essen wieder und wieder vorgesetzt bekamen, sie mussten auch so lange vor dem Teller sitzen bleiben, bis alles aufgegessen war. Wurde das Essen hinterher vor Ekel wieder erbrochen, so kam es nicht selten vor, dass den Kindern dieses Erbrochene bei der nächsten Mahlzeit vorgesetzt wurde - auch beim Essen, war es wohl unabdingbar, eine gestählte deutsche Jungend hervorzubringen....

Eltern 


Wurde bei unseren Großeltern noch das möglichst lange Stillen propagiert, kommt es in den 60er und 70er Jahren zu einer dramatischen Wende. Bei Haarer heißt es nun plötzlich:
"Das Baby sollte in den ersten Lebensmonaten an der Brust ernährt werden. Es braucht in dieser Zeit Obst- und Gemüsesäfte und Gemüsebrei als Ergänzung zu mütterlichen Milch. Um den dritten Monat fängt man mit dem Abstillen an und ersetzt allmählich eine Brustmahlzeit durch andere Nahrung. Das Baby braucht jetzt Stoffe, die in der Muttermilch nicht in genügender Menge vorhanden sind, wie z. B. Eisen zur Blutbildung, Kalk und Phosphor zur Bildung seiner Knochen" (vgl Haarer, 1973: 179).
Karottensaft

Warum es zu diesem Wandel kam, kann ich nicht nachvollziehen. Ich wundere mich, dass nun als unumstößlicher Fakt festgehalten ist, dass die Muttermilch schon so früh nicht mehr genügend Grundlage zur Ernährung bietet. Wenn dem so wäre, hätte die Menschheit ja längst ausgestorben sein müssen, denn über Jahrhunderte bekamen Säuglinge nichts anderes. Trotzdem habe ich auch in anderen Büchern unserer Elterngeneration dieselben Ratschläge gefunden. Selbst in Heinrich Brückners "Ein Kind wird erwartet" lasen unsere Mütter den Rat:
"Mit zunehmendem Alter braucht der Säugling außer der reinen Milchnahrung auch anderes, um seinen eigenen Bedarf an Energie- und Baustoffen zu decken. Entsprechend den Entwicklungserfordernissen des Darmes werden auch festere Stoffe in Form der Pflanzenfasern aus Obst und Gemüse nötig. Er muss sich rechtzeitig an andere Geschmacksrichtungen und andere Teilchengrößen gewöhnen, um mit alledem auf längere Sicht den Übergang auf die gemischte Kost der "Großen" vorzubereiten. Diese sogenannte Beikost beginnt teelöffelweise mit Obst- und Möhrensaft ab 6. Woche. [...] Mit Beginn des 4. bis 5. Monats wird der erste Brei erforderlich" (vgl. Brückner, 1989: 187).
Weil die Muttermilch (genauso wie die Fertigmilch) angeblich so wenig Nährstoffe jenseits des vierten Lebensmonats bereithielt, wurde den Müttern ein recht schneller Abstillplan ans Herz gelegt:
"Etwa von der 6. Lebenswoche an gibt man dem Baby täglich etwas Obst- oder Gemüsesaft. Im dritten bis vierten Monat bekommt es mittags nichts mehr an der Brust zu trinken, sondern sie geben eine Gemüsemahlzeit. Dann werden schrittweise die Brustmahlzeiten durch andere Kost ersetzt, wie die nachstehende Tabelle zeigt:  

Ernährungsplan nach Haarer
Fütterungsschema nach J. Haarer

War die Einführung von Gemüse noch in den 30er Jahren abhängig von der Jahreszeit, wird den Müttern in den 70er Jahren nun plötzlich klare Regeln bezüglich der Einführung gegeben. Warum auch hier ein Wandel stattfand, ist für mich wieder nicht nachvollziehbar. Trotzdem schreibt nun Haarer:
"Im 3.-4. Monat gewöhnen Sie Ihr Baby an eine richtige Gemüsemahlzeit. Auch hier fangen Sie mit Karotten an und geben mittags vor der Flasche zunächst nur ein paar Löffelchen. Bald aber soll die Mittagsmahlzeit ganz aus Gemüse bestehen. [...] Als zweites Gemüse gibt man Spinat, aber er sollte nicht vor dem sechsten Monat gegeben werden! Bei diesem Gemüse ist es wichtig, dass es immer ganz frisch zubereitet wird. Niemals darf man Spinatreste aufwärmen und dem Kinde geben! Sie zersetzen sich leicht und können dann giftig wirken. [...] Das größere Baby kann im zweiten Halbjahr dann noch andere Gemüsesorten essen: Blumenkohl, Rosenkohl, Grünkohl, Schwarzwurzeln, Tomaten usw. Mit den Krautsorten wartet man noch, sie blähen leicht" (vgl. Haarer, 1973: 200f).
Bei Schwierigkeiten mit der Beikosteinführung klingt Haarer in den 70er Jahren nun weitaus seichter:
"Wenn Sie Ihrem Baby zuerst Obstsäfte und Gemüse geben, dann geht oft nicht alles glatt. Schon das Baby hat einen ausgeprägten Geschmack, es ist seine süße Milchkost gewöhnt und lehnt besonders das gesalzene Gemüse anfangs ab. Es muss sich ja auch erst an den Löffel gewöhnen! Das muss man mit Geduld überwinden. Spuckt ihr Kind die neue Kost anfangs aus, dann gibt es hässliche Flecke in der Wäsche. Nehmen Sie das Kind halb liegend in den Schoß, halten sie die Händchen mit Ihrer linken Hand fest, decken Sie den Hals und die Brust mit einem Tuch ab, und füttern Sie mit der rechten Hand. - Wenn Sie beim Gemüsefüttern große Mühe haben, dann süßen Sie anfangs mit einer Prise Zucker. Tun Sie das aber nicht zu lang, geben Sie niemals zu viel Zucker. Davon wird Ihr Kind dick. Begehen Sie auch nicht den Fehler, die Gemüsemahlzeit aus der Flasche zu geben. Das Kind muss sich an den Löffel gewöhnen, es muss essen lernen und darf nicht immer nur saugen (vgl. Haarer, 1973: 202).
Wird das Festhalten der Ärmchen des Babys zu Großmutters Zeiten noch mit "Erziehung" erklärt, ist Haarer nun schlau genug, es damit zu begründen, dass es sonst zu viele Flecken und damit mehr Arbeit für die arme Hausfrau gäbe. Das klingt doch schon viel netter, oder?
 
Sie schreibt weiter: 
"Das Essen und Füttern [beim älteren Säugling] ist meist nicht mehr so einfach wie früher. Das Kind will sich beim Essen nicht ruhig halten, es turnt herum und will mit den Händchen nach dem Löffel, in die Speisen oder in seinen Mund greifen. Hier hilft nichts als eine bestimmte Ordnung: [...] Füttern Sie es langsam, und warten Sie vor jedem neuen Löffel so lange, bis der kleine Mund leer ist und für den nächsten Bissen geöffnet wird. [...] Geben Sie acht, dass das Kind beim Essen nicht allzuviel plappert, spielt oder trödelt, sonst werden seine Mahlzeiten für Sie sehr zeitraubend. Wenn Ihr Kind eine Speise ablehnt, den Mund nicht öffnet oder nicht schluckt, oder wenn es gar wieder ausspuckt, dann legen Sie einfach den Löffel weg und hören zu füttern auf. [...] Denken Sie imer daran, dass Hunger der beste Koch ist. Hier wie bei vielen anderen Gelegenheiten können wir Ihnen nur raten, konsequent zu sein. Allerdings müssen Sie eine beseelte und liebevolle Konsequenz anwenden, keine starre Prinzipienreiterei. Schon das kleine Kind muss hinter aller Strenge immer noch die mütterliche Liebe spüren, es hat dafür ein feines Gefühl" (vgl. Haarer, 1973: 233f).
Bild aus dem 80ern - Kind  
 
Das Konzept der "liebevollen Strenge" war bei unseren Eltern sehr beliebt und spukt auch heute noch vielen Jungeltern im Kopf herum. Das ist verständlich, denn es klingt erst einmal logisch: Natürlich wissen wir Erwachsenen am besten, was gut für unser Kind ist und wir müssen es nun einmal erziehen. Dass das unsere Kinder nicht immer glücklich macht, ist klar - aber sie werden es uns eines Tages danken, und solange sie immer unsere Liebe hinter den logischen Konsequenzen spüren - sie haben ja ein natürliches Gespür dafür - ist doch alles prima....

Wer sich dafür interessiert, einen Blick darauf zu werfen, wie logische Konsequenzen (wie z. B. das Wegnehmen des Essens, wenn das Kind matscht) möglicherweise beim Kind ankommen und ob sich unsere Kinder beim Verteilen von elterlichem Lob und Tadel wirklich immer bedingungslos geliebt fühlen, dem empfehle ich an dieser Stelle das Buch "Liebe und Eigenständigkeit" von Alfie Kohn, über das wir hier eine Rezension geschrieben haben.

Wir 


Ich kann mich noch erinnern, wie viel Respekt ich vor der Einführung der Beikost hatte. Mir kam der Schritt vom Stillen zum Breifüttern vor wie ein Übergang von der Grundschule zur Universität. Hatte bisher mein Körper alles Lebensnotwendige übernommen und meine Kinder ernährt, musste ich nun plötzlich darüber nachdenken, was ich wann und wie koche. Ich bin keine besonders gute Köchin - ich hatte echt Bammel davor. Gott sei Dank war auch hier wieder meine Stillberaterin der rettende Engel. Sie hatte ein Blättchen zur Beikosteinführung für mich zur Hand, auf dem alles Wichtig Schritt für Schritt stand. Das reichte schon, um mich zu beruhigen. Ich konnte einem Weg folgen, den schon andere Mütter vor mir gegangen waren. Wie angenehm!

Da ich eine besonders gute Stillberaterin habe, war der Plan, den sie mir in die Hand drückte, nicht besonders detailliert, sondern eher eine grobe Richtung, der ich folgen konnte. Das ist auch gut so, denn es gibt einfach keine detaillierten Ernährungsempfehlungen, die gleichzeitig wissenschaftlich fundiert sind. Expertenausschüsse wie ESPGHAN, AAP und WHO geben eher vage und vorsichtige Empfehlungen. 

Im Grunde ist die Einführung von Beikost ganz unkompliziert, wenn man sich mal vor Augen führt, wie die Kinder in den letzten Jahrtausensenden ernährt wurden. Sie aßen das, was die Natur gerade hergab - in der Regel das Gleiche, wie ihre Eltern. Fein püriert oder schonend schrittweise neue Lebensmittel eingeführt, wurde ganz sicher nicht. Damals ging es um das nackte Überleben - Kinder sind nach wie vor evolutionär darauf ausgelegt, möglichst unkompliziert ernährt zu werden. Früher war Nahrung ein knappes Gut - Mütter (mit in der Regel auch kurzen Geburtenfolgen) waren darauf angewiesen, Babys bei Gelegenheit frühzeitig geringe Mengen zuzufüttern, auch um eigene Energiereserven zu schonen.

Baby isst Beikost

Babys sind also darauf ausgelegt, von Anfang an geringe Mengen an unterschiedlicher Beikost verwerten zu können. In vielen Gesellschaften in der Welt wird dies tatsächlich auch so praktiziert. Man muss aber auch ganz klar sagen: Babys sind theoretisch in der Lage, früh Beikost zu verdauen - allerdings diente dieses Beifüttern nicht - wie heute üblich - dem Abstillen, sondern lediglich der Ergänzung zum Stillen. Daher ist es ganz sicher sinnvoll, sich an der Empfehlung "zwischen 4 und 6 Monaten" zu orientieren, ohne sich zu stressen, wenn das Baby nach dem 6. Monat noch immer keine Lust auf etwas anderes als Milch hat. Und wenn es im Alter von 3 Monaten schon mal nach einem Löffelchen Apfelmus schielt, wird es ihm sicher auch nichts schaden, ihn zu bekommen.

Derzeit entwickeln sich verschiedene Richtungen bei der Beikost - die einen praktizieren beispielsweise Baby-led weaning, das die evolutionär natürlichste Ernährung sein dürfte, die anderen halten sich an die ernährungswissenschaftlichen Pläne. Das Forschungsinstitut für Kinderernährung empfiehlt beispielsweise auf dieser Seite:
  • die Einführung eines Gemüse-Kartoffel-Fleisch-Breis im 5. Monat
  • die Einführung eines Milchgetreide-Breis im 6. Monat
  • die Einführung eines Getreide-Obst-Breis im 7. Monat und
  • den Übergang zur Familienkost ab dem 10. Monat.

Welchen Weg man geht, ist vermutlich relativ egal - keine Studie hat bisher herausragende Vor- oder Nachteile bei global sehr unterschiedlichen Herangehensweisen gefunden. Das im zweiten Monat in Nigeria mit Maisbrei gefütterte Baby wird ebenso wenig wie das in Malaysia ab Geburt mit einem Brei aus gekochten Bananen oder gekochtem Reis mit Zucker gefütterte Baby oder das Karottenbrei essende Baby in Deutschland Schaden nehmen. Das einzige Thema, dem man einen Gedanken widmen sollte, ist die Allergieprävention.


Auch was das Matschen mit dem Essen angeht, können sich Eltern heute glücklicherweise aussuchen, was am besten zu ihnen passt. Ich kenne viele Jungeltern im Freundeskreis, die es nicht gerne sehen, wenn ihre Kinder matschen und es konsequent unterbinden. Ich kann das gut nachvollziehen - es macht viel Arbeit und sieht auch nicht besonders ansprechend aus, vor allem, wenn man als Erwachsener daneben sitzt und auch essen möchte. 

Trotzdem habe ich mich für den anderen Weg entschieden. Mir ist es sehr wichtig, dass meine Kinder das Essen mit allen Sinnen begreifen - da kommt man leider um das "Matschen" nicht herum. Bei uns heißt es allerdings "Experimentieren". Meine Kinder durften seit Beginn der Beikost mit ihrem Essen spielen. Das beschränkte sich am Anfang natürlich erstmal auf das Hineingreifen in den Brei, das ausführliche Ablecken der Finger usw. Später, als meine Kinder etwas größer waren, kamen echte Untersuchungen hinzu: Schmeckt es, wenn man Wasser in den Joghurt schüttet und das dann trinkt? Ja! Ist die Stulle noch lecker, wenn man sie zuvor im Wasserbecher eingeweicht hat? Nein! Schmeckt Apfelmus zusammen mit Kartoffelbrei? Ja! Kann man gekochte Makkaroni wie einen Strohhalm nutzen und damit trinken? Ja!

Baby matscht mit Spinat

Mit 2,5 - 3 Jahren hörte das Experimentieren bei uns einfach so auf - meine Kinder hatten wohl genug gelernt. Sie haben übrigens von Anfang an sehr gut verstanden, dass sie bei anderen nicht matschen dürfen. Im Restaurant, im Kindergarten oder bei Freunden haben sie sehr gesittet und sauber gegessen. Ich habe ihnen einfach gesagt, dass sie dort ordentlich essen sollen und das haben sie getan. Sie wussten ja, dass sie ihre Neugier zuhause stillen konnten. Auch das Argument meiner - von unseren Tischsitten sehr entsetzten - Schwiegermutter "Mit Essen spielt man nicht. Die Kinder in der dritten Welt haben schließlich nicht genug", fand ich zwar nachvollziehbar, aber auf unsere Situation nicht anwendbar. Ich stimme zu, das Essen dieser Welt ist sehr ungerecht verteilt und es ist in der Tat unverantwortlich, viel noch genießbares Essen wegzuwerfen. Meine Kinder aber haben den Großteil ihrer Experimente sehr wohl aufgegessen, weil es ihnen schmeckte. Es wurde, darauf achte ich akribisch, nichts unnütz weggeworfen. Nur weil ich Tzatziki auf Lebkuchen eher nicht essen würde, heißt das noch lange nicht, dass meine Kinder das nicht irgendwie lecker finden. 

Bei einer Sache allerdings hat das Matschen/Experimentieren leider überhaupt nicht geholfen: Eine meiner Töchter mochte von Anfang an kein Gemüse - und isst bis heute keins. Schade auch. 

© Snowqueen (feat. Danielle)

Quellen


Brückner, H. Ein Kind wird erwartet. 1989, Verlag für die Frau, Leipzig



Haarer, J., (1941) Unsere kleinen Kinder: Lehmanns Verlag, München-Berlin 

Haarer, J., (1973) Die Mutter und ihr erstes Kind, München, Carl Gerber Verlag

Bildnachweise

Familie 1915 (s/w): Lutz Riedel / pixelio.de
Omas Küchenschrank: Sandra Krumme / pixelio.de                                

Tabelle
Obst: Rolf Handke / pixelio.de
Gemüse: Stephanie Hoschlaeger / pixelio.de      
Säfte: Marianne J. / pixelio.de                                
Gestilltes Kind: Rolf van Melis / pixelio.de
Babyflasche: Ruth Rudolph / pixelio.de
Milchprodukt mit Himbeeren: medienleiter / markus leiter / pixelio.de

Baby mit Brei am Mund: wunder1  / pixelio.de

13 Kommentare:

  1. Danke für diesen Beitrag, er war wieder sehr interessant. Ich bin froh das es heute so viele Freiheiten gibt und die starren Regeln langsam aufweichen. Für uns hat sich BLW als der richtige Weg erwiesen. Mein Gedanke war auch, als ich noch in der Schwangerschaft vor diesen ganzen Tabellen saß, das Kinder Ernährung nicht so kompliziert sein kann. So unefizient ist die Evolution nicht. Dann käme jedes Kind mit einem Plan auf die Welt.
    Wir haben unserer Tochter einfach ab dem 6 Mo. immer mal wieder etwas zu Essen hingelegt. Brot, Gurke, Tomate und haben das dann einfach gesteigert. Und manschen und das Essen untersuchen darg sie auch, die Reste werden bei uns auch nicht einfach weggeschmissen. Unser Hund ist auch ein sehr großer Anhänger dieses Ernährungunskonzeptes;-).
    Alles gute
    Kathi

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  2. Danke! Ich habe diesen Artikel direkt an meine Mama weitergeleitet, in der Hoffnung, dass dieses Thema in Bezug auf unsere 5 Monate alte Tochter endlich ein Ende findet. Außerdem verstehe ich jetzt endlich, warum meine Eltern das Thema Beikost und Zufüttern sooo anders sehen- sie haben es schlichtweg anders gelernt!!!

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  3. wie schrecklich das gewesen sein muss, das kind nach uhr zu stillen! den wutz hab ich vor ein paar tagen ca 14x gestillt, wenn ich da jedes mal auf die uhr geguckt hätte und "nee, noch nich, noch 2 stunden warten!" gesagt hätte, ich wär ja ausgeflippt und mir wären die ohren abgefallen! was bin ich froh, dass ich nach bedarf stillen "darf" ;)

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  4. Ich habe in den 50er Jahren noch die “Mund-zu-Mund“ Fütterung bei Babys in der Nachbarschaft erlebt!!!! Das Schwarzbrot wurde durchgekaut und dem Kind dann in den Mund gespuckt!!!!

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    1. Das klingt für unsere Ohren ganz schön eklig, oder? Ich möchte es mir eigentlich auch gar nicht vorstellen. Ich weiß aber, dass das Vorkauen eine der ältesten Fütterungsmethoden überhaupt ist und in vielen Naturvölkern heute noch praktiziert wird. War deine Nachbarin zufällig Jean Liedloff? ;-)

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    2. Nein, sie war nicht unsere Nachbarin!!! Ich habe auf dem Lande gewohnt und diese Art der Fütterung wurde meistens von den Großmüttern ausgeführt.... Ich erinnere nur, dass mir das damals schon ein bisschen abartig vorkam!!!

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    3. Die 2te Frau meines Vaters machte das bei meinen Brüdern auch so-
      und das noch in den späten 80ern.

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    4. Hab ich bei meiner Tochter in der Tat auch schon gemacht, als sie ganz klein war und einen Bissen Brot wollte, es ihr aber zu hart war...
      Tatsächlich hab ich mir darüber keine großen Gedanken gemacht, es war in dem Moment für mich der einfachste Weg ihr das Brot etwas vorzukauen...

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  5. Ich finde es sehr fragwürdig, egal in welchem Zusammenhang, Johanna Haarer zu zitieren. Sie ist ihr Leben lang überzeugte Nationalsozialistin gewesen und hat im Dritten Reich eine große Rolle gespielt. Sie vertrat ganz fürchterliche Überzeugungen. Nachzulesen zB hier: https://www.spektrum.de/news/paedagogik-die-folgen-der-ns-erziehung/1555862

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  6. Ich finde es sehr fragwürdig, egal in welchem Zusammenhang, Johanna Haarer zu zitieren. Sie ist ihr Leben lang überzeugte Nationalsozialistin gewesen und hat im Dritten Reich eine große Rolle gespielt. Sie vertrat ganz fürchterliche Überzeugungen. Nachzulesen zB hier: https://www.spektrum.de/news/paedagogik-die-folgen-der-ns-erziehung/1555862
    Viele Grüße, Katrin

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    1. Liebe Katrin,

      genau deswegen wird sie hier zitiert. Um zu zeigen, wie sich dieses schrecklich Gedankengut noch heute auf die Erziehung auswirkt. Geht das aus diesem Artikel nicht eindeutig hervor?

      Viele Grüße
      Danielle

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    2. Hallo Danielle!
      Ich finde, es wird nicht kenntlich gemacht, wie kritisch diese Frau zu betrachten ist. Man hätte deutlich machen müssen, dass man sich von ihr distanziert. Zumal sie auch aus den 70er Jahren zitiert wurde und ihre Bücher bis heute zu erhalten sind. Wer sie nicht kennt, erhält einen falschen Eindruck durch die Darstellungsweise in dem Bericht - finde ich.

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    3. Das ist ausführlich in Teil 1 der Serie getan worden - aber Du hast recht, wenn man den Teil isoliert liest, mag es nicht eindeutig genug sein. Wir ergänzen das nochmal.
      Danke für den Hinweis!

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